Alle Ausgaben / 2010 Artikel von Siegried Lorberg-Tamakloe und Martina Berwinkel

Deeskalation trainieren

Selbstsicherheit und Selbstbehauptung für Frauen und Mädchen

Von Siegried Lorberg-Tamakloe und Martina Berwinkel


Montag, später Vormittag, im Großraumbüro. Frau XY telefoniert. Ihr Chef kommt herein und brüllt quer durch den Raum: „Frau XY! Sie schaffen es aber auch, in jeden Brief 20 Fehler einzubauen!“ Schnell nähert er sich ihrem Schreibtisch und knallt ihr einen Haufen Papiere hin. „Das hier können Sie sich in Ihren Allerwertesten stecken!“

Trotz der im Grundgesetz festgeschriebenen Rechte erfahren Frauen und Mädchen in allen Bereichen ihres täglichen Lebens gesellschaftliche Diskriminierungen, Übergriffe und Verletzungen. Die Gewaltformen reichen von subtilster Diskriminierung bis hin zu brutalen Taten. Ausdrücklich zu benennen ist dabei auch die Gewalt gegen behinderte Frauen, Frauen mit Migrationshintergrund und lesbische Frauen.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen hat viele Gesichter: sexuelle Belästigung oder Nötigung, Demütigung, Beleidigung, Prügel, Bedrohung, soziale Kontrolle, Stalking, Vergewaltigung, sogenannte Ehrenmorde, Genitalverstümmelung, Zwangsprostitution und Frauenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung, besonders perfide als Waffe der Kriegsführung. Sie beginnt mit der „alltäglichen Anmache“, mit frauenfeindlicher Sprache, Witzen und Beschimpfungen. Welche Frau, welches Mädchen hätte das noch nicht erlebt, ebenso wie die Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit, weil sie bestimmte Orte, Wege oder Situationen meiden muss, um Belästigungen oder Bedrohungen zu entgehen.

Es kann jede treffen

Die Betroffenen kommen – wie die Täter – aus allen sozialen Schichten, haben unterschiedlichste Bildungsniveaus und kulturelle Hintergründe. Mit Gewalt konfrontierte Frauen passen in keine „Schublade“.

Der Gewalt Ausübende ist oftmals männlich und kommt aus dem näheren sozialen Umfeld. Die Repräsentativstudie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ von 2004 ergab:
– Gewalt gegen Frauen wird in den allermeisten Fällen von Männern verübt; dies gilt nicht nur für sexuelle, sondern auch für körperliche und psychische Gewalt.
– Gewalt gegen Frauen wird überwiegend durch Partner und im häuslichen Bereich verübt. Typische „Angst-Orte“ von Frauen wie Parks oder dunkle Straßen sind im Vergleich zur eigenen Wohnung oder vertrauten Umgebung seltener der Tatort.
– Täter sind meist Partner, Ex-Partner, Ehemänner, Väter, Brüder und Kollegen. Dabei scheinen Beziehungspartner häufig gewalttätiger vorzugehen als Fremdtäter. Besonders gefährdet sind Frauen, die sich von ihrem Partner trennen oder scheiden lassen (wollen) sowie Frauen, die bereits in ihrer Kindheit Gewalt erlitten haben.

Die Studie ergab, dass von den befragten Frauen und Mädchen zwischen 16 und 85 Jahren
– 13 Prozent sexualisierte Gewalt erlebt haben, die nach der engen juristischen Definition als Straftat gilt,
– 58 Prozent sexuelle Belästigungen erlebt haben und
– 40 Prozent der Befragten körperliche oder sexualisierte Gewalt oder beides erfahren haben.

Und laut Hamburger Polizeistatistik 2008 ist die Dunkelziffer fünf- bis zehnmal höher als die Zahl der Taten, die durch eine Anzeige erfasst werden.

