Ausgabe 1 / 2012 Artikel von Sylvia Herche

Dass sie uns erlauben Gutes zu tun

Deutsch-polnische Versöhnunsarbeit evangelischer Kirchen

Von Sylvia Herche

Auch 67 Jahre nach dem 2. Weltkrieg werden Fragen nach Schuld und Versöhnung gestellt. Die Schuld, die Deutsche durch die Kriegskatastrophe auf sich geladen haben, verlangt noch immer nach Gesten und Taten der Versöhnung. Sie sind Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben im Haus Europa im 21. Jahrhundert.

Das deutsche Wort Versöhnung geht zurück auf das mittelhochdeutsche „versüenen“: eine Schuld durch Taten wiedergutmachen.(1)  In der christlichen Tradition meint Versöhnung zuerst die Beendigung eines durch Schuld und Sünde entstandenen Konfliktes im Verhältnis des Menschen zu Gott. Die Lehre von der „Versöhnung“ stützt sich besonders auf 2 Korinther 5,18-21: Das Verhältnis der Welt zu Gott ist durch menschliche Verfehlungen unrettbar zerstört. Durch Jesus Christus hat Gott es neu aufgerichtet. In ihm nimmt er menschliche Schuld auf sich und hebt sie so auf. Gottes Versöhnung bedeutet sein bedingungsloses Zugehen auf uns, um uns zu vergeben. So ist ein Verhältnis zwischen Gott und den Menschen geschaffen, das aus der Vergebung lebt. Die Versöhnung Gottes mit der Welt ist Vorbild und Anstoß für menschliche Bemühungen, Beziehungen wiederherzustellen.(2)

Durch Versöhnung wird Gemeinschaft zwischen Menschen, die zerstört war, wieder ermöglicht. Versöhnung setzt voraus, Schuld zu benennen und anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen – und eröffnet damit eine neue Perspektive für das Miteinander. Versöhnung ist also ein Hoffnungsbegriff. Solche Hoffnung war, nach dem tiefen Bruch zwischen den Nachbarländern Deutschland und Polen durch die Ereignisse des 2. Weltkriegs, Mangelware. Langjährige Versöhnungsarbeit hat eine Annäherung der Menschen beider Länder möglich gemacht.

Spuren des 2. Weltkriegs finden sich auch heute noch in vielen Ländern Europas. Über vieles, was unsere Väter oder Großväter als junge Männer im Krieg getan haben, was sie durchleben und durchleiden mussten, konnten und wollten viele von ihnen nicht sprechen. Es ist für mich als nach dem Krieg Geborener kaum zu ahnen, was sich damals ereignet hat; Begegnungen in anderen Ländern, Gedenkstätten oder Mahnmale erinnern an die Schrecken dieser Zeit und drängen dazu, nachzufragen. Das Geschehene kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber viele kleine und größere Schritte in den vergangenen Jahrzehnten haben ein neues Miteinander der Menschen ermöglicht.

Eine besondere Bedeutung für die Menschen in Deutschland und Polen hatte der Kniefall Willi Brandts am Gedenkort des Warschauer Ghettos am 7. Dezember 1970. Diese Geste wurde von vielen als Bitte Deutschlands um Vergebung und Versöhnung verstanden. Nach meiner Erinnerung hatte sie auch für Menschen in der DDR große Bedeutung. Willi Brandt entsprach damit dem Em-pfinden vieler DDR-Bürger dem polnischen Volk gegenüber. Dem stand die politische Linie der DDR entgegen: „Zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR gibt es nichts zu versöhnen.“(3)

Nicht brennender geliebt …

Großen Anteil an der Entwicklung haben die evangelischen Kirchen. Eine wichtige Voraussetzung für die Versöhnung mit Polen war das Stuttgarter Schuldbekenntnis. „Mit großem Schmerz sagen wir: durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden … Wir klagen an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“, heißt es 1945 in der Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).(4) Im Darmstädter Wort formuliert die EKD 1947 den Auftrag zur Versöhnung, den die Christinnen und Christen „annehmen, tun und ausrichten“(5) sollen.

