Ausgabe 2 / 2019 Bibelarbeit von Geertje Bolle

Den Fall wagen

Vertrauen und Heilung in der Hebäischen Bibel und in der Praxis der Klinikseelsorge

Von Geertje Bolle

Kennen Sie diese Übung? Jeweils zwei Personen stellen sich in einem Abstand von circa 50 cm hintereinander – je nachdem, wie viel sie sich zutrauen. Die vordere lässt sich nach hinten fallen, die andere fängt sie auf. Wer die Übung kennt, mag sich kurz erinnern an das Gefühl beim Zurückfallen, beim Loslassen des Sich-selber-Haltens. Wer sie nicht kennt, mag sie vielleicht einmal ausprobieren.

Menschen können sich unterschiedlich fallen lassen. Die einen lassen sich locker darauf ein, vergrößern mit Lust den Abstand. Die anderen drehen sich zaghaft erst noch einmal um und sichern sich ab, ob der oder die andere wirklich da steht, um dann, mit möglichst engem Abstand, ein paar Zentimeter Fall zu wagen. Kann ich der anderen trauen? Kann ich es für einen Moment aufgeben, mich selbst zu halten? Mich dem Gehaltenwerden durch eine andere, einen anderen anvertrauen? Wir Menschen sind da sehr unterschiedlich aufgestellt in der Fähigkeit, einander zu trauen und uns gehalten zu wissen in dieser Welt.
Glauben und Vertrauen in der Hebräischen Bibel
Wenn wir heute von Glauben sprechen, verlieren wir schnell den biblischen roten Faden. Oft sind das Glaubensbekenntnis und dogmatische Sätze unsere ersten Assoziationen. Besonders in der Hebräischen Bibel wird Glauben anders gefüllt. Eines der großen Grundthemen ist es in der Tat: Gottvertrauen und Zuversicht, Glaube und Treue. Einander trauen, Gott trauen, mir selbst trauen, einander glauben, treu sein, Gott glauben, mir selbst glauben. Und zugleich auch die wunderbare Verheißung, dass Gott an uns festhält, uns traut, uns etwas zutraut, an uns glaubt. Zwei Seiten derselben Medaille: GOTT und IHRE Menschen zusammen auf dem Weg.

Die Hebräische Bibel kennt einige Worte für das, was wir mit „glauben, vertrauen“ übersetzen. Ich finde die Übersetzung vertrauen oft hilfreicher als glauben. Im Deutschen assoziieren wir mit glauben oft das Für–wahr-Halten von Sachverhalten; das kommt in der Hebräischen Bibel so kaum vor. Und: Gott vertrauen – einander vertrauen, das ist biblisch kaum voneinander zu trennen. Unsere religiöse Sprache „ich glaube an Gott“ macht das biblische Glaubensverständnis enger. Und in der Enge zeigt sich oft Angst. Und Angst macht uns unfrei.

Die beiden häufigsten und wichtigsten Begriffe in der Hebräischen Bibel sind aman und batach. Aman ist die Wurzel, die wir für glauben und vertrauen wie kaum eine andere kennen, sie steckt nämlich in unserem „Amen“ drin. Amen bedeutet: So sei es. Fest sei es. Aman heißt: fest, sicher, zuverlässig sein. Und in den verschiedenen hebräischen Wortkonstruktionen Bestand haben, trauen, vertrauen. Die Wurzel batach wird meist mit vertrauen übersetzt, trauen, sich sicher fühlen. Interessant, dass in diesen beiden Wörtern „das Sichere“ enthalten ist. Dabei ist Vertrauen nie eine machbare, verfügbare Sicherheit, sondern ein Beziehungsgeschehen, ein „sich aneinander halten“, etwas, das wir aktiv erringen im je gegenwärtigen Lebensprozess.1

Wenn ihr nicht beständig vertraut, werdet ihr keinen Bestand haben [ Jes 7,9 ] – hier in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache – ist ein biblischer Vers mit einer Kernaussage zum Glauben: Er bringt den Zusammenhang von Glauben und Rettung, von Vertrauen und Lebensperspektive auf den Punkt. Luther (2017) übersetzt: Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht. Wie die Bibel in gerechter Sprache versuchen auch Martin Buber und Franz Rosenzweig (1958) das hebräische Wortspiel wiederzugeben: Vertraut ihr nicht, bleibt ihr nicht betreut. Beide Verben sind Formen von eben der Wurzel aman, in der das Sich-Sichern und Sichersein steckt: Wenn ihr euch nicht festmacht, werdet ihr keine Festigkeit behalten.