Über Gewalt zu sprechen ist nicht leicht. Scham und die Angst vor verunglimpfender Verurteilung oder vor weiteren Übergriffen hindern sie, mit jemandem über die erlebte Gewalt zu sprechen, ihre Rechte einzufordern und sich adäquate Hilfe zu suchen. Frauen und Mädchen, die Gewalt erlebt haben, brauchen daher vor allem die uneingeschränkte gesellschaftliche Ächtung dieser Gewalt. Sie müssen sich sicher sein können, Solidarität und Unterstützung zu erfahren. Die Wissenschaftlerinnen der Studie von 2004 folgern, dass das Unterstützungssystem und Präventionsmaßnahmen weiter ausgebaut werden müssen.

Es beginnt im Kopf

In diesem präventiven Kontext ist unser Trainingsangebot angesiedelt. Sicherheit und Selbstsicherheit sind für Frauen und Mädchen unabdingbar. Um eine dauerhafte Stärkung von Frauen und Mädchen zu erreichen, müssen die Auslöser und Hintergründe von gefährlichen Situationen deutlich werden und die individuellen Möglichkeiten bekannt sein. Eine Stärkung des Selbstbewusstseins von Frauen und Mädchen ist dabei keine isolierte Maßnahme, sondern ein kontinuierlicher Prozess, der alle wichtigen Ebenen der eigenen Persönlichkeit und der individuellen Kommunikationsmöglichkeiten betrifft. Selbstbehauptung beginnt im Kopf und ist immer auch eigene Arbeit an der eigenen inneren Haltung.

Unsere Trainings „Selbstsicherheit und Selbstbehauptung“ haben mehrere Ziele im Blick:
– Bewusstmachen von typischem Rollenverhalten mit dem Ziel der Verhaltensänderung;
– Sensibilisierung für die eigenen Grenzen, um sich besser abgrenzen zu lernen;
– Wahr- und Ernstnehmen unguter Gefühle, um Gefahrensituationen zu erkennen, sie realistisch einzuschätzen und adäquat zu handeln;
– Thematisieren des Selbstwerts der eigenen Persönlichkeit;
– Förderung der individuellen Kommunikationsmöglichkeiten, um die Fähigkeiten zur Lösung von alltäglichen Konflikten zu erhöhen;
– Sensibilisierung für die verschiedenen Formen von Gewalt, Belästigung und Bedrohung und Schulung der Wahrnehmung;
– Kennenlernen der eigenen Stärken;
– Stärkung des Selbstbewusstseins und der Entscheidungsfähigkeit;
– Wissen um Zusammenhänge von Eskalationsprozessen und um die eigenen Handlungsalternativen.

Wichtig ist die Einsicht: Es ist nicht die Gewalt, die die Konflikte auslöst – es sind die Konflikte, die die Gewalt auslösen. Jede von uns kennt die kleinen und größeren Herausforderungen des Alltags, in denen wir uns mit Konfliktsituationen aller Couleur auseinandersetzen müssen. Die Bearbeitung folgender Fragen – ausgehend von den eigenen Erfahrungen der Teilnehmerinnen – stehen daher während des Trainings im Vordergrund:
– Finde ich mich im alltäglichen Sprachgebrauch wieder?
– Gibt es Gewaltfreiheit – oder ist das nur großes Wunschdenken?
– Was bedeutet für mich persönlich Gewalt?
– Ist mir meine eigene Grenze (und auch die der anderen) in Konflikt-Situationen bewusst?
– Welche Körpersprache zeige ich in einem Konflikt oder in einer Bedrohungssituation?
– Wie reagiere ich selbst in Konflikten? Wie reagieren andere?
– Wann übe ich selbst im genannten Sinne Gewalt aus, wann erfahre ich selbst Gewalt?
– Wie habe ich mich gefühlt, als ich Gewalt erfahren/ausgeübt habe?
– Wann und vor allem wie kann ich deeskalieren und intervenieren?
– Gibt es die Konfliktlösungsstrategie für mich? Für andere?
– Welche Möglichkeiten habe ich in akuten Bedrohungssituationen?

