Wahrscheinlich begreift man erst im religionswissenschaftlichen Vergleich, in welche Dimensionen das Buch hineinwachsen kann. Im islamischen Glauben nimmt der Urkoran den Platz des Logos in der Gottheit ein. Der Prophet ist nicht sein Autor, er hat nur die arabische Abschrift des Urkoran geliefert. Ein Engel hat ihm den Urkoran offenbart. Doch um diese Offenbarung verstehen zu können, musste er überhaupt erst einmal lesen lernen. … Mohammed erzählt:
„Ich schlief, als Gabriel mir ein bedrucktes Tuch brachte und sagte: ‚Lies!' Ich sagte: ‚Ich kann nicht lesen.' Da drückte er mich in das Tuch, dass ich glaubte, ich müsse sterben; dann ließ er mich los und sagte wiederum: ‚Lies!' Als ich aber wieder sagte, ich könne nicht lesen, bedeckte er mich wieder mit dem Tuch, dass ich beinahe den Geist aufgab, dann ließ er mich wieder los und wiederholte seinen Befehl … Ich las nun, und Gabriel verließ mich wieder. Hierauf erwachte ich, und es war, als stünden die Worte in meinem Herzen geschrieben.“
Was der Prophet in seiner Vision gelesen hat, … ist der Text der 96. Sure, der auch in den Gebetshäusern unserer islamischen Geschwister in Deutschland erklingt:
Lies! Im Namen des Herrn, der dich erschuf,
erschuf den Menschen aus geronnenem Blut.
Lies, denn der Herr ist allgütig,
der die Feder gelehrt,
gelehrt den Menschen, was er nicht gewusst.
So weitet eine „Theologie des Lesens“ den Blick und bringt Erfahrungen anderer Weltreligionen in den Horizont, die uns ahnen lassen, dass das Buch nicht ein beliebiges, sondern ein auserwähltes Medium ist, dass das Lesen solcher Bücher nicht ein Informationsvorgang ist, sondern ein Weg zur Erleuchtung. Kaum denkbar, dass Reinhold Schneider die folgende Erfahrung mit einem anderem Medium gemacht hätte: „Ich schlug an einem Weihnachtabend in Potsdam die Heilige Schrift auf … und floh nach wenigen Kapiteln auf die kalte dunkle Straße. Denn es war ja klar: unter diesem Anspruch der Wahrheit kehrt sie das Leben um. Dieses Buch kann man nicht lesen… . Man kann es nur tun.“
Ludwig Muth
aus:
Was fängt die Kirche mit dem Leser an?
in:
Walter Seidel (Hg.)
Offenbarung durch Bücher?
(c) Verlag Herder
Freiburg, Basel, Wien 1987
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum
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