Alle Ausgaben / 2013 Andacht von Susanne Paul

Damit Neues entstehen kann

Adventliche Andacht über Gottes Kraft und barmherzige Güte

Von Susanne Paul

In der Adventszeit bereiten wir uns auf Weihnachten vor. Die Kisten werden aus dem Keller geholt, und der adventliche Schmuck wird im Haus verteilt. Tannengrün und rote Kerzen, Engel und Teelichter – für vier Wochen leuchtet in unserem Haus der Kerzenschein, duftet es adventlich. Es ist eine ganz besondere Stimmung in dieser Zeit, unser Zuhause wie ein warmes, bergendes Nest.

Die Welt mit all dem, was bedrohlich und anstrengend ist, soll draußen bleiben. Wenigstens für eine kurze Zeit möchten wir es behaglich haben, uns nicht beschäftigen mit dem, was an Grausamkeiten und Unrecht um uns herum geschieht.

Wir ziehen unsere adventlich geschmückte Tür ganz fest zu. Aber – da ist jemand, der lautstark dagegen klopft. Er will eine andere Geschichte erzählen. Keine behagliche Advents- oder Weihnachtsgeschichte, das sicher nicht. Im Gegenteil. Es ist eine Geschichte, die mitten in der Welt passiert, die sich traut, hinzuschauen. Eine Geschichte, die es wagt, inmitten von Unfrieden und Ungerechtigkeit auf Gottes Kraft, auf ihre Güte und Barmherzigkeit zu hoffen.

Botschaft der Hoffnung in schrecklichen Zeiten

Matthäus ist es, der uns mit dem Anfang seines Evangeliums dazu bringt, einen neuen Blick auf das zu wagen, was für uns Advent ist. Lassen Sie uns diesen Blick heute miteinander teilen.

Lied:
O Heiland, reiß die Himmel auf, Str. 1-2 (EG 7)

Als Matthäus die Botschaft seiner Hoffnung aufschreibt, ist der Tempel in Jerusalem schon zerstört. Die grausamen Folgen des Krieges, der Gewalt und der Zerstörung sind noch ganz gegenwärtig. Die Menschen leiden unter der Besatzung der Römer. Es ist ein Klima der Angst und der Unsicherheit. Was darf ich zu sagen wagen? Was kann ich tun, ohne meine Sicherheit und die der Menschen mit mir zu gefährden? Ausbeutung von Leib und Seele sind an der Tagesordnung, Sklavinnen und Sklaven arbeiten für reiche römische Menschen und für die, die mit ihnen paktieren.

Die Hoffnung auf Gott, auf die Kraft, die die Israeliten aus Ägypten geführt hat, die so eng und unverbrüchlich mit ihrem Weg verbunden ist, hat viele schwere Prüfungen zu überstehen. Herodes und sein Gefolge ahnden alles, was eine Hoffnung auf bessere Zeiten nähren könnte. Die Menschen sollen sich einrichten, ihre Wunden lecken und erkennen, dass es ihnen gut geht, wenn sie sich nur an die neuen Verhältnisse gewöhnen, wenn sie dem König Herodes huldigen, den Kaiser Augustus als Gott verehren und pünktlich ihre Abgaben abliefern. Ihren Gott, den können sie ja behalten, wenn ihr Glaube nur keinen Ärger macht …

Genau das aber tut er – und deshalb schreibt Matthäus sein Evangelium. Er will davon erzählen, dass Gottes Plan mit seinem Volk nicht vorbei ist, dass keine Verheißung ihre Kraft verloren hat, kein Versprechen aufgehoben ist und keine Hoffnung ins Leere geht. Erzählen, wie Gott seine Geschichte mit den Menschen weiterführt, wie Jesus ins Spiel kommt, der Gottes Liebe und Gottes Verheißungen zu ihrem Recht verhelfen will. Und er erzählt diese Geschichte, indem er zunächst einmal Jesus verortet, seine Wurzeln aufzeigt in der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Nichts Neues beginnt hier, sondern eine einzigartige Liebes- und Lebensgeschichte wird fortgesetzt. Sie wird nicht im luftleeren Raum weitererzählt, sondern mitten in der Zeit derer, die sie hören, mitten in der Zeit, in der die Römer ihre Schreckensherrschaft aufrichten und ausbauen.

Lied:
O Heiland, reiß die Himmel auf, Str. 4-5

Wenn wir uns die Stammbäume herrschaftlicher Häuser ansehen, dann ist die Absicht dabei immer klar. Staunend sollen diejenigen, die darauf schauen, sehen, wie damalige (und gegenwärtige) Herrschaften miteinander verbunden waren und sich gegenseitig in ihrer Königswürde legimitierten.