Es geht auch anders

Unter dem Motto „Ausprobieren & Trainieren“ regen wir die Teilnehmerinnen an, sensibler die Erscheinungsformen von Gewalt, Diskriminierung, Sexismus und Rassismus wahrzunehmen. Sie sollen lernen, die eigenen Grenzen zu spüren und deutlich zu machen, aber auch, durchaus nicht ohne Humor, mehr Klarheit über das eigene Gewalt- und Konfliktpotential zu gewinnen. Es geht ebenso darum, lustvoll eigene Stärken zu entdecken und kreativ, konstruktiv mit ihnen umzugehen, wie eigene Widersprüche zu benennen und zuzulassen.

Wir arbeiten mit den Frauen daran, dass sie den eigenen Standpunkt zu Konfliktbewältigung, Gewalt, Diskriminierung, Sexismus und Rassismus überdenken und weiter entwickeln. Vor allem sollen sie die eigene innere und äußere Haltung zu mehr Selbstsicherheit und Selbstbehauptung authentisch und situationsangemessen stärken. Gemeinsam erarbeiten sie neue Konfliktlösungsstrategien und probieren diese im geschützten Raum aus, damit sie den alltäglichen Herausforderungen adäquat und selbstbewusst begegnen können.

Aktiv Gewalt reduzierendes und gewaltfreies Verhalten ist erlernbar. Indem wir uns unsere Ängste und Handlungsgrenzen bewusst machen, erfahren wir gleichzeitig auch mehr über den Bereich, der zwischen diesen Grenzen liegt. Oft unterschätzen wir die Vielfalt unserer Möglichkeiten. Mit einem breiten Methoden-Repertoire erarbeiten und entdecken wir gemeinsam in gespielten Konfliktsituationen konstruktive und kreative Handlungsmöglichkeiten. Präventions-, Interventions-, Antirassismus- und Selbstbehauptungs-, Selbstsicherheits- und Deeskalationstrainings bieten uns die Chance, bisher ungewohntes Verhalten auszuprobieren, einzuüben und auf seine Wirkungen hin zu überprüfen. Wir beginnen mit dem leichten und arbeiten uns Schritt für Schritt zu den schwierigeren Inhalten vor.

Dumme, zumeist sexistisch eingefärbte oder auf den Körper bezogene diskriminierende Sprüche hat jede von uns schon anhören müssen. Daher liegt ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit darin, Frauen und Mädchen für diese speziellen Situationen zu sensibilisieren und gemeinsam zu trainieren, wie frau sich dieser Sprüche erwehren kann.

„Wie mutig frau/man ist, weiß frau/man immer erst hinterher“, erkannte ein S-Bahn-Benutzer in einem nachgestellten Rollenspiel des WDR zum Thema Rassismus und Zivilcourage. Und es gibt auch keine allgemein gültigen Rezepte, Tipps oder Verhaltensregeln. Jede Situation ist einmalig – und ihr Ausgang von jeder selbst und ihren eigenen Fähigkeiten abhängig. Gleichwohl lassen sich einige Tipps für couragiertes Verhalten geben. Sie lauten:
– Sei vorbereitet!
– Bleib ruhig!
– Werde aktiv!
– Geh aus der dir zugewiesenen Opferrolle!
– Halte den Kontakt zum Angreifer / zur Angreiferin!
– Rede und höre zu!
– Drohe oder beleidige nicht!
– Hol dir Hilfe!
– Tu das Unerwartete!
– Vermeide möglichst jeden Körperkontakt!

