Alle Ausgaben / 2006 Artikel von Marei Harnapp

Dem Göttlichen begegnen

Erfahrungen und Anregung zum liturgischen Tanz

Von Marei Harnapp


„Tanz ist die Rückkehr in die ursprüngliche Ordnung der Schöpfung, die in rhythmischer Weise weiter geht“, schrieb Mitte des 4. Jh. der Bischof und Kirchenlehrer Gregor von Nyssa, dem heutigen Nevsehir/Türkei. Liturgischer Tanz hat dementsprechend vor allem mit Meditation zu tun: meditari (lat.) bedeutet „zur Mitte hin gegangen werden“.

Diese „Mitte“ kann unterschiedliche Bedeutungen haben. „Ob als Mitte ein religiöser Hintergrund oder allgemein der Sinn des Lebens begrifflich einzufangen versucht wird, liegt in der Entscheidung des einzelnen. Auch Sinngehalte von Tänzen können unterschiedlich auf das Wesentliche hinweisen. Eindeutig ist, dass es Mitte, Wesentliches im meditierenden Tanzen gibt, mehrdeutig sind jedoch die inhaltlichen Rückbindungen (im eigentlichen Sinne re-ligio). Es ist nicht die Mitte haben, besitzen, sondern in Beziehung zu ihr stehen, sie suchen. … Ein letztes Geheimnis, ein letztes Nichtbegreifen bleibt.“(1)  Für mich selbst ist die Mitte der „Dreifaltige“, meine Beziehung zu IHM als meiner Quelle – in Freude am Geschaffen sein, an und in der Musik, im Rhythmus, im Gespräch, im Beten mit dem Körper.

Für Maria Gabriele Wosien ist der Tanz als Gebet(2)  die „Quelle zur Freisetzung von Erlebniskräften“, die den Menschen über sich selbst, über das rein Persönliche hinauswachsen lassen: „Wenn der Geist den Körper bewegt und dieser wiederum durch Bewegung den Geist erhebt, ist es das Gebet des ganzen Menschen und meint die Ausrichtung von Leib, Seele und Geist. Für die Zwiesprache mit Gott ist es Einstimmung und durch Haltung und Gebärde Ausdruck seines Inhaltes.“

Feiert Gottes Namen beim Reigen

„Die Erkenntnis der Bedeutsamkeit von Reigentänzen hat den Tänzer, Choreografen und Pädagogen Bernhard Wosien veranlasst, uns eine neue Tanzform zu vermitteln, den meditativen Tanz. Im Kreis als Grundform stehen die Tanzenden mit einer empfangenden (nach rechts) und einer gebenden Hand (nach links). Das Empfangene wird nach links weitergegeben, zurückgebunden.“(3)  Einer der ersten als meditativ bezeichneten Tänze ist der Sonnentanz. Dieser seit Jahrzehnten weiter verbreitete Tanz(4) wird zum sakralen Tanz durch das Feiern der „Geburt des Lichtes“, der Geburt dessen, der von sich sagte:
„Ich bin das Licht der Welt“.
Im 20. Jahrhundert wurden auch viele Reigen bzw. Volkstänze aus aller Welt als meditierende Tänze eingesetzt, wobei zwar mehrheitlich ruhige Tänze gewählt werden, aber durchaus auch lebhafte, die Freude, Begeisterung und Bewegungslust ausdrücken. Dass Volkstänze immer wieder neu Kraft und Energie aufnehmen lassen, erfuhr ich vor allem in griechischen und jüdischen Tänzen.

In den 70er Jahren lernte ich bei Christel Ulbrich, einer der wichtigsten Tanz- und Musiktherapeutinnen in der DDR, Tänze therapeutisch einzusetzen. Sie bereicherte nicht nur mein Leben mit Tänzen, die sie von ihren Auslandsreisen mitbrachte; sie vermittelte zudem eine schier unendliche Fülle von Hilfsmitteln für das Wahrnehmungstraining in der Musiktherapie, auch und gerade für Menschen mit Behinderungen. Durch sie lernten wir bedeutende Tanzpädagoginnen bzw. MusiktherapeutInnen kennen und erlebten die Ausbreitung auch kultureller Reichtümer in unserem Teil Deutschlands. In den 80er Jahren beeindruckten mich tief die Heiligenberger Tanztage. In Heiligenberg am Bodensee lehrten u.a. Maria Gabriele Wosien, Dagmar v. Garnier, Tanzlehrerinnen aus Findhorn (Sacred Dances / Schottland) und – für mich prägend – Shalom Hermon aus Israel, den Mitbegründer des Schulfachs „Tanz“ in Israel.

