Alle Ausgaben / 2017 Frauen in Bewegung von Andrea Blome

Das ist alles Physik

Rohafza Zemmar im Porträt

Von Andrea Blome

„Eine Wetterstation am Nordpol – das war mein Traum“, sagt Rohafza Zemmar, eine der ersten Meteorologinnen Afghanistans.

Sie waren elf Frauen, Pionierinnen in den 1980er Jahren in Afghanistan, die ersten Studentinnen der Meteorologie an der neu gegründeten Fakultät in Kabul. Eine von ihnen war Rohafza Zemmar.

Seit dem Jahr 2000 lebt sie in Deutschland, seit einigen Jahren in Gelsenkirchen. Lange hat die heute 55-Jährige versucht, ihren beruflichen Weg als ­Meteorologin nach der Flucht aus Afghanistan fortsetzen zu können. Inzwischen arbeitet sie als Altenpflegerin. Im Gespräch über ihren beruflichen Weg und ihre Leidenschaft für das Beobachten von Wolken, Wind und Wetter beginnt sie sich zu erinnern – an den vielversprechenden Beginn ihrer wissenschaftlichen Arbeit und an viele zerplatzte Träume.

Trotz viel Mathe und Physik
Eigentlich wollte Rohafza nach ihrem Schulabschluss Medizin studieren, zur Zulassung fehlte ein Punkt. Das Alternativangebot Pharmazie schlug sie aus und wartete lieber noch ein Jahr auf eine neue Chance. Aber nochmals fehlten die nötigen Punkte, diesmal empfahl man der naturwissenschaftlich interessierten jungen Frau die Meteorologie. „Ich hatte nicht wirklich eine Wahl“, sagt sie im Rückblick, „noch länger hätte ich nicht warten können. Aber dann war das Studium wirklich sehr interessant.“
Schnell entdeckt sie ihre Begeisterung für das Fach, „trotz viel Mathe und viel Physik“. Die Bedingungen an der neu geschaffenen Fakultät sind gut. Die jungen Absolventinnen werden für die Wetterforschung ausgebildet. „Wir mussten nicht nur messen, sondern konnten wirklich viel forschen. Das war sehr schön.“

Nach ihrem Diplom beginnt Rohafza am Energie-Institut der Akademie der Wissenschaften in Kabul als Meteorologin in der Solarforschung zu arbeiten. Unterstützt von der UNESCO soll das Projekt Grundlagen für die stärkere Nutzung der Solarenergie in Afghanistan erforschen. „Die Bedingungen waren trotz der internationalen Förderung nicht ganz einfach“, sagt sie. „Durch den starken Einfluss der Sowjetunion war es uns nur unter großen Mühen möglich, im Westen die Geräte einzukaufen, die wir für unsere Arbeit benötigten“. Sie erinnert sich an einen Sunshine Recorder, den das Projekt zur automatischen Erfassung von Daten benötigte. „Wir haben dafür gekämpft, ihn in Deutschland kaufen zu können.“

Einen Teil der Forschungszeit absolviert sie in Turkmenistan. Die Forschung macht ihr großen Spaß, gerne hätte sie promoviert, aber die Systeme in Afghanistan und der Sowjetunion sind so wenig aufeinander abgestimmt, dass das nicht klappt.

Kabul – Islamabad – Gelsenkirchen
Bis 1992 arbeitet Rohafza Zemmar in dem Solarprojekt, dann kommen die Mudschaheddin an die Macht. Frauen ist es verboten zu arbeiten. Noch schlimmer wird es, als die Taliban 1996 in Kabul einmarschieren. „Die Menschen wurden verfolgt, geschlagen, es war eine schreckliche Zeit“. Im Institut wird alles zerstört, was an Geräten noch vorhanden ist. 1999 wird ihr Mann, ein Chirurg, von den Taliban vor den Augen der Familie erschossen. Ob der Grund dafür war, dass er Frauen behandelt hatte, obwohl ihm dies verboten war? Rohafza weiß es nicht. Der 1998 geborene Sohn ist da gerade mal sechs Monate alt. „Da war für uns klar, dass wir weg müssen.“

Rohafza verkauft das Haus in Kabul, fährt gemeinsam mit ihrem Sohn und ihrer Mutter nach Pakistan und von dort aus weiter nach Deutschland. Dort leben bereits viele ihrer Verwandten, für die Flucht nach Deutschland zahlen sie 25.000 Dollar.

In dieser Zeit war es in Deutschland zunächst nicht schwer, als Flüchtling aus dem Bürgerkriegsland Asyl zu bekommen. Als die Lage in Afghanistan sich nach den amerikanischen Militärschlägen und mit der Präsidentschaft von Hamid Karsai scheinbar entspannt, wollen die Behörden die Familie 2003 abschieben. Rohafza klagt, bekommt eine Aufenthaltsgenehmigung, mit der sie endlich auch arbeiten kann. Einen Sprachkurs hatte man ihr bis dahin nicht angeboten. Alles, was die Afghanin bereits gelernt hatte, hatte sie selbst organisiert und bezahlt. „Meine Mutter hat mich immer ermutigt, Deutsch zu lernen“, sagt sie.