Im 8. Jahrhundert v.Chr. ist Jerusalem von den Assyrern belagert. Ahas, der König von Juda, nimmt die militärische Bedrohung wahr. Die Könige der benachbarten Länder planen den Aufstand gegen die Assyrer, und Ahas gerät unter Druck mitzumachen. In diese Situation hinein kündigt der Prophet Jesaja das drohende Gericht an. Er will Ahas dazu bewegen, gegen militärisches Tun Gottvertrauen zu setzen – eine andere Lebensbasis als militärisch gesicherter Friede. Und damit verbunden: geerdetes Menschenvertrauen, das Frieden mit den anderen sucht.

Von Klara Butting habe ich gelernt, welch zentrale Bedeutung das „sicher wohnen“ in den biblischen Schriften hat und wie eng das zum Verständnis von „vertrauen können“ dazu gehört.2 Von Anfang an zieht sich das durch die biblischen Geschichten:Da sprach Gott: Das Wasser unter dem Himmel soll an einem Ort gesammelt werden, so dass das Trockene sichtbar wird. So geschah es. Gott nannte das Trockene Erde. [ 1.Mose 1,9.10a ] Von Anfang an trockenes Land für uns Menschen, auf dem wir gehen und stehen und leben können – miteinander, einander Halt geben und Schutz. Erde. Grund. Boden. Boden unter den Füßen. Auf dem Weg der Befreiung ins verheißene Land, auf der Flucht durch das Schilfmeer – mitten im Wasser dann auch: das Trockene. Ein gangbarer Weg, ein rettender Weg.

In den Psalmen begegnet uns das Vertrauen, batach, in der Bedeutung von sich sichern an geradezu als „Grundmelodie des Psalmenbuches“: Sichert euch an der EWIGEN. [ Psalm 4,6 ]3  Vertrauen als ein Beziehungsgeschehen. Vertrauen ist geradezu das Gegenteil von Sicherheit haben. Vertrauen ist ein aktiver Prozess des Sich-Sicherns an Gott und Mensch, ist ein Sich-Einlassen  und im Prozess dieses Sich-Einlassens ein Sicher-Werden.

Glauben und Vertrauen und Heilwerden. Aus der Praxis der Klinikseelsorge
Wenn Vertrauen sich so erdet und zentral ist für eine Lebensperspektive, dann sicher auch dort, wo wir um Heilsames und Heil ringen.

Hans Klingenberg4 ist ein 85jähriger Mann, den so mancher Schicksalsschlag getroffen hat: die psychische Erkrankung seiner Frau, die zu einer mehrjährigen Pflegebedürftigkeit führte; eine eigene Krebserkrankung; der Tod der Frau; das erste Rezidiv; Metastasen hier und dort; ständige Klinikaufenthalte. Hans Klingenberg ist all dem zum Trotz ein fröhlicher Mensch geblieben, in Beziehung zur Welt um ihn herum, Gott und den Menschen treu. Er strahlt Vertrauen ins Leben aus und Zuversicht, dass Gott an der Menschen Seite ist. Er hadert nicht mit seinem Schicksal. Seine Trauer um das, was verloren geht, wandelt sich immer wieder in Freude über das, was möglich ist. Als seine Frau bettlägerig war, konnte er strahlend von kleinen Situationen erzählen, die ein Lächeln auf ihre Lippen brachten, sich freuen, wenn ihr das Apfelmus geschmeckt hatte. Ja, ich glaube, dass seine Lebenshaltung, seine Treue zu Gott und den Menschen zu seinem „Heil“ beiträgt, dass sie ein wesentlicher Grund dafür ist, dass er trotz allem lebendig unterwegs ist. Glaube, der trägt; Vertrauen, das Anteil hat an der Heilung: Hans Klingenberg ist alles andere als körperlich gesund, sehr wohl aber seelisch heil.

