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Das große Feuer

Indisches Märchen

Irgendwo in Indien lebte in einem Wald ein kleiner grauer Papagei. In einem Jahr schien die Trockenzeit besonders lange zu dauern. Eines Tages roch der kleine Vogel etwas Ungewohntes. Es war Rauch. Er flog ein Stück in den Himmel hinauf und sah, dass im Wald ein Feuer ausgebrochen war. Da rief er gleich, so laut er konnte: „Feuer! Zum Fluss! Lauft alle zum Fluss!“
Die Tiere hörten ihn und taten, was sie konnten, um das rettende Wasser zu erreichen. Doch die Funken wurden vom Wind weitergetragen. Sie sprangen von einem Ast zum nächsten, von einem Baum zum anderen.
Als er in den Himmel aufstieg, sah der Papagei, dass manche Tiere bereits in den Flammen eingekesselt waren. Sie würden nicht mehr entkommen können. Weil der kleine Vogel bei einem solchen Unglück nicht einfach zusehen konnte, beschloss er, etwas zu tun. Er hatte einen verrückten Einfall, den er ohne Zögern in die Tat umsetzte. Zu­weilen können wir angesichts großer Gefahr nur seltsame Wege gehen.
Der Papagei tauchte in den Fluss ein, erhob sich sogleich wieder aus dem Wasser, um zu den lodernden Flammen zurückzukehren. Rußige Rauchschwaden stiegen aus dem Wald, Flammenwände schossen in den Himmel. Der Vogel flog durch diese Hölle und flog ins Herz des lichterloh brennenden Waldes. Dort schüttelte er seine Flügel, sodass einige Tropfen Flusswasser aus seinen Federn fielen. Sie blinkten kurz wie Edelsteine auf und verdampften auf der Stelle.
Ohne innezuhalten, flog der Papagei zurück zum Fluss. Noch einmal tauchte er ins kühle Nass. Noch einmal brachte er einige Tropfen des kostbaren Wassers in die Mitte des Waldes. Noch einmal fielen sie wie Diamanten vom Himmel und verschwanden zischend.
Wieder und wieder tat er nun das Gleiche, ein ums andere Mal flog er vom Fluss zum Feuer, vom Feuer zum Fluss, vom Fluss zum Feuer, vom Feuer zum Fluss. Bald waren seine Federn rauchgeschwärzt, seine Füße und Krallen vom Feuer versengt, seine Lungen schmerzten, seine Augen brannten. Schwindel erfasste den Vogel. Doch der kleine Papagei ließ sich davon nicht aufhalten, sondern flog unermüdlich weiter.
Weit oben in den Wolken saßen gerade einige Devas, Götter der Glücksgefilde, in ihrem goldenen Wolkenpalast. Zufällig schaute einer nach unten. Als er den winzigen Papagei sah, der zwischen Wasser und Feuer hin und her flog, deutete der Deva mit seiner vollkommenen Hand auf ihn. Die anderen sahen es nun auch.
Zwischen zwei Bissen ihrer honigsüßen Speisen lästerten sie: „Schaut euch diesen törichten Vogel an!“ „Versucht er tatsächlich einen lodernden Waldbrand mit einigen Tropfen Wasser zu löschen?“ „Wie aberwitzig!“ So sprachen die Götter lachend.
Doch einer war unter ihnen, der nicht in den Spott mit einstimmte. Was der Papagei da unten tat, berührte ihn auf seltsame Weise.
So verwandelte dieser Gott sich in einen goldenen Adler und flog hinunter in unsere Welt. Er schwebte über dem Papagei und sagte zu ihm mit ehrfurchtgebietender, feierlicher Stimme: „Hör auf damit! Du wirst mit den wenigen Tropfen aus deinem Gefieder nie und nimmer einen Waldbrand löschen können. Was du hier tust, hat keine Aussicht auf Erfolg. Kehre zum Fluss zurück und rette wenigstens dein eigenes Leben!“
Der kleine Vogel sah zwar den riesigen Adler, der über ihm schwebte. Doch es war, als wäre er taub, als hätte er Ruß in den Ohren, er ließ sich nicht beirren. Der Adler rief noch einmal: „Hör doch endlich auf damit, tollkühner Papagei, und rette dich selbst!“
Da hustete der kleine Vogel, ohne langsamer zu fliegen, mühsam eine Antwort: „Ich brauche keinen großen, glänzenden Adler, der mich töricht nennt. Das hätte mir schon meine Mutter vor vielen Jahren sagen können. Ratschläge! Ich brauche keine Ratschläge. Was ich brauche, ist jemand, der hilft.“ Mit diesen trotzigen Worten tauchte er abermals ins Wasser und kehrte mit ein paar Tropfen im Gefieder zum Feuer zurück.
Der Adler, der ein Deva war, entfernte sich vom Flammenmeer. Er beobachtete unter sich den sturen Vogel. Weit über sich sah er die Seinen, sorg­lose Götter. Sie unterhielten sich, während tief unter ihnen die Schmerzensschreie der Tiere zu hören waren. Da entbrannte ein Wunsch in seinem Herzen. Er rief aus: „Ich bin ein Gott, doch ich wünschte, ich wäre wie dieser kleine Vogel, so unbeirrbar und mutig. Was für ein wunderbares Wesen er ist, wie er so ganz allein sein Leben einsetzt. Kostbar und erstaunlich ist solcher Mut!“
Diese Gefühle, die anders waren als alles, was der Gott vorher gedacht und gespürt hatte, berührten den Adler auf eine Weise, die ihn zum Weinen brachte. Zwei funkelnde Tränen stiegen aus seinem Herzen in seine goldenen Augen. Sie fielen in die Flammen unter ihm. Aus diesen beiden wurde bald ein ganzer Strom. Mehr und mehr Tränen flossen ins Feuer. Sie vereinten sich zu einem Sturzbach, der wie Regen aus dem Himmel fiel und sich über den Wald, die darin gefangenen Tiere und den Papagei ergoss.
Wo die Tränen des Deva das Feuer berührten, erstarben die Flammen, die Glut verlöschte augenblicklich. Während der Rauch allmählich abnahm, geschah sogar noch mehr: Neues Leben spross dort aus der Erde, wo die Tränen den Boden berührt hatten. Junge Triebe erhoben sich aus der eben noch glühenden Asche. Zweige schlängelten sich empor, Blüten und Blätter wuchsen ebenso wie grünes Gras. Kaum dass die tosenden Flammen erloschen, begann der Wald wieder zu leben.
Dort, wo die Tränen des goldenen Adlers auf die Flügel des Papageis gefallen waren, funkelten sie in der Sonne.
Dem Vogel wuchsen neue Federn in den leuchtendsten Farben – rot, grün, blau und golden waren sie. Die Tiere des Waldes schauten sich verwundert um, denn sie alle waren unversehrt und wohlauf. Sie sahen im Himmel ihren tapferen Freund, wie er sich in die Höhe schraubte und voller Freude seine neuen Flügel schlug. Dankbar jubelten sie mit ihren vielfältigen Stimmen dem kleinen Vogel zu, der nicht aufgegeben hatte, als alles hoffnungslos und sein Tun vergeblich schien.

Indische Überlieferung
aus: „König Lichterloh“ – Märchen und Geschichten von Krieg und Frieden, Streit und Vergebung, Zorn und Zärtlichkeit, erzählt von Frau Wolle, illustriert von Almuth Mota, Tyrolia-Verlag 2016. – mehr unter Frau Wolle (www.frauwolle.at) und Almuth Mota (www.byhand.at)

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