Durch ein Projekt des Frauenreferates im Evangelischen Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid für qualifizierte Migrantinnen gewinnt Rohafza neue Perspektiven. „Wir waren 20 Frauen aus verschiedenen Ländern“, erzählt sie. „Wir haben daran gearbeitet, was wir in Deutschland mit unseren Qualifikationen und Zielen beruflich erreichen können.“ Rohafza versucht mit Unterstützung des Projektes Train & Win eine Anerkennung ihres Meteorologie-Diploms zu erreichen. Parallel beginnt sie ein Praktikum beim Wetterdienst Meteomedia in Bochum. „Das war so schön“, sagt sie, „endlich wieder in dem Bereich zu arbeiten.“ Vieles ist für die inzwischen über 40-Jährige neu, die Computertechnik hat sich rasant weiterentwickelt, die Techniken der Datenauswertung sind längst ganz andere als zu ihrer aktiven Zeit in Afghanistan. Sie freut sich über die Aussage eines Professors im Institut: „Man kann sehen, dass sie Meteorologin sind.“ Er ermutigt sie weiterzumachen, auch wenn der Wetterdienst sie nicht regulär beschäftigen kann, weil ihr das deutsche Diplom fehlt.

2007 war Rohafza mit Train & Win gestartet, 2010 schließlich ist klar, dass ihr afghanisches Diplom nur in wenigen Teilen anerkannt würde. „Viele haben mich ermutigt, das Studium zu wagen und in dem Beruf zu bleiben“, sagt sie. „Aber wer hätte mir garantiert, dass ich dann Arbeit bekomme?“ Sie entscheidet sich für eine dreijährige Ausbildung zur Altenpflegerin, ein Beruf, der ihr Freude macht, auch wenn die Arbeit im Altenheim durch die geringe Personaldecke anstrengend und belastend ist. „Ich wollte mal Medizin studieren“, sagt sie, „jetzt bin ich in einem ähnlichen ­Bereich.“

Alle Träume verloren?
Ob sie doch noch mal studieren wird? „Ich weiß es nicht“, sagt sie, „viele ermutigen mich, zum Beispiel mit Pflegewissenschaften weiterzumachen.“ Ihr Sohn, der gerade sein Abi macht und Medizin studieren will, gehört ebenfalls zu den Mutmachern. „Ich habe mit fast 50 noch eine Ausbildung absolviert, warum also sollte ich nicht noch studieren können? Wenn, dann tue ich es für mich.“ Zurzeit macht sie eine Fortbildung in Themenzentrierter Interaktion (TZI). Mit den Zertifikaten hätte sie gute Voraussetzungen für ein Studium.

Draußen regnet es, während Rohafza ihre Geschichte erzählt. Der Himmel ist wolkengrau. „Doofes Wetter“, finde ich. Für eine Meteorologin gibt es kein doofes Wetter. Und das wiederum überrascht nicht. „Dass der ganze Himmel voller Wolken ist, dass es diese Entwicklung am Himmel gibt, das gab es in Afghanistan nicht“, sagt sie. „Dort haben wir auf Regen gewartet.“ Über die Meteorologie zu sprechen, ist für Rohafza vor allem eine sprachliche Herausforderung. „Ich muss die persischen Fachbegriffe für mich ins Deutsche übersetzen, das ist wirklich schwierig.“ Aber auch mit dem vorhandenen Vokabular wird deutlich: Eine Meteorologin spricht in physikalischen Kategorien über das Wetter, von Absorption und Reflexion, von Kondensation und Luftfeuchtigkeit. „Das ist alles Physik“, sagt Rohafza und schaut nach draußen. „Manchmal frage ich mich das noch immer: Von wo kommt das Wetter heute? Wie stark ist der Wind? Welche Kraft ist da? Manchmal denke ich so …“

Mit der Begeisterung für das Wetter und die Wetterforschung waren Träume verbunden. „Ich hätte gern mehr extremes Wetter erforscht. Eine Wetterstation am Nordpol, das war mein Traum“, sagt sie. „Aber diese Träume sind alle verloren.“

Vor einiger Zeit machte Rohafza gemeinsam mit ihrem Sohn eine Mutter-Kind-Kur im Sauerland. Sie fotografierte faszinierende Wolkenformationen und schickte sie ihrem ehemaligen Vorgesetzten im Wetterdienst. „Machen Sie weiter“, schrieb der. „Machen Sie auf jeden Fall weiter.“

Andrea Blome ist Journalistin und Moderatorin und lebt in Münster. Die Ausgaben 3-2016 bis 2-2017 der ahzw hat sie als Redakteurin betreut. – mehr von und über Andrea Blome unter www.andrea-blome.de

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