Brüche im Stammbaum Jesu

Matthäus wählt in seinem Stammbaum am Anfang seines Evangeliums eine andere Legitimation. Ihm geht es um die Einbindung von Maria, Jesus und Josef in Gottes heilmachende Geschichte mit den Menschen. Und deshalb tauchen auch die Brüche auf, Menschen mit Beschädigungen, so hat es Luise Schottroff genannt.2 Menschen, und hier besonders fünf Frauen, die eine besondere Bedeutung für die Geschichte Gottes mit den Menschen haben.

Da sind Tamar, Rahab, Rut. Und Bathseba – Matthäus nennt sie nur „die Frau des Urija“, um den Ehebruch und den Mord, den David beging, als er sie zu sich befahl, sichtbar zu machen. Tamar, Rahab, Rut und Bathseba – Ahnfrauen Jesu, teilweise Fremde im Volk Israel, mit nach herrschender Meinung manchmal zweifelhaftem Lebenswandel und vielen schmerzlichen Erfahrungen. Aber an ihnen und durch sie wird Gottes Verheißung von Gerechtigkeit und Frieden, von Hoffnung auch in gewalttätigen Zeiten offenbar. Und schließlich ist da noch Maria, die Frau, die Jesus zur Welt bringen wird – ein besonders Kind in einer besonderen Zeit.3

Unser Bild von Maria – wir können es so schwer trennen von den tausenden von Bildern in Kirchen und Museen, von den Bildern, die sich Menschen von ihr machten. Die Reine im Gegensatz zur verwerflichen Eva. Die Jungfrau als Gegensatz zur bedrohlich sündhaften Körperlichkeit. Die Holde, die Schicksalsergebene, die Mutter schlechthin – die Projektionsfläche für (meist männliche) Phantasien, die Männern und Frauen Unrecht taten und tun, für Idealbilder, die Energien binden und in so vielem immer noch wirkmächtig sind.

Bei Matthäus ist Maria eine junge Frau, die schwanger ist, ohne an einen Mann gebunden zu sein. Viele von uns werden sich noch an frühere Tage erinnern, wo ledige schwangere Frauen ein Schandfleck sondergleichen waren. Schnell waren sie in eine bestimmte Ecke gestellt: verantwortungslos ihre Lüste auslebend, nicht verlässlich und anrüchig. Als Objekt der Begierde noch denkbar, aber als eigene Frau und Mutter der eigenen Nachkommen kaum vorstellbar. Wir kennen solche Lebensgeschichten aus den Erzählungen unserer Familien, manchmal nur angedeutet, in Kindertagen flüsternd, damit wir nicht allzu viel davon mitbekamen.

Vielleicht gehörte dies auch zu Marias Lebensgeschichte. Aber wenn wir uns ihre Lebensumstände damals vorstellen, dann könnte alles auch noch ganz anders gewesen sein. In Zeiten von Krieg und Gewalt gehörte und gehört die Gewalt gegen Frauen immer dazu – daran hat sich wenig geändert. Soldaten nehmen sich von den Besiegten, den Feinden, was denen ihrer Meinung nach gehört – auch deren Frauen. Auch hierzu gibt es in unseren Familien Geschichten, schamvoll verschwiegen, weil die entsetzliche Logik auch hier funktioniert: Der Makel bleibt am Opfer kleben, nicht an den Tätern.

Und so ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch Maria zu den vielen Frauen gehörte, denen damals Gewalt angetan wurde und die nun mit den Folgen leben mussten. So sehe ich Maria vor mir – ins Unrecht gesetzt und ausgegrenzt, ohnmächtig einer Gewalt ausgesetzt, der sie nichts entgegen zu setzen hat, ausgeliefert. Und diese Frau und dieses Kind sucht Gott sich aus, um uns, um der Welt zu zeigen, welcher Art seine Gerechtigkeit ist, wie Leben und Fülle in Gottes Namen aussehen kann.

Wie Wunden heilen können

Schon am Anfang seines Evangeliums erzählt Matthäus davon, wie Wunden heilen können: indem die Beschädigungen nicht geleugnet und ausgegrenzt werden, sondern mitten ins Leben kommen und miteinander getragen werden. Hier spielt Josef eine wichtige Rolle. Er meint es eigentlich ja gut mit Maria, will sie nicht öffentlich bloßstellen, sondern sich heimlich davon machen. Auch Josef braucht Hilfe, braucht den Zuspruch der Engel Gottes, um hinschauen zu können: „… auch wenn du es anders denkst – dieses Kind ist ein Geschenk Gottes, Hoffnung in dieser Schreckenszeit. Maria wird es zur Welt bringen und du wirst ihm seinen Namen geben. Jesus wird es heißen.“ So ist auch Josef wie Maria vom Geist erfüllt und tut seinen Teil dazu, damit Unrecht und Leid sich nicht fortsetzen, sondern Neues entstehen kann.

Lied:
Weil Gott in tiefster Nacht erschienen (EG 56)

Wir sind wieder bei uns zuhause, mitten im geschmückten Heim. Und wir merken, dass wir, genau wie Josef, Hilfe brauchen, um hinschauen zu können – die Anrede Gottes durch Matthäus an uns. Auch wir meinen es ja eigentlich gut, wollen die Adventszeit nicht wie jede andere Zeit im Jahr an uns vorbeirauschen lassen, wollen sie gestalten, uns vorbereiten …

Doch vielleicht haben wir beim Schmücken des Hauses zu wenig mit Gott gerechnet. Nur, wenn wir für die Welt, die kleine um uns herum und die große weite Welt, mit der wir auch verbunden sind, nur wenn wir für diese Welt nichts mehr erwarten, müssen wir sie aussperren. Wenn sie aber mit all ihrem Leid und Unrecht, mit all ihrer Gewalt und Bedrohung der Ort ist, in den Gott kommt, weil genau hier die Geschichte Gottes mit uns und den anderen weitergeht – dann können wir die Welt einlassen, weil wir mit ihr Gott einlassen.

Die Jahreslosung für das neue Jahr drückt das sehr treffend aus: „Was mich betrifft: Gottes Nähe ist gut für mich.“ So lautet Ps 73,28 in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache. Gottes Nähe ist gut für mich – das spüre ich, wenn die Vorbereitungen auf den Advent auch etwas mit der Hoffnung für mein Leben und das der Menschen mit mir zu tun haben, wenn mein Glaube an Gott auch außerhalb des schön geschmückten Hauses und der Adventssonntagen eine Bedeutung hat. Wie bei Maria und den anderen Frauen in Jesu Stammbaum muss ich die Beschädigungen nicht leugnen und ausgrenzen, sondern kann sie mit tragen und mich tragen lassen.

Gebet:
Gott,
Licht der Welt,
so viel passiert in unserem Leben:
Wunderbares und Schönes, Erlebnisse, die uns aufrecht gehen und Freude in uns wachsen lassen,
Liebe, die uns stark macht.

Aber es gibt auch das andere: Momente, die schmerzen und wütend machen,
die Narben hinterlassen, in denen wir unsere Ohnmacht spüren, weil wir uns ausgeliefert und übergangen fühlen.

In der Stille denken wir besonders an diese Momente …

Gott,
Licht der Welt,
lass uns auf deine Nähe in unserem Leben vertrauen.
Du richtest auf
und schenkst uns den Mut hinzusehen:
bei uns und bei anderen.
Dein Blick auf unser Leben leugnet nichts,
sondern lässt das aufleuchten,
was heil werden soll und kann.

Dafür, Gott, sagen wir dir Dank.

Segen:
Gott, segne uns und behüte uns.

Gott, schütze unser Leben und bewahre unsere Hoffnung.

Gott, lass dein Angesicht leuchten
über uns, dass wir leuchten können für andere.

Gott, erhebe dein Angesicht auf uns und halte uns fest im Glauben, dass das Leben lebendiger ist als der Tod.

nach: Heidi Rosenstock, Hanne Köhler: Du, Gott, Freundin der Menschen, Stuttgart 1991, S. 140

Susanne Paul, geb. 1962, ist Pastorin in Ehlershausen in der Nähe von Hannover. Sie engagiert sich u.a. im Netzwerk Kirchenfrauen in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers und im Konvent evangelischer Theologinnen und hat in den Feministisch-theologischen Basisfakultäten auf den Kirchentagen in Hannover, Köln und Bremen mitgearbeitet.

Anmerkungen:
1)Das Foto zeigt syrische Flüchtlinge im jordanischen Za'atari Refugee Camp kurz nach ihrer Ankunft. Sie warten inmitten ihrer Habseligkeiten und den Hilfsmittelpaketen des UNHCR (Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen) darauf, dass ihnen ein Zelt zugeteilt wird. – Verwendung des Fotos mit freundlicher Genehmigung der Diakonie Katastrophenhilfe. Mehr Informationen unter:
www.diakonie-katastrophenhilfe.de
2) Luise Schottroff: Verunehrt, beschädigt, von Gott ermutigt, in: Evangelische Zeitung 51/2012
3) Wer mehrere Andachten im Advent in Folge hält, kann das Symbol des Türöffnens mit Hilfe eines Adventskalenders auch ganz wörtlich nehmen: An jedem der fünf Andachtstermine öffnet sich eine Tür, die die Lebensgeschichten der Frauen in den Kontext der Adventszeit stellt. Auch eine Predigtreihe wäre möglich.

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