Ausgabe 1 / 2011 Material von Fulbert Steffensky

Das Recht der Kranken auf Krankheit

Von Fulbert Steffensky


Es wächst ein merkwürdiges neues Leiden, an dem vor allem die Sensibelsten leiden: das Leiden daran, nicht perfekt zu sein. … Souverän wäre es, die Güte des Lebens anzunehmen und zu genießen, die man jetzt schon haben kann, und die Halbheit nicht zu verachten, nur weil die Ganzheit noch nicht möglich ist. Souverän wäre es, den Durst nach dem ganzen Leben nicht zu verlieren. Wenn man in dieser Weise der Endlichkeit fähig wäre, dann würde beschädigtes Leben nicht so maßlos irritieren.
… Der Ganzheitsterror kann bis zur Obszönität gehen, die den Eltern von behinderten Kindern ganz neue Schuldfragen stellt: „Warum habt ihr nicht abgetrieben? Das Down-Syndrom war doch erkennbar?!“

Gegen die Ganzheitszwänge muss man auch dies sagen: Es gibt ein Recht der Kranken auf ihre Krankheit. Man kann Kranke auch überlasten, indem man mit den löblichsten Absichten ihre Krankheit verkleinert und für nicht so schlimm oder gar töricht erklärt, schließlich seien wir alle Kranke und Behinderte. Man kann Kranke überlasten, indem man ihnen die Schutzräume nimmt, in denen sie in Gelassenheit krank sein können. Integration kann nicht heißen, einen Kranken als gesund anzusehen oder einen Behinderten als unbehindert und einem Kranken zuzumuten, was man einem Gesunden zumutet. Steckt nicht auch in denen, die mit den besten Absichten mit Behinderten umgehen, manchmal ein Macher- und ein Starkenideal? Es kann sich so ausdrücken: der Kranke ist am besten dran, wenn er sich wie ein Gesunder benimmt! Könnte es nicht auch ein Stück geheimer Gewalt sein, dem Kranken seine Krankheit nicht zu lassen, sich als Gesunder mit seiner Krankheit nicht abfinden zu können? Ich sage dies übrigens auch als Vater einer epileptischen Tochter, die lange unter den Gesundheitserwartungen der Familie, der Ärzte und der besten ihrer Betreuer gelitten hat. Man muss aufhören können zu siegen. Man muss aufhören können, die Krankheit und die Behinderung unter allen Umständen zu bezwingen. Es gibt Krankheiten und Beeinträchtigungen, die zu einem Menschen gehören. Es gibt aber keine Krankheit, die seine Würde als Mensch beeinträchtigt.


Fulbert Steffensky

aus:
Hat Hiob eine Nachricht?
in:
Handbuch integrative Religionspädagogik
hg. von
Annebelle Pithan
Gottfried Adam
Robert Kollmann
Gütersloher Verlagshaus 2002

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