Weitere Schritte auf dem Weg der Versöhnung mit Polen sind Besuche – wie der von Bischof Andrzej Wantulas von der Evangelisch-Augsburgischen (luth.) Kirche in Polen 1956 in der DDR oder der Aufenthalt einer Delegation von Christinnen und Christen aus der DDR anlässlich der Einweihung der Evangelischen Trinitatiskirche in Warschau im Jahr 1957.(6) Den offiziellen Kontakten aber gingen schon bald nach Kriegsende viele persönliche Begegnungen voraus. Über die Grenze hinweg haben sich Menschen die Hände gereicht, um die unselige Kette von Gewalt und Vergeltung zu durchbrechen. So knüpften zum Beispiel Pfarrer aus Orten nahe der Oder-Neiße-Grenze Kontakte nach Polen.

Anfang der 60er Jahre unternahm Pfarrer Heinemann-Grüder aus der Uckermark eine Reise zu kirchlichen Repräsentanten in Polen. Er brachte die Hoffnung polnischer Geistlicher mit, dass die BRD mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze die Freundschaft Polens gewinnen könne.(7) Das war das sensibelste Thema zwischen deutschen und polnischen Menschen. Die DDR hatte im Görlitzer Vertrag von 1950 die Oder-Neiße-Grenze als Friedensgrenze proklamiert, um staatlicherseits zu einer Verständigung mit dem östlichen Nachbarn zu gelangen. Für viele DDR-Bürgerinnen und Bürger war dieser Vertrag sehr schmerzlich und mit der bitteren Einsicht in die historischen Gegebenheiten verbunden. Trotzdem hofften viele in Ost- und Westdeutschland, dass die Oder-Neiße-Grenze nur vorläufig sei. Das beeinflusste auch die kirchliche Arbeit, gehörten doch viele aus den jetzt polnischen Gebieten Geflohene oder Vertriebene zu den Kirchengemeinden. Viele fanden hier geistlichen Beistand und materielle Unterstützung. Pfarrer versuchten Lebensmut zu vermitteln. Sie rieten, in Deutschland Wurzeln zu schlagen, ihre neuen Lebensumstände anzunehmen und beherzt neu zu gestalten.(8)

1965 ebnete die EKD mit der Ostdenkschrift, die unbequeme Wahrheiten aus- und falschen Hoffnungen widersprach, den Weg für die Verständigung mit Polen. Um die Aussöhnung nach der leidvollen Geschichte zu fördern, bezog die EKD Stellung zum Anspruch auf die früheren Ostgebiete. Das Unrecht, das den deutschen Vertriebenen geschehen war, wird beklagt, zugleich wird aber empfohlen, das Heimatrecht der polnischen Bevölkerung in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie anzuerkennen. Denn auch sie seien Vertriebene aus polnischen Gebieten, die seit Kriegsende zur Sowjetunion gehörten. Nun solle nicht durch erneute Vertreibung neues Unrecht geschaffen werden. Die Verfasser plädierten dafür, sich von der Hoffnung zu lösen, Deutsch-land könne in den Grenzen von 1939 wieder errichtet werden.(9)

Im Mai 1970 besuchte zum ersten Mal eine Delegation des Polnischen Ökumenischen Rates die evangelischen Kirchen in der DDR. Unter der Leitung des Berliner Bischofs und Vorsitzenden des Bundes der Evangelischen Kirche in der DDR (BEK) Albrecht Schönherr erfolgte im November 1971 der Gegenbesuch in Polen. Bischof Schönherr setzte den Gedanken der Versöhnung immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Versöhnung wurde unter seiner Führung zu dem zentralen Anliegen, wenn es um Polen ging. Das zeigte sich in den folgenden Jahren in einer Fülle von Aktivitäten. Die Kirchenzeitungen berichteten verstärkt über Polen. Polnische Theologen erhielten Einladungen zu kirchlichen Veranstaltungen in der DDR. Ein Stipendiaten-Austausch wurde möglich, auch Literatur wurde ausgetauscht. Es gab Arbeitshilfen für kirchliche Gruppen zu Polen. Eine Begegnungstagung polnischer und deutscher Christinnen und Christen 1972 in Buckow stand unter dem Thema: „Engagement in der Freundschaft – Christen aus der Volksrepublik Polen und der DDR wollen eine gemeinsame Zukunft“.(10) So entfaltete sich die Versöhnungsarbeit der evangelischen ChristInnen der DDR am Anfang der 70-er Jahre auf verschiedenen Feldern. Dazu trugen auch die Reiseerleichterungen zwischen der DDR und Polen ab 1972 bei. Die achtziger Jahre waren geprägt von einem intensiven theologischen Gedankenaustausch. Es entwickelten sich zunehmend Kontakte zwischen Gemeinden in Polen und der DDR.(11)

