Alle Ausgaben / 2004 Material von Marieluise Bernhard-von Luttitz

Das Gebet

Von Marieluise Bernhard-von Luttitz


Es ist schon sehr lange her. Ich war ein Kind damals, ein kleines Mädchen zwischen vier und fünf Jahren. Der Erste Weltkrieg ging zu Ende. Mein Vater war im Krieg. Eine junge Tante, die Schwester meiner Mutter, wohnte bei uns. Beide hatten mir das Beten gleichzeitig mit dem Sprechen beigebracht. Oder fast gleichzeitig jedenfalls. Ohne Mittags- und Abendgebet ging es nicht ab, auch wenn es nur Wassermehlsuppe oder grüne Kartoffeln mit Rübenmus gab, oder für mich ein bisschen sehr dünne Milch mit einigen Brotrinden darin. Die dickere Milch und das Innere vom Brot erhielt mein kleiner Bruder, der erst ein Jahr alt war.
Auch vor dem Schlafen betete ich. Ich plapperte meiner Mutter die Worte nach:
„Breit aus die Flügel beide,
o Jesu meine Freude,
und nimm dein Küchlein ein.
Will Satan mich verschlingen,
so lass die Engel singen,
dies Kind soll unverletzet sein.“

Das Gebet gefiel mir. Vor allem, dass nun wohl von den Engeln gesorgt werden würde, dass ich beim Spielen und Laufen nicht mehr so viel auf die Knie fiel. Der Satan, der mich verschlingen wollte (Warum eigentlich? Ich tat ihm doch nichts) war mir allerdings nicht geheuer. Doch da waren ja die Engel, die aufpassen sollten.
Als ich das Gebet auswendig hersagen konnte, bekam ich zur Belohnung einen Sirupbonbon. Keinen gekauften. Einen selbstgemachten natürlich. Meine Mutter hatte ein besonderes Rezept dafür. Bonbons, die man in Geschäften kaufen konnte, gab es damals schon lange nicht mehr.
Eines Tages hängte meine Mutter an die Zeilen des Gebets noch zwei weitere an:
„Gib, Gott, unsern Waffen Sieg!
Lass bald enden diesen Krieg!“

„Das ist kein schönes Gebet“, sagte ich. Ich betete es trotzdem, denn ich bekam dafür einen zweiten Sirupbonbon, den ich so lange von einer Mundecke in die andere schob, bis ich darüber eingeschlafen war. Meine Mutter und meine Tante hielten anscheinend mehr von wohligem Schlaf als von sauberen Zähnen. Denn die waren schon lange zuvor geputzt.
Dann kam ein Abend, kurz vor meinem fünften Geburtstag, das weiß ich noch, da wollte ich das angehängte Gebet nicht mehr sagen.  „Gib, Gott, unsern Waffen Sieg!“ Lass bald enden diesen Krieg!“
„Warum denn nicht?“ fragte meine Mutter erschrocken. „Wünscht du denn nicht, dass der schreckliche Krieg zu Ende geht? Wünscht du nicht, dass dein Vater bald heimkommen soll?“
O doch. Und ob ich das wünschte. Der abwesende Vater, der vor Jahr und Tag kurz auf Urlaub gekommen war, der sollte heimkommen. Schon längst wusste ich kaum noch, wie er aussah. Die Nennung seines Namens allein breitete schon Helligkeit aus. Und der Krieg, bei dem alle Leute sich totschossen, sollte auch aufhören. Ich hatte jeden Abend Angst, dass „die bösen Feinde“ durch das Toilettenfenster einsteigen würden. Dann hatten wir ja den Krieg im Haus. Manchmal schrie ich mitten in der Nacht auf: „Ist das Fenster auch zu?“ Meine Mutter oder meine Tante beruhigten mich. Ich hörte sie miteinander flüstern: „Das ist ja schrecklich mit dem Kind.“ Ich dachte, dass ich nicht so schrecklich war wie der Krieg.
Aber das angehängte Gebet wollte ich trotzdem nicht sprechen. Ich blieb dabei: „Es gefällt mir nicht.“ Meine Mutter und meine Tante strichen erst einen, dann beide Sirupbonbons. Das war eine harte Strafe. Beinahe wäre ich rückfällig geworden. Endlich entschloss ich mich: „Ich sage die zweite Zeile, die erste nicht.“ Ich wollte nicht sagen: „Gib, Gott, unsern Waffen Sieg.“ Ich konnte nicht erklären, warum ich mich so dagegen sträubte. Ich fühlte Abwehr.

Viele Jahre später, als ich doppelt so alt war, konnte ich das Gefühl von damals erklären. Ich fragte meinen Vater, der längst aus dem Krieg zurückgekehrt war, und der mit mir lange Spaziergänge machte: „Wenn das nun alle beten, ‚Gib, Gott, unsern Waffen Sieg', was soll Gott denn da machen?“
„Ja“, sagte mein Vater: „Was soll er machen? Was denkst denn du?“
Ich dachte heftig nach, bis ich einen anderen Schluss für das Gebet gefunden hatte. (1)
Und was denkt ihr?

(1) Vorschlag: Gib, Gott, keinen Waffen Sieg! Lass nie wieder werden Krieg!

aus: Jella Lepmann, Kinder sehen unsere Welt © Europa Verlag

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