In meiner Seelsorgepraxis in der Psychiatrie begleite ich Frau Karlau seit vielen Jahren in ihren Klinikaufenthalten. Schwere Depression und Angsterkrankung, dazu eine diagnostizierte „Persönlichkeitsstörung“ – eine Kindheit, die ihr nie ein Gefühl von Gehaltensein vermittelt hat. Glaube ist ihr fremd, die Sehnsucht nach sinnhaftem Leben groß, die Berührungsaufnahme zaghaft. Die moderne Medizin greift nicht, Frau Karlau glaubt nicht, dass Medikamente oder Therapien bei ihr noch etwas bewirken können. Sie ist misstrauisch gegenüber Ärzt*innen, immer wieder stockt die Behandlung. Als Seelsorgerin bin ich in Gefahr, dass mir selbst das Vertrauen auf Heilung wegrutscht – und doch spüre ich, wie nötig es ist, mit ihr oder stellvertretend für sie daran festzuhalten, dass wir das Nadelöhr zu ihrem Heilwerden finden. Immer wieder versuche ich, durch den dicken Vorhang ihrer Krankheit und ihres Misstrauens der Welt gegenüber einen Zipfel ihres Personseins zu erreichen. Wenn ich ihr die Hände zum Segnen auflege, spüre ich, wie sich ihre Erstarrung einen Millimeter löst. Ich bin dankbar, dass es eine Musiktherapeutin gibt, die sie erreichen kann, und dass ihre Mimik weniger eng ist, wenn sie von der Stunde erzählt.

Seit einigen Monaten ist Frau Rand in unserer Klinik. Sie ist in einer Sekte aufgewachsen, hat die Angst vor einem strafenden Gott sozusagen mit der Muttermilch eingeflößt bekommen. Frau Rand leidet unter einer schweren Angststörung und kommt zu mir, weil sie Nähe zu Gott aufbauen will. Es ist ein schwieriger Prozess, weil genau die gefühlte Nähe die bedrohlichen Bilder von Gott in ihr hervorruft. Ich ermutige sie, in Distanz zu gehen zu dem, was sie klein macht und was sich manches Mal als Glaube verkleidet. Ich erzähle vom Gott der Bibel, der uns traut und uns etwas zutraut. Inzwischen kann sie ab und zu etwas aufatmen und bekommt eine Ahnung von dem, was Gottvertrauen auch bedeuten kann.

Frau Gutjahr nimmt seit Beginn ihres Klinikaufenthaltes vor sechs Wochen am Gottesdienst teil, kommt wöchentlich zur Seelsorge. Sie hat Glaube und Gemeinde immer als Stärkung erfahren, erlebt in ihrer Depression aber auch das Schweigen Gottes. Und doch ist da die Erinnerung an das Gehaltensein. Und das Erleben in der Kapelle, beim Gottesdienst und beim Gespräch, bei Gebet und Segen stärkt sie, lässt sie ihren Heilungsweg gehen.

Woher kommt Rettung? Welche Rolle spielen Glauben und Vertrauen für einen gelingenden Heilungsweg? In welchen Situationen hilft Glaube, wann schadet er? Die Behauptung, dass Glaube und Religiosität grundsätzlich beim Heilungsgeschehen helfen, ist falsch.5  Wie oft habe ich Menschen erlebt, denen ein magisches Verständnis von Heilungserzählungen aus der Bibel, von sakramentalem Geschehen, von Gott gerade überhaupt nicht hilft. Wo sich Glaube aus einer Norm, aus einem Über-Ich speist, wo ein Bild vom strafenden Gott gar in ein Leben in Angst führt oder das eigene Gehorchen in das Bemühen, Sicherheit selbst zu schaffen, verfügbar zu machen. Solange Menschen bezüglich einer medizinischen oder therapeutischen Maßnahme hadern, solange sie dem von Ärzt*innen geplanten Weg nicht innerlich zustimmen können, ist es mühsam. Wo dieses „Ja“ da ist, wo die Situation, die Bedingungen, der Behandlungsweg mitgegangen werden, wo Menschen sich auf diesen Weg einlassen, da kann Heilung oft leichter gelingen. Nach meiner Erfahrung schadet Glaube immer da, wo er eng daherkommt, wo er Ausdruck von Angst ist, die sehr mächtig ist.

Rettung fällt nicht vom Himmel. Ich kann mich auch nicht selbst retten. Und niemand kann mich retten. Die einzelne muss suchen nach einem Weg, da ihr Fuß gehen kann. Muss lernen, ihren einen Fuß in die Luft zu heben, während sie mit dem anderen sich gehalten weiß, und so über die Brücke des Vertrauens in Bewegung kommen und sich aktiv an Gott und Menschen sichern. Wenn ihr euch festmacht, werdet ihr Festigkeit erhalten. Vertraut, und ihr seid betreut. Erfahrt, dass Menschen und Gott euch treu bleiben.

Hebräische Bibel und Seelsorge-Praxis beschreiben einen ähnlichen Weg. Vertrauen im Sinne von sich sichern an anderen, sich sichern an Gott geschieht da, wo ich mich einlasse, wo ich einsteige, wo ich mit einem Ja unterwegs bin, wo ich mich an eigene Halt-Erfahrungen erinnere, wo ich Gottes Treue in der Geschichte vergegenwärtige, wo ich diesen existenziellen Akt der Entscheidung vollziehe. Wo das gelingt, wo Menschen sich einander anvertrauen, einander vertrauen, daran festhalten, dass Gott uns etwas zutraut und uns treu ist: Da eröffnet sich eine Perspektive für Heilsames. Freilich ganz sicher nicht immer mit Leichtigkeit oder Glück oder Gesundheit.

Die biblische Verheißung ist das sichere Wohnen für uns alle. Unsere gesellschaftliche Wirklichkeit ist eine andere. Aber uns aneinander zu sichern ist der Weg, den wir im Miteinander gehen können. Wir werden damit nicht „automatisch“ am Ende alle Boden unter den Füßen haben, wohl aber eine gewisse Hoffnung und eine hoffende Gewissheit.

Anmerkungen

1) Vgl. z.B. Rainer Kessler, Vertrauen in der Hebräischen Bibel, in: Junge Kirche 2/2019, Focus: Vertrauen, S. 1-4
2) Klara Butting, „Wenn wir zusammen gehen…“. Lesebuch Frauenspiritualität, Freiburg im Breisgau 2015, S. 33
3) Klara Butting, Sicherheit als „Sicheres Wohnen“: Die Friedensvision des biblischen Pilgerweges der Gerechtigkeit und des Friedens, Vortrag auf der Konferenz für Friedensarbeit in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Akademie Tutzing, 25.1.2016
4)Die Namen der genannten Personen sind ebenso wie die beschriebenen Lebensgeschichten so verändert, dass ihre Identität geschützt bleibt.

5)Es gibt dazu in den vergangenen Jahrzenten diverse Untersuchungen und Studien; vgl. z.B. Utsch/Bonelli/Pfeifer: Psychotherapie und Spiritualität, Heidelberg 2014

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit 60-90 min
Vertrauensübung
Machen Sie die Übung (siehe oben, erster Absatz des Beitrags) in der Gruppe mit denen, die sich beteiligen wollen. Teilen Sie dann einander kurz mit, wie Sie sich dabei gefühlt haben.  [ circa 20 Minuten ]

„Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug.“ Diesen Satz stellte Hilde Domin 1959 ihrem ersten Gedichtband „Nur eine Rose als Stütze“ voran. Er bringt das Phänomen Vertrauen wunderbar auf den Punkt: Ich bin gerade nicht in der Passivität. „Ich setzte den Fuß“ – das setzt eine Entscheidung voraus: die Entscheidung, den Fuß anzuheben und loszugehen.

Austausch zu zweit oder dritt
Was gibt mir Halt im Leben? Was hilft mir, damit ich mich gehalten fühle? An wem sichere ich mich? Wem vertraue ich? Worauf vertraue ich?  [ circa 15 Minuten ]

Gemeinsam lesen
Lesen Sie den ersten Teil der Bibelarbeit „Glauben und Vertrauen in der Hebräischen Bibel“ gemeinsam. Tauschen Sie sich darüber aus, welche Gedanken Ihnen dazu gerade durch den Kopf gehen.  [ circa 30 Minuten ]

Lesen Sie dann den zweiten Teil „Glauben und Vertrauen und Heilwerden. Aus der Praxis der Klinikseelsorge“. Kommen Sie ins Gespräch: Haben Sie das selbst schon einmal erlebt, dass Sie in einer schweren Krankheit oder einer durch einen Schicksalsschlag schier aussichtslos erscheinenden Lebenssituation Vertrauen gewagt und dann erfahren haben, dass „Menschen und Gott treu bleiben“?  [ circa 30 Minuten ]

Lied
           Vertraut den neuen Wegen

EG 395

Geertje Bolle ist Pfarrerin und Klinikseelsorgerin, Existenzanalytikerin und Logotherapeutin. Sie lebt in der Kommunität LechLecha im nördlichen Brandenburg. www.geertjebolle.de

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