Versöhnung praktisch

Unter Bischof Schönherr wurde das Vorhaben der polnischen Regierung unterstützt, im Gedenken an die im Krieg getöteten Kinder ein Kinderkrankenhaus in Warschau zu bauen. Die Kirchen der DDR – und auch einige westdeutsche Landeskirchen – beteiligten sich mit großem Engagement, vor allem durch Spendenmittel, an diesem Vorhaben.

Einen besonderen Platz nimmt die Versöhnungsarbeit der Aktion Sühnezeichen ein. Lothar Kreyssig aus Magdeburg, Präses der Synode der Kirchenprovinz Sachsen, ruft bei der Tagung der EKD-Synode am 30. April 1958 im Johannesstift in Berlin junge Deutsche dazu auf, in Länder zu gehen, die unter den Folgen des Krieges litten. Durch praktische Arbeit sollten sie Zeichen der Versöhnung setzen. In seinem Aufruf  heißt es: „Des zum Zeichen bitten wir die Völker, die Gewalt von uns erlitten haben, dass sie uns erlauben, mit unseren Händen und mit unseren Mitteln in ihrem Lande etwas Gutes zu tun; ein Dorf, eine Siedlung, eine Kirche, ein Krankenhaus oder was sie sonst Gemeinnütziges wollen, als Sühnezeichen zu errichten. Lasst uns mit Polen, Russland und Israel beginnen, denen wir wohl am meisten wehgetan haben.“(12)

Kreyssigs Aufruf galt jungen arbeitsfähigen Männern und Frauen aller Stände und Konfessionen, die Zeichen des Friedens errichten sollten. Aus der anfangs unmöglich scheinenden Idee wurde ein Dienst, der bis heute lebendig ist und viele Deutsche geprägt hat. 1961 machte der Mauerbau die Pläne zunichte,
den Versöhnungsdienst gemeinsam von jungen Menschen aus beiden Teilen Deutschlands zu leisten. In der DDR waren „Sühnezeichenlager“ nur innerhalb des Landes und zunächst nur in kirchlichen Einrichtungen möglich, in den achtziger Jahren auch auf jüdischen Friedhöfen. Oft nahmen Jugendliche aus Polen als Gäste daran teil. Unter Geheimhaltung fanden allerdings auch Sühnezeicheneinsätze in Polen statt.

In der Bundesrepublik konnte Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF), so der veränderte Name ab Ende der 1960er Jahre, Versöhnungsarbeit in Ost- und Westeuropa, aber auch in Norwegen und Israel leisten. Versöhnung ereignete sich in dieser Arbeit in Ost und West durch Begegnungen, praktisches Tun und thematische Arbeit, vor allem zur Vergangenheit und zu aktuellen Fragen der Versöhnung.

Versöhnung ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein immerwährender Prozess, der auch die Nachgeborenen mit einbezieht. So finden immer noch, anknüpfend an das Engagement des BEK und hierbei auch der Frauenhilfe in Ostdeutschland, jährlich Versöhnungseinsätze von evangelischen Frauen im KinderGedächtnisGesundheitsZentrum (KGGZ) in Warschau statt. Durch konkrete Mitarbeit kann das Klinikpersonal im Sommer entlastet werden. Die Frauen begleiten kranke Kinder zu Therapien oder Untersuchungen oder helfen im Garten der Klinik mit. 2012 schließt sich ein weiterer Kreis – ab dann wird dieser Einsatz in Zusammenarbeit der Evangelischen Frauen in Deutschland mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste stattfinden.