Mit dieser Frauengruppe konnte ich 1992 nach Israel reisen, wo wir, von Shalom Hermon geführt, das Land betanzten. Bei den Kontakten zu jüdischen Gruppen und Persönlichkeiten beeindruckten mich ihre rhythmische Gebetsweise und besonders die chassidische Glaubensform mit ihren Tänzen. Einer der mir tief ans Herz gewachsenen Tänze ist der Karev jom. Unsere Reisegemeinschaft tanzte ihn zum Gedenk-Gottesdienst, als Shalom Hermon während unserer Reise starb. Wir tanzten ihn auf dem jüdischen Friedhof in Jerusalem an seinem Grab und im Haus seiner Witwe. Diesen Tanz tanzte ich mit zwei bis drei anderen Frauen in Kirchen unserer Landeskirche. Und wenn ich ihn in meinem Wohnzimmer tanze, gibt er mir jedes Mal die erhoffte Hilfe durch Rückbindung.

Weil in unseren evangelischen Kirchen wenig Meditation und Kontemplation angeboten wurde und ich seit 1981 auch aktiv in der katholischen Kirche lebte, fuhr ich Ende der 80er Jahre mehrmals in Klöster und andere geistliche Zentren unseres Landes, nach der Wende auch in Klöster der alten Bundesrepublik. Die selbstverständliche Ökumene äußerte sich zu meiner Freude auch in Tänzen, die zum Beispiel bei Exerzitien eingefügt wurden. Seit etwa zehn Jahren ist ein Kloster bei Berlin eine geistliche Heimat für mich, die ich mindestens einmal im Jahr aufsuche – mein Geburtstagsgeschenk für mich selbst. Meist sind es meditative und sakrale Tänze, die wir auch in der selbst gestalteten Messe mit dem leitenden Pater tanzen.
Augustinus soll gesagt haben: „O Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel nichts mit dir anzufangen.“ Und so begann auch dieses Jahr, geprägt vom Geist der Ökumene, mit zwei Kursen zur Finnischen Messe I von Pekka Simojoki im „Haus der Stille“ (Grunbach bei Tharaudt). Die Choreographin Nanni Kloke schrieb zum Entstehen dieses wunderbaren Zyklus: „Die Melodien forderten mich zum Tanzen auf. Die Begegnung mit Anderen – dem Göttlichen gewidmet – im Kreis (Symbol der Zeit, der Unendlichkeit, der ¬ Einheit und Vollkommenheit) wurde die Basis aller Tänze der Finnischen Messe.“ Charlotte Willberg, Tanzlehrerin in ¬ Süddeutschland, charakterisierte diese Tänze zutreffend als „getanzte Liturgie“. Denn: „Gottesdienstliche Liturgie ist ihrer Intension und Struktur nach ein Fest, und das ist besonders zu spüren, wenn wir sie tanzen. Gleichzeitig ist sie ein Weg, formulierte Erfahrung vieler Generationen: ankommen und wahrnehmen – Gemeinschaft erfahren (essen u. trinken) – gesegnet weitergeben. Diesen Weg mitzugehen kann ermutigend und heilend sein; ihn zu tanzen, öffnet alle Sinne: Liturgie – spürbar für Leib und Seele! Im Tanzen eröffnen sich in oft überraschender Weise neue Zugänge zu den Inhalten der Liturgie, zu mir selbst und zu den Mittanzenden.“

