Ausgabe 1 / 2017 Artikel von Christel Riemann-Hanewinckel

Demokratie ist widerstandsfähig

Ein Plädoyer für demokratische Wahlen, politische Beteiligung und fairen Streit

Von Christel Riemann-Hanewinckel

Ich hatte keine Wahl – bis 1990! Ich erlebte die DDR von ihrer Gründung 1949 bis zu ihrer Auflösung durch den Einigungsvertag 1990. Die Parteien der „Nationalen Front“ und „Die Diktatur des Proletariats“ steuerten alle gesellschaftlichen Aktivitäten. Nichtregierungsorganisationen, wie Vereine und Verbände, waren nur im Rahmen der Parteien der Nationalen Front zugelassen. Jedes andere Engagement wurde bespitzelt, angezeigt und verboten.
Trotzdem wurde die Kraft derer immer stärker, die sich für Veränderungen in der Bildung oder der Wirtschaft, für ökologisches Handeln, für Menschenrechte und für Demokratie einsetzten.

In den letzten zehn Jahren der DDR, die mühsam, bewegt und dann befreiend waren, gab es Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse, der sich immer stärker in verschiedenen Gruppen organisierte. Die Themen des konziliaren Prozesses: Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, wurden durch die Friedensbewegung seit 1981 auf die Straßen getragen. In Halle/Saale engagierten sich in diesen Jahren die „Frauen für den Frieden“, die „Christlichen Mediziner in sozialer Verantwortung“, die „Ökologische Arbeitsgruppe“. Alle hatten ein Ziel: der SED und den Blockparteien entgegenzutreten, Demokratie zu initiieren, auf demokratischem Weg Parteien zu gründen und wirkliche, d.h. freie und geheime Wahlen und keinen ideologischen Wahl­zwang zu erreichen.

Den Ruf „Wir sind das Volk“ verstanden die meisten Demonstrierenden, wahrscheinlich auch viele, die zusahen und zuhörten, als Wunsch und auch als Absicht, das Leben, die Politik und die Verhältnisse in der DDR umzugestalten. Wir ahnten damals nicht, dass der Gang auf die Straße der Beginn des Weges in die deutsche Einheit sein wird. Umso begeisterter arbeiteten viele nach dem Fall der Mauer als Zivilgesellschaft in Vereinen, Parteien, Kirchen und Bürgerinitiativen mit.

Wahlpflicht gegen Wahlmüdigkeit?

Wir leben in einem Land, das sich vor 67 bzw. vor 26 Jahren für die repräsentative Demokratie entschieden hat. In Initiativen, Organisationen und den Parteien setzen sich Menschen ein für Solidarität, Menschenrechte, das friedliche Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen in unserem Land. Wir sind eine weltoffene Gesellschaft, spendenbereit und engagiert bei Katastrophen im In- und Ausland, nehmen Geflüchtete auf, sind stolz auf unseren Sozialstaat, wenn wir ihn mit anderen Ländern vergleichen. Menschen können sich für ihre Ideen und Überzeugungen zusammentun. Neue Parteien wurden und werden gegründet, nach demokratischen Prinzipien. Aber immer mehr entscheiden sich nicht für das Land, in dem und von dem sie leben: Sie nutzen ihr Wahlrecht nicht!

Diese Entscheidung kann ich nicht nachvollziehen! Die „Ossis“ sind zu DDR Zeiten zu 99,89% wählen gegangen. Die Auszählungen standen vorher schon fest, sie waren manipuliert! Die Beteiligung bei Bundestagswahlen schwankt zwischen 78,5% 1949 und 71,5% 2013. Die Landtagswahlen scheinen den Wählerinnen und Wählern weniger wichtig zu sein, in Sachsen-Anhalt waren es 1990 65,1% und 2016 nur noch 61,1%. Für oder gegen Europa gaben 40?% ihre Stimme ab. Die Kommunalwahlen stehen ganz am Ende der Skala: die Teilnahme bewegt sich zwischen 30 und 40% und an Stichwahlen für die Spitzenperson im Rathaus liegt teilweise bei 20%! Eigentlich müsste die Wahlbeteiligung bei Kommunal- bzw. OB Wahlen doch fast 100% ausmachen! Da geht es um die Themen und Probleme vor „meiner Haustür“. Die Stadt- und Gemeinderäte sind die Nachbarin oder der Nachbar, die Vertretungen von wichtigen kommunalen Initiativen!

Immer wieder wird die Frage gestellt, ob eine Wahlpflicht die Alternative ist. Wenn ich enttäuscht bin von der „Wahlmüdigkeit“ wünsche ich auch andere Möglichkeiten. Doch im Grundgesetz Artikel 38 steht: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ Fairer und klarer können die Bedingungen für Wahlen eigentlich nicht sein.

Politische Arbeit und Beteiligung

Dann stellt sich die Frage nach den Angeboten: Treffen die Parteiprogramme die Interessen und Bedürfnisse des Volkes? Die Angebote sind bei jeder Wahl ob kommunal, landes- oder bundes­po­litisch vielfältig, die Forderungen auch. Parteienstreit ist nicht beliebt, doch Auseinandersetzungen, fairer Streit und ­Alternativen müssen sein, damit die Unterschiede deutlich werden, und eine echte Wahl möglich ist. Außerdem gibt es Betei­ligungsangebote und Mitsprachemöglichkeiten inzwischen von verschiedenen Parteien bei der Erarbeitung von Parteiprogrammen. Urwahlen von Spitzenkandidaten und Dialoge zu Themen an verschiedenen Orten in Deutschland haben mehrere Parteien in den vergangenen Jahren schon angeboten. Die Parteiorganisationen vor Ort haben sich geöffnet für Nichtparteimitglieder. Verbände und Vereine, Kirchengemeinden, Schulen ermöglichen Diskussions- und Wahlveranstaltungen. Alle demokratischen Parteien in Deutschland laden in ihre Stiftungen (Adenauer, Böll, Ebert, Luxemburg, Naumann, Seidel) zu In­formationen und Debatten innen- und ­außenpolitischer Fragen. Politikerinnen und Politiker veranstalten Podien und Foren. In Bürgersprechstunden kann Mann oder Frau für persönliche Probleme Hinweise und Rat bekommen.