Wer Handlungsalternativen eingeübt hat, kann mit Konfliktsituationen jeglicher Art besser umgehen. Also: ausprobieren & trainieren! Erinnern Sie sich noch an die Szene zwischen Frau XY und ihrem Chef zu Beginn? In unserer Training antwortete die Teilnehmerin: „Das geht leider nicht, Chef. Da ist noch das hier von letzter Woche drin!“

Für die Arbeit in der Gruppe


Ziel
Die Übung zu Nähe und Distanz soll die Teilnehmerinnen für eigene und fremde Grenzen sensibilisieren. Sie ist für Gruppen ab acht Frauen / Mädchen geeignet. Der Raum sollte genügend Platz zur Bewegungsfreiheit haben.

Zeit
je nach Gruppengröße ab 45 Minuten

Material
Flipchart oder Wandtafel und Stift zum Visualisieren des Übungsergebnisses

Hinweis für die Leiterin:
Der Schwerpunkt der Übung liegt darauf, achtsam zu sein, ob die Person, die frau auf Distanz halten will, die jeweils gesendeten Signale wahrnimmt und akzeptiert. Daher ist es sinnvoll, nach jedem Durchgang der Übung einen Rollentausch vorzunehmen und ggf. in einem zweiten Durchgang der gesamten Übung wechselnde Partnerinnen zu wählen.
Die Übung lässt sich am besten jeweils in 2-er-Konstellation gegenüberstehend durchführen; mindestens 8 Frauen / Mädchen sollten dabei sein, um unterschiedliche Verhaltensmuster wahrnehmen und später diskutieren zu können.

Ablauf
Übung:
– Eine Person kommt auf mich zu. Ich soll ihr ohne Worte, nur durch meinen Gesichtsausdruck deutlich machen, wie nah sie mir kommen darf.
– Eine Person kommt auf mich zu. Diesmal dirigiere ich sie ohne Worte, nur durch Augenkontakt bis zu dem Punkt, an dem mir Nähe noch angenehm ist.
– Eine Person kommt auf mich zu. Wenn die Stelle erreicht ist, an der sie stehen bleiben soll, sage ich laut und deutlich ‚STOP'!
– wie gerade vorher – aber zusätzlich wird die Hand nach vorne gestreckt (abwehrend) und das ‚Stop' durch entsprechende Körperhaltung unterstützt.

Zielorientierte Reflexionsfragen an die TN nach der Übung:
Ziel dieser Übung ist es, andere Menschen eindeutig auf Distanz zu halten – ohne Gewalt anwenden zu müssen.
– Wie eindeutig waren meine Zeichen, um meine Grenze zu wahren? (Frage an die jeweilige Partnerin)
– Wie schwer fiel es mir, die mir signalisierte Grenze wahrzunehmen und zu akzeptieren?
– Stimmte das Gesagte mit Stimme, Gesichtsausdruck, Körperhaltung immer überein? (Frage an die jeweilige Partnerin)
– Welche Worte machen meinen Wunsch nach Distanz „wirklich“ deutlich?
– Welche Gesten, welche Körperhaltung, welche Stimmlage sind erfolgreich?

Feedback-Runde im Stuhlkreis:
Wie kann frau die eigenen Grenzen gut wahren und auch die Grenzen von anderen gut wahrnehmen?
Alle wichtigen Punkte werden auf dem Flipchart festgehalten. – Um den Trainingseffekt zu verstärken, wäre nach der Auswertung ein weiterer Durchgang mit unterschiedlichen Partnerinnen hilfreich.

Siegrid Lorberg-Tamakloe, Hannover, arbeitet als Interkulturelle Beraterin und Mediatorin sowie als Multiplikatorin des Gewaltpräventions-Projekts „Schritte gegen Tritte“, das im Rahmen der Dekade zur Überwindung von Gewalt vom Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen entwickelt wurde.

Martina Berwinkel (vormals Knoop), Steinhagen, ist Referentin für Frauenfragen. Beide Frauen sind Lehrtrainerinnen der Gewalt Akademie Villigst.

Informationen unter
www.gewaltakademie.de;
E-Mail: GAVHannover@aol.com und deeskalation@gmx.net

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