Alle Ausgaben / 2008 Bibelarbeit von Dagmar Althausen

Dem König von Juda sollt ihr sagen

Bibelarbeit zu 2 Könige 22

Von Dagmar Althausen


Die Grundlage unseres Glaubens ist die Bibel. Manche lesen jeden Tag in der Bibel, andere fast nie. Die einen behaupten, ein frommer Mensch müsse buchstabengetreu danach leben; für sie ist die Bibel die Heilige Schrift, Wort Gottes, und bedarf keiner weiteren Erläuterungen. Für die anderen hat dieses Buch wenig mit der Gegenwart zu tun. Sie verstehen die Worte nicht, denn die Sprache ist ihnen fremd.


Die Diskussion über die Bedeutung der Bibel ist wieder neu entflammt, als die „Bibel in gerechter Sprache“ veröffentlicht wurde. Meiner Ansicht nach ist die Grundfrage all dieser Diskussionen: Wie erkennen wir Gottes Willen?


Schrift und Sprache

Gott offenbart sich nicht nur im geschriebenen, sondern auch im gesprochenen Wort. So ist für das Volk Israel einerseits die Tora von größter Bedeutung, denn sie vermittelt dem Volk Identität und Zusammenhalt. Andererseits wird in der Bibel immer wieder davon erzählt, dass, trotz der Schrift, Gott selbst befragt wurde. In der gesamten Geschichte Israels gab es neben der Schrift immer auch Prophetinnen und Propheten, die Gottes Stimme zu Gehör brachten.

Rabbi Levi Jizchak beschreibt es so: „Aber in Wahrheit sind nicht die schwarzen Lettern allein, sondern auch die weißen Lücken Zeichen der Lehre, nur dass wir sie nicht wie jene zu lesen vermögen.“(1) Um Gottes Willen in uns lebendig werden zu lassen, reicht es nicht allein, die Bibel zu lesen. Das, was mit Worten und Bildern früherer Zeiten beschrieben wird, muss in die Gegenwart übersetzt werden. Das, was wir in der Bibel lesen, muss weitererzählt und aktualisiert werden. Eben das war die Aufgabe der Prophetinnen und Propheten in Israel.


Prophetinnen

Wenn wir über Prophetie reden, fallen uns sofort die großen Schriftpropheten wie Jesaja und Jeremia ein. Das hat eine lange theologiegeschichtliche Tradition. In den uns geläufigen Bibelausgaben werden die biblischen Bücher des Alten Testaments in Geschichtsbücher (die fünf Bücher Mose bis Ester), Lehrbücher und Psalmen (Hiob bis zum Hohelied Salomos) und Prophetenbücher (Jesaja bis Maleachi) gegliedert. Diese Einteilung entspricht der griechischen Übersetzung (Septuaginta), die zwar alle Bücher der Hebräischen Bibel übernimmt, sie aber anders an- und zuordnet. Dass die Septuaginta die Grundlage für das Alte Testament in unseren Bibeln ist, liegt vor allem daran, dass bereits die frühen ChristInnen hauptsächlich diese Übersetzung ins Griechische verwendeten. Und also umfasst der Teil der Prophetie in unseren Bibelausgaben ausschließlich jene Bücher, die nach Propheten benannt sind. Da dies wiederum alle samt Männernamen sind, fallen uns, wenn wir an Prophetie denken, vor allem Männer wie Jesaja, Jeremia, Amos oder Jona ein.
Dass es auch Prophetinnen gab, konnte auf diese Weise nicht wahrgenommen werden. Im christlichen Prophetiekanon wird nur von einer einzigen Prophetin gesprochen, zu der Jesaja geht (Jes 8,3). Das Judentum dagegen kennt nach dem Talmud sieben Prophetinnen: Sara, Mirjam, Debora, Hanna, Abigail, Hulda und Ester. Diese Aufzählung macht bereits deutlich, dass hier „die Prophetin“ anders definiert wird als einfach nur das weibliche Pendant zu dem, was wir Christinnen und Christen uns unter Propheten gemeinhin vorstellen. Nach dem Talmud sind Frauen, die es in besonders intensiver Weise mit Gott zu tun haben und mit ihm reden, „Prophetinnen“.