In meiner Zeit als Abgeordnete waren die Bürgersprechstunde und die Zusammenarbeit mit Initiativen und Verbänden, Gewerkschaften und Betrieben immer Schwerpunkte meiner Arbeit im Wahlkreis. Die Wohlfahrtsverbände, Seniorenvertretungen, Jugendclubs, Kirchen, Gemeindegruppen, Altenheime, Kitas, Schulklassen wollten nicht nur die Abgeordnete persönlich kennenlernen, sie wollten vor allem wissen, wie die politische Arbeit funktioniert und wie sie ihren Anliegen Gehör verschaffen können. Ein besonders wirksames Recht der Einzelnen ist das Petitionsrecht. Im Grundgesetz in Artikel 17 steht: „Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.“ Das Recht sich mit einer Petition an den Deutschen Bundestag zu wenden, hat jede in Deutschland lebende Person oder Gruppe. Sie sollte schriftlich sein, versehen mit Namen und Adresse. Petitionen können eine direkte Wirkung auf Gestaltung von Gesetzen oder deren Änderung haben. Eine Vielzahl von Petitionen hat z.B. dafür gesorgt, dass das Rentenüberleitungsgesetz mehrfach novelliert werden musste. Auch konkrete Hilfen für Probleme Einzelner werden im Petitionsausschuss verhandelt.

Demokratie ist bewegend und auch anstrengend für alle Beteiligten, für die, die sich engagieren in Bürgerinitiativen oder Parteien genauso wie für die Wählerinnen und Wähler, die sich informieren müssen, um sich entscheiden zu können.

Demokratie verträgt keine Lügen

Die parlamentarische Demokratie ist vor knapp 100 Jahren in Deutschland erkämpft worden, ebenso wie das allgemeine und freie Wahlrecht für Frauen und Männer. Der Nationalsozialismus hatte die Demokratie eingesperrt. Nach 1945 konnte sie durch die Hilfe anderer demokratischer Länder neu aufgebaut werden. Mit dem Grundgesetz wurde am 23. Mai 1949 der Grundstein für eine demokratische und soziale Gesellschaftsordnung gelegt. Auch die DDR hatte mit ihrer ersten Verfassung, die am 7. Oktober 1949 beschlossen wurde, in Absatz B „Inhalt und Grenzen der Staatsgewalt“ in 13 Artikeln die Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat festgeschrieben. Mit der Verfassungsänderung am 6. April 1968 wurden die persönlichen Rechte der Staatsdoktrin des Sozialismus untergeordnet.

Unveräußerliche Werte sind die Grundrechte für jede und jeden Einzelnen. Diese Rechte hat jeder in Deutschland lebende Mensch dem Staat gegenüber. Sie gelten für alle unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Bildung, Alter, sexueller Orientierung, sozialem Status. Die Würde des Menschen, die Freiheit der Person, die Freiheit des Bekenntnisses und des Glaubens sind als unveränderliche Werte unseres Gemeinwesens festgeschrieben. Werden sie durch Gesetze oder das Handeln des Staates verletzt, können sie eingeklagt werden. Viele Urteile des Bundesverfassungsgerichtes belegen das. Die Rechte zu verwirklichen, sie erfahrbar und erlebbar zu machen, ist eine fortwährende Aufgabe, die nur gemeinsam zu lösen ist.

Demokratie ist widerstandsfähig! Aber: sie verträgt keine Gewalt, weder mit Worten noch mit Taten, sie verträgt keine rassistischen Parolen, sie verträgt keinerlei Diskriminierung oder Diffamierung, sie verträgt keine Ausgrenzung von Menschen, sie verträgt keine Lügen. Davor müssen wir sie schützen.

„Du hast die Wahl“ nur in der Demokratie. Damit das möglich ist, braucht ­Demokratie Offenheit, Verschiedenheit, Vielfalt. Demokratie braucht die Demut derer, die bei einer Wahl die Minderheit stellen. Dazu gehört Gesicht zeigen und Respekt vor anderen Meinungen, der Wille und die Fähigkeit Kompromisse zu schließen; allerdings sollten das fleißige, erarbeitete und keine faulen Kompromisse sein! Die Gleichheit vor dem Gesetz ist garantiert, nicht nur durch das Grundgesetz, sondern z. B. auch durch Europäisches Recht und durch die ratifizierten Konventionen der Kinderrechte, Frauenrechte und Behindertenrechte der Vereinten Nationen. In der politischen Realität Deutschlands gibt es noch immer Ungerechtigkeiten.Mit meiner Wahl kann ich die Kandi­datin oder den Kandidaten und eine Partei beauftragen, die Demokratie in Deutsch­land, Europa und weltweit stark zu machen.

Christel Riemann-Hanewinckel, geb 1947 ist Pfarrerin i.R. und Parlamentarische Staatssekretärin a.D. Sie war Mitbegründerin der SPD in Halle/Saale im Oktober 1989 und Moderatorin des Runden Tisches der Stadt Halle. Sie war von 1990 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages.

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