Für die Arbeit in der Gruppe

Die Leiterin führt anhand des Beitrags in das Thema „Versöhnungsarbeit“ ein.

Rollenspiel
Drei Frauen – Freundin A, Freundin B, Pfarrerin C – spielen folgende Situation: Zwei Freundinnen arbeiten in der gleichen Firma. Durch einen Stellenabbau verliert A ihren Arbeitsplatz und wird arbeitslos. B verbleibt an ihrem Arbeitsplatz. A bricht aus Wut und Ärger über ihre Situation den Kontakt zu B ab – B ist enttäuscht, hilflos und kommt mit der Situation nicht zurecht. Nach zwei Jahren treffen sich beide zufällig bei einer Gemeindefahrt. C erlebt das Zusammentreffen der beiden.

Die Frauen spielen das Zusammentreffen so, dass die entzweiten Freundinnen wieder zueinander finden.

Gespräch
– Die Teilnehmerinnen tauschen sich im Anschluss an das Rollenspiel über eigene Erfahrungen von Konfliktbewältigung und Versöhnung aus. Sie überlegen, was verhindert, dass es zu Versöhnung kommt, und was Versöhnung ermöglicht.
– Gehören zur Gruppe Frauen, die Flucht und Vertreibung erlebt haben, könnten sie Anteil geben an ihren Erfahrungen bzw. Hoffnungen im Blick auf Versöhnung mit den Menschen in ihrem Herkunftsland.

Kreative Aktion
– Die Frauen gestalten einen Versöhnungsweg (auch in mehreren kleinen Gruppen möglich) – entweder mit farbigen Tüchern oder mit Naturmaterialien, die bereitgestellt sind oder selbst im Freien gesucht werden.
– Die Teilnehmerinnen stellen ihre(n) Versöhnungsweg(e) vor.

Lied
Wie ein Fest nach langer Trauer (siehe S. 44)

Pfarrerin i.R. Sylvia Herche, 61 Jahre, hatte ihre letzte Pfarrstelle in der Heilandsgemeinde in Halle (Saale) und lebt jetzt in Görlitz. Ehrenamtlich ist sie Seelsorgerin beim Christlichen Hospizdienst Görlitz und wird in den nächsten Jahren die Fahrten zum KGGZ Warschau leiten.

Anmerkungen:
1 Evangelisches Kirchenlexikon, Vandenhoec&Ruprecht Göttingen 1996, S. 1166
2 Vgl. ebenda
3 Vgl. Rolf Richter, Versöhnung mit Polen als Aufgabe und Weg für die evangelische Kirchen in der DDR in den siebziger Jahren, in: Schriftenreihe des Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung, Heft 6, S. 16
4 Vgl. ebenda
5 Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum politischen Weg unseres Volkes (Darmstadt 1947), Kirchliches Jahrbuch 1945-1948, Gütersloh 1950, S. 220 ff.
6 Vgl. Rolf Richter, S.12
7 Vgl. Rolf Richter, S. 12
8 Vgl. ebenda
9 Auch in der katholischen Kirche gab es Signale zur Verständigung. 1965 übermittelten die polnischen Bischöfe am Rande des Zweiten Vatikanischen Konzils ihren deutschen Amtsbrüdern in einer Botschaft, dass sie Vergebung gewähren und um Vergebung bitten. Vgl. Die Botschaft der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe vom 18.11.1965, in: Versöhnung aus der Kraft des Glaubens, hg.v. der Deutschen Bischofskonferenz 1985
10 Vgl. Rolf Richter, S. 21
11 Vgl. ebenda, S. 60 ff
12 Aufruf zur Aktion Sühnezeichen, in: Konrad Weiß, Lothar Kreyssig – Prophet der Versöhnung, S. 455

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