Seit 1998 bot mir Pastorin Petra-Edith Pietz jährlich die Gelegenheit, mir die Tänze der Weltgebetstage anzueignen und sie im Rahmen der Frauen- und Familienarbeit der Ev. Kirche der Schlesischen Oberlausitz weiterzugeben bis hin in meine eigene Gemeinde in Hoyerswerda (Neustadt). Von da an wurde in jedem WGT-Gottesdienst in Hoyerswerda getanzt. Dabei erlebte ich über die Jahre Ökumene in begeisternder Form, allerdings auch die Ablehnung dieser Art, im Kirchenraum zu beten. Dagegen tanzten in diesem Jahr offensichtlich kirchenferne junge Männer, die der mitwirkende Trommler mitgebracht hatte, während des Kwaito-Tanzes (Südafrika) einfach mit; das hat nun wiederum meine „Tanzfrauen“ aus meiner Selbsthilfegruppe „Psychomotorische Störungen“ stark begeistert. In dieser Gruppe, in der natürlich nicht nur „Gläubige“ sind, wird zweimal im Monat meditatives Tanzen angeboten. Und als wir im vergangenen Jahr mit den WGT-Tänzen zu den SeniorInnen ins Pflegeheim gingen, durften wir erleben, wie auch dort Augen zu leuchten begannen. Ein eindrückliches Erlebnis war es, zu den Zeltmissionstagen zum Thema „Depression“ meditative bzw. liturgische Tänze zu tanzen: zwei aus der Finnischen Messe, einen aus Serbien und einen israelischen – und zum Schluss den Friedenskanon „Friede sei mit mir, Friede sei mit dir“ mit allen TeilnehmerInnen.

Liturgisches Tanzen wird seit sechs Jahren von der Christlichen Arbeitgemeinschaft Tanz in Liturgie und Spiritualität e.V.(5) intensiv angeboten. Die erste Einladung zu einem Symposium dieser AG erreichte mich ebenfalls über die Ev. Frauenarbeit meiner Landeskirche. Von eindrücklicher Schönheit, ökumenischer Vielfalt und geistlicher Fülle war eine orthodoxe Liturgie – eine Art Prozession – zum Dreikönigstag, die ich mit durchschreiten durfte. Die Reichhaltigkeit der Angebote und der Anreiz für eigenes Tun, die Kreativität und Ausdruckskraft begeisterten mich. Auch für kritisches Nachfragen wurde Raum und Zeit gegeben, und ebenso für ungewohnte Ideen – so wurde zum Beispiel der Tango Argentino als eine Möglichkeit des ¬ Kirchentanzes angeboten. Die Festivals und Symposien sind eine wahre Fundgrube für reformierende Lebendigkeit in unseren Kirchen und Gottesdiensten.(6) So beschäftigte sich z.B. das Symposium 2005 im Kloster Helfta (Lutherstadt Eisleben) mit dem Thema „Raumerlebnis – Erlebnisräume“. Wieder halfen Work¬ shops (z.B. Improvisationen) zu ganzheitlicher Selbsterfahrung und Vorträge zu Erkenntnissen über den Sinngehalt christlicher Kirchen und ihrer Glaubensbotschaft in Verbindung mit Bewegung, Berührung, Hören und Tanzen.

Eine Ahnung von Frieden

Inwieweit solche Erlebnisse in „ganz normale Gottesdienste“ einmünden können/dürfen, bleibt mir fraglich. In meiner Gemeinde gab es einen Miriam-Gottesdienst mit einem liturgischen Tanz, im gleichen Jahr einen Gottesdienst zu dem Thema „Mütter und Töchter“, in den unsere Pfarrerin und ich einen dem Raum angepassten alten Tempeltanz (Kore) und den israelischen Tanz Karev jom einfügten. Aber ich frage mich schon immer wieder: Wo bleibt in unseren Gottesdiensten die Erfahrung von Psalm 30,12: „Meine Klage hast Du verwandelt in einen Reigen“? Warum können wir nicht unserer Geschöpflichkeit entsprechen und erfahrene Hilfe auch dem gemäß ausdrücken? Warum darf nicht sichtbar werden, was unser Heiland bewirkt? Weshalb lesen wir im Gottesdienst die Aufforderung „Feiert Gottes Namen beim Reigen!“ und tun es nicht?

Für mich ist es eine Lebenshilfe, wenn zum Beispiel in meiner Selbsthilfegruppe beim Lehren von Tänzen mir selbst ebenso Heilendes zuteil wird. Weil ich darin glücklich bin, ruhig werde, mache ich mir die Mühen der Vorbereitungen. Es gibt aber inzwischen auch eine sehr tiefe Verbundenheit mit ganz bestimmten Tänzen, die in meiner Biografie „Schicksalsschläge“, Krisen markieren und/oder in dunklen Zeiten immer wieder zu bewältigen, zu leben halfen. Dazu gehört der schon erwähnte Karev jom, der „nahe Tag“. Deshalb bekam dieser israelische Sehnsuchtstanz nach dem Tag, an dem der Messias kommt, von mir einen Text, der meine persönliche Erfahrung mit den Gesten des Tanzes ausdrückt.(7) Er ist mir zu einer Vergewisserung Gottes heilenden Handelns an mir geworden.

Abschließen möchte ich mit einer Art „Glaubenserklärung“ zum Meditativen Tanz / Sakralen Tanz / Meditativen des Tanzes, wie ich ihn persönlich erlebe. In den 90er Jahren schrieb ich sie auf für meine Einleitungen in Gruppen. Wahrscheinlich auch nur eine vorläufige Sicht…

Ich glaube, der meditative Tanz ist nicht, sondern er entsteht bestenfalls. Er wird.
Meditativer Tanz lebt von der Stille, von unserer Hingabe, von der Wegstrecke zu sich selbst.
Später erfährt die erstarkende Wahrnehmung das „Bei-uns-sein“.
Die endlos scheinende Wiederholung schließt Türen auf in bisher nicht wahrgenommenes Empfinden:
diesem Erspüren auf die Spur kommen.
Plötzlich fühlst du intensiv den Boden, die aufsteigende Kraft in
den Schenkeln; Leisten und Bauch werden dir angenehm bewusst: mittig sein.
Sich aufgehoben erfahren in eine leicht erschließbare vorgegebene Ordnung, die dennoch lebendig sein lässt. Wenn du dich einlässt, führt sie dich in eine Ahnung von Frieden.
Ebenso entsteht die innere Freude am Beschenkt-sein und dem Werden – bis hin zu der Folge: Ich bin ein Geschenk!
Das alles wird auf den Weg gebracht durch Klänge, Rhythmen, durch das „himmlische Gut“!


Marei Harnapp, 66, wurde als Physiotherapeutin in Leipzig ausgebildet, hat danach mit körperbehinderten Kindern und Jugendlichen gearbeitet und darum eine Weiterbildung zur Fachphysiotherapeutin für Neurologie gemacht, später zudem eine musiktherapeutische Ausbildung.

Anmerkungen
1 Hilda Maria Lander, Regina Zohner: Meditatives Tanzen, Stuttgart 1987
2 Maria Gabriele Wosien: Tanz als Gebet, Linz 1994
3 Christel Ulbrich: Tanz dich gesund! Berlin 1992
4 nach der Musik von J.S. Bach, Cantate BWV 208 Aria; ebenso zur Weihnachtszeit tanzbar nach Manfredinis Pastorale aus „Concerto prosso per il Santessimo Natale“
5 Kontakt: Claudia Lauf, Tel.: 05136 – 87 87 934; Email: info@Christliche-AG-Tanz.de; Internet: www.christliche-ag-tanz.de
6 Hier entdeckte ich z.B. ein Buch von Siefried Macht: Gottes Geist bewegt die Erde – Lieder, die uns in Bewegung setzen, das umfassend über liturgischen Tanz informiert und durch Musik – und Bewegungsbeispiele zur Nachahmung anregt. (Bonifatius-Verlag Paderborn 1994; Buch: ISBN 3-87088-767-2; CD: ISBN 3-89710-034-7; je ein weiterer Band erhältlich für die Zielgruppen Kinder und Senioren)
7 Anm. der Redaktion: Für die Autorin ist der Karev jom ein Beispiel dafür, wie frau/man sich einen Tanz als Gebet aneignen kann, und hat ihre Notizen dazu zur Anschauung zur Verfügung gestellt: siehe S. 76

 

Zum weitertanzen
Enas Mythos: CD „Beginners Dances“ – mit ausführlichen Tanzbeschreibungen und Noten im Begleitheft (mit Melodiestimme, aber ohne Gesang). Bezug: Balsies Versand Kiel, Tel.: 0431 – 56 34 59; Fax: 0431 – 56 83 26; Email: Balsies@t-online.de (www.tanzversand.de)

Enas Mythos mit Gesang – allerdings auf Englisch: The spirit of dance – A compilation of Sacred Dance Music from the Findhorn Foundation. Bezug: Barbara Besser; Tel.: 02533 – 2404; Email: babesser@muenster.de

Sonnentanz – und viele andere für den Gottesdienst geeignete, meist leicht zu lernende Tänze: Friedel Kloke-Eibl: Meditation des Tanzes 1-5 (mit Begleitheft). Bezug: Rondo (Frau G. Sorg), Tel.: 08377 – 8161; Fax: 08377 – 8171; Email: friedel.kloke-eibl@t-online.de; Internet: www.sacreddance.de)

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