Die Hebräische Bibel nennt Mirjam (Ex 15,20), Debora (Ri 4,4), Hulda (2 Kön 22,14), Noadja (Neh 6,14) und die Frau, zu der Jesaja geht (Jes 8,3) „Prophetinnen“. Sie zählt die Bücher Josua bis 2 Könige – nach unserem Verständnis Geschichtsbücher – zu den sogenannten „Frühen“ oder „Vorderen Propheten“. Die Prophetie in der Hebräischen Bibel ist also nicht auf die „Schriftprophetie“ beschränkt. Damit wird zugleich deutlich, dass nicht nur Männer Propheten gewesen sind.

Die gesamte Geschichte Israels wird begleitet von Propheten und Prophetinnen. Neben dem geschriebenen Wort Gottes, der Tora, dem „Grundgesetz“ Israels, gibt es immer auch Männer und Frauen, die Gottes Stimme in Israel zu Gehör bringen. Sie sind diejenigen, die die Beziehung zwischen Gott und dem Volk lebendig halten. „Prophetie in Israel ist geprägt durch das Wort, das der prophetisch begabte Mensch hört und weitergibt, damit das Volk es hört und danach handelt.“(2) Ohne Prophetie ist die Tora toter Buchstabe.


So spricht Gott

Nach der Erzählung von 2 Kön 22 war anscheinend die Prophetin Hulda die Autorität, die aufgesucht wurde, wenn es galt, den Willen Gottes zu erfragen, obwohl der später so berühmte Prophet Jeremia bereits in Jerusalem wirkte.


Der Erzählrahmen
Von der Prophetin Hulda wird in den Erzählungen über die Regierungszeit des Königs Josia berichtet. Josia wird im kindlichen Alter von acht Jahren König von Juda. Da seine Mutter Jedida erwähnt wird, können wir davon ausgehen, dass sie, solange der Sohn unmündig ist, die Regentschaft inne hat. Josia ist eine lange Regierungszeit (641 bis 609 vor Christus) beschieden. In seinem 18. Regierungsjahr ordnet er die Renovierung des Tempels an. Er schickt den Schreiber Schafan zum Hohenpriester Hilkija mit dem Auftrag, die Gelder, die für den Tempel gesammelt wurden, nun den Handwerkern und Bauleuten zu geben, damit sie die notwendigen Arbeiten am Tempel durchführen können.
Im Zuge dieser Arbeiten entdecken die Handwerker offensichtlich eine „Genizah“, eine Rumpelkammer, in der nach jüdischer Vorschrift unbrauchbar gewordene Heilige Schriften bis zu ihrer endgültigen Vernichtung verborgen wurden, um sie vor Missbrauch zu schützen. Vielleicht wurde diese Genizah irgendwann zugemauert und geriet so in Vergessenheit. Dort finden sie ein Buch, dessen Bedeutung der Hohepriester Hilkija sofort erkennt. Er nennt es Gesetzbuch oder „Buch der Weisung“ und gibt es dem Schreiber Schafan, der es liest und daraufhin sofort zum König eilt. Nachdem der König Josia die Worte des Buches gehört hat, ist er tief erschüttert und zerreißt seine Kleider. Unverzüglich schickt er die Spitzen seiner Regierung aus, damit sie um seinetwillen, um des Volkes willen und um ganz Judas willen Gott befragen. Wie ist es möglich, mit diesem Buch zu leben? Schreckliche Drohungen und Flüche werden über Israel ausgesprochen, weil es die göttlichen Gebote nicht hält, nicht auf die Weisungen diese Buches gehört und nach ihm gehandelt hat. Hat es da überhaupt noch einen Sinn zu leben? Gottes Gericht ist beschlossen. Wie kann ein Mensch in Israel mit dem Wissen vom unausweichlich drohenden Untergang weiterleben? Mit diesen  Fragen richtet sich der König Josia an Gott. Obwohl er die Bedeutung dieses Buches sofort erkannt hat, benötigt er Gottes Wort, eine Auslegung der Schrift.

Die Auslegung der Schrift ist allerdings nicht die Aufgabe der gesellschaftlichen Elite. Hier wird eine klare Teilung der Ämter deutlich: Hilkija, der Hohepriester, ist verantwortlich dafür, dass die Schrift nicht in Vergessenheit gerät. Schafan, der Schreiber, sorgt dafür, dass sie dem König und damit der Öffentlichkeit bekannt wird. Aber weder Abstammung noch Kompetenz noch Genie oder Macht qualifizieren zur Auslegung der Schrift. Das ist Aufgabe der Propheten und Prophetinnen, die Gott selbst erwählt und in dieses Amt beruft. Prophetisch begabte Menschen zeichnet nicht ein besonderer Stand aus, sondern die Beziehung zu Gott, denn durch sie wird die Schrift zum gesprochenen Wort Gottes. Und offenbar war es in der damaligen Zeit gut vorstellbar, dass eine Frau dieses Amt inne hatte, das wichtiger als das des Priesters oder des Königs war. Jedenfalls müssen Hilkija und Schafan sich in einer Gruppe hoher staatlicher Würdenträger als Delegierte des Königs auf den Weg zur Prophetin Hulda machen.


