Wer vom Meer aus den Fischerort Andenes ansteuert, sieht zuerst die gigantische Schwanzflosse von „The Whale“.1 300 km nördlich vom Polarkreis, auf der norwegischen Inselgruppe Vesterålen, soll das sogenannte Besucherzentrum ab 2026 die Tourist*innen anziehen. Sie kommen heute schon von weither, um Pottwale, Orcas, Grindwale und andere Meeressäuger hier in einem ihrer letzten Paradiese zu beobachten. „The Whale“ soll dieses Erlebnis noch steigern. Mit seinem geschwungenen Dach erinnert es an einen gestrandeten Wal, die Besucher*