Alle Ausgaben / 2005 Material von Roswitha Geppert

Das Alpenveilchen

Von Roswitha Geppert


Es war das schönste Alpenveilchen, das ich je besaß. Siebzehn rosa Blüten, deren gefranste Ränder in sanft geschwungenen Bögen endeten. Ein Rokoko-Alpenveilchen mit dunkelgrünem Laub. Es glänzte wie lackiert. An einem Novembertag mit Nieselregen und Nebelnässe hatte ich es geschenkt bekommen. Das Alpenveilchen brachte Licht in diese ungemütliche Finsternis, Farbe in das trübsinnige Grau. Es bekam den besten Fensterplatz und verschönte durch seine Blütenpracht den Blick auf die kahlen Bäume in der feucht glänzenden Straße…
Seit einigen Tagen schmücken draußen vor den Fenstern pralle Blattknospen die Zweige der Bäume. Ab und zu lugen schon winzige grüne Blättchen aus den Spitzen. Überall in den Auenwäldern drängeln sich Schneeglöckchen aus dem Boden, und mit einem Mal schieben auch die Märzenbecher neugierig ihre grün betupften Blütenköpfe aus der feuchten Erde. Von ehemals üppigen Schneeverwehungen ringsum in der Welt ist nichts mehr zu erblicken. Es fehlt nur noch ein winziger, warmer Hauch, und schon lässt der Frühling sein bekanntes blaues Band wie in jedem Jahr durch die Lüfte flattern. Die Sonne funkelt vielversprechend.
Leider ist die Blütezeit des Alpenveilchens nun vorüber. Lebensmüde wird es von Tag zu Tag kümmerlicher und zieht sein Laub ein. Die einst so reichlichen Blätter werden rar. Über Nacht haben auch die restlichen gelbe Ränder bekommen. Einige vertrockneten ganz. Die letzte Blüte hängt seit langem schon im schlaffen Bogen vergilbt und kraftlos über dem Topfrand. Dieser jammervolle Anblick ist wahrhaftig keine Zierde mehr auf der Fensterbank.
Und auch keine Augenweide zum bevorstehenden ¬ Frühlingsanfang.
Heute Vormittag trug mein Mann geheimnisvoll lächelnd ein umfängliches Paket ins Wohnzimmer. Ergebnislos versuchte ich, den Inhalt zu erraten. Aus zahllosen Zeitungsseitenhüllen schälte er eine wunderschöne weiße Azalee heraus und stellte sie in einem Keramikübertopf auf das Fensterbrett neben das Alpenveilchen. Es ist wenig Platz dort für zwei so große Blumentöpfe. Das Alpenveilchen, das nur noch aus unansehnlichen, verwelkenden Blättern besteht, müsste nun endgültig in die Abfalltonne.
Müsste! Mein Mann und ich blickten uns in die Augen. Prüfend. Wortlos. Und trugen das Alpenveilchen gemeinsam – in den Keller. 

aus: anders. Erzählungen
© 2003 Evangelische Verlagsanstalt GmbH Leipzig

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