Die Prophetin Hulda
Die Angaben über die Prophetin Hulda und ihr Umfeld sind sehr spärlich. Sie wird nur hier in 2 Kön 22 und in der Parallel-Erzählung in 2 Chr 34 erwähnt. Namentlich genannt werden ihr Mann Schallum, sein Vater Tikwa und Großvater Harhas. Ansonsten erfahren wir noch, dass ihr Mann in der Kleiderkammer des Tempels beschäftigt war und Hulda in der Neustadt Jerusalems wohnte. Diese kargen Angaben geben wenig Anhaltspunkte, um die historische Prophetin Hulda nachweisen zu können. Allerdings lässt ihre namentliche Erwähnung darauf schließen, dass diese Prophetin wohl nicht erfunden wurde. Offensichtlich war sie keine Hofprophetin, denn nicht sie wird zum Hof gerufen, sondern die Staatsspitzen müssen zu ihr gehen. Sie ist den Umgang mit solch einer Delegation gewohnt. Mit keinerlei diplomatischen oder höflichen Worten, nicht einmal dem König gegenüber, leitet sie ihre Rede ein. So viel also  wissen wir immerhin: Hulda wird es gegeben haben, der König Josia wird sie befragt haben, und sie wird geantwortet haben.


Huldas Verkündigung
Huldas Rede gliedert sich in zwei Teile (Teil I: Verse 15-17; Teil II: Verse 18-20). Sie beginnt jeweils mit der Botenformel: „So spricht JHWH, der Gott Israels“ und gibt sich damit als Botschafterin Gottes zu erkennen. Darauf folgt die Entsendung der Delegation zurück an ihren Auftraggeber: „Sagt dem Mann, der euch zu mir gesandt hat:“ (V. 15b); „Aber dem König von Juda, der euch gesandt hat, … sollt ihr sagen:“ (V. 18)

Im ersten Teil bestätigt Hulda, dass der König Josia die Worte des Buches richtig verstanden hat: Gott wird so handeln, wie es in diesem Buch geschrieben steht. Kein Wort des Buches wird Gott leer und kraftlos vergehen lassen. Die Katastrophe ist nicht zu verhindern. Die Hoffnung, durch die Umkehr des Josia könne die drohende Verwüstung ab gewendet werden, wird enttäuscht. Im zweiten Teil ihrer Rede macht Hulda deutlich, wie trotz dieser Gerichtsankündigung Aufbruch und Neuanfang möglich sind.

Hulda kündigt dem König Josia an, dass er das Unheil über Israel nicht mit ansehen muss. Erst mehrere Jahrzehnte nach seinem Tod wird Jerusalem der babylonischen Invasion zum Opfer fallen. Der Grund solcher „mildernden Umstände“ ist nicht Josias Reformeifer und gewalttätiges Vorgehen gegen die Götzendiener, wie es in 2 Kön 23 berichtet wird. Josia soll verschont  bleiben, weil er die Gerichtsworte des gefundenen Buches ernst nimmt und auf sich und seine Zeit bezieht. Er ist „im Herzen betroffen“, demütigt sich vor JHWH, zerreißt seine Kleider und weint. Josias Umkehr besteht darin, dass er inne hält und klagt. Er hört so, wie Israel es tun soll. Seine Reaktion zeigt eine Möglichkeit auf, wie Israel sich heilvoll mit seiner Geschichte, seinen Fehlern und verpassten Chancen auseinander setzen und den Weg der Gewaltverstrickung verlassen kann. Und „so habe ich's auch erhört, spricht JHWH.“ Gott hört und antwortet trotz des kommenden Gerichts auch weiterhin. Er hebt seinen Bund mit Israel nicht auf.

Darüber hinaus wird Josia ein friedliches Begräbnis zugesagt. Auch das gehört zu den Verfluchungen, die Israel angesagt werden: dass sie unbegraben bleiben und ihre Gräber geschändet werden. Josia wird die Katastrophe nicht selbst erleben und sein Grab verschont bleiben. Diese Zusage an Josia ist eine Hoffnung für Israel. Sein Grab wird kommende Generationen an die Umkehr und Bundestreue Josias erinnern. Es ruft ihnen ins Gedächtnis, dass es einmal anders war und somit auch wieder anders werden kann. So wird Josias Grab als ein Zeichen der Hoffnung an einem Neuanfang nach dem Untergang mitwirken.

Hulda kündigt den Untergang an – und verspricht zugleich die Bewahrung von Geschichte. In diesem Versprechen liegt die Hoffnung auf eine neue Zukunft. Obwohl Josias Umkehr nicht die drohende Katastrophe abwenden kann, ist sie doch nicht umsonst. Hulda lehrt Israel die Situation ernst zu nehmen, ohne dabei zu resignieren. Sie sagt das Ende des Staates Juda und die Zerstörung Jerusalems an. Zugleich versichert sie, dass Gott trotz seiner Gerichtsworte auf verantwortliches Denken und Handeln hört und antwortet. Die Klage des Josia über die Verfehlungen in der Geschichte bewertet Hulda als die Tat der Umkehr, die nicht sinnlos ist. So gibt sie Handlungsorientierung und macht deutlich, dass die Verantwortung der / des Einzelnen auch im Angesicht des unabwendbaren Unheils bestehen bleibt.


Für die Arbeit in der Gruppe

Erster Schritt

– Assoziationen zum Begriff „Prophetie“ sammeln und auf ein großes Blatt Papier schreiben; oder: eine „stumme Diskussion“ zum Begriff „Prophetie“
– Ergänzende Fragen:
Welche Propheten fallen Ihnen ein? Kennen Sie auch Prophetinnen? Gibt es Menschen der Gegenwart, die wir als Prophetinnen oder Propheten bezeichnen würden – und warum?
– Zusammenfassen und überleiten mit den Erläuterungen zu „Prophetie“ (siehe oben S. 6, Abs. „Schrift und Sprache).


Zweiter Schritt

– Einleitend die Situation, wie sie in 2 Kön 22,1-13 beschrieben wird, erzählen (siehe oben „Erzählrahmen“, S. 8f)
– 2 Kön 22,14-20 lesen und erläutern (siehe oben „Huldas Verkündigung“)
– Um das Zuhören zu erleichtern, können die Erläuterungen mit Hilfe einer sogenannten „Lernstraße“ sichtbar gemacht werden. Während der Erläuterung können Sie die einzelnen Punkte entweder mit verschieden farbigen Stiften auf ein großes Blatt schreiben oder, ähnlich dem unten dargestellten Beispiel, verschieden farbige Blätter vorbereiten und auf den Fußboden oder Tisch legen. (Siehe Arbeitsmaterial S. 12 / für  AbonnentInnen in ausreichender Größe unter www.ahzw.de / Service zum  Herunterladen vorbereitet)


Dritter Schritt

– Israel hat sich nicht nur auf die Schrift bezogen, sondern immer auch
Gott befragt, der durch Menschen zu ihnen sprach.
– Gespräch entweder mit der gesamten Gruppe oder in kleinen Gruppen von zwei bis vier Frauen zu der Frage: Fallen Ihnen Situationen ein, wo Gott durch einen Menschen zu Ihnen sprach? Welches prophetische Wort ist aus Ihrer Sicht heute notwendig?


Dagmar Althausen, Jg. 1959, war von 2002 bis 2007 Leitende Pfarrerin der Ev. Frauenhilfe in Deutschland e.V. (EFHiD).


Anmerkungen

1 Klara Butting, S. 195f
2 Irmtraud Fischer, S. 51


Verwendete Literatur

Klara Butting: Prophetinnen gefragt. Die Bedeutung der Prophetinnen im Kanon aus Tora und Prophetie, Wittingen (Erev-Rav) 2001
Irmtraud Fischer: Gotteskünderinnen. Zu einer geschlechterfairen Deutung des Phänomens der  Prophetie und der Prophetinnen in der Hebräischen Bibel, Stuttgart (W. Kohlhammer) 2002
Marie-Theres Wacker: Hulda – Prophetin vor dem Ende, in: Eva Renate Schmidt, Mieke Korenhof,
Renate Jost (Hrsg.): Feministisch gelesen, Stuttgart (Kreuz  Verlag) 1988, S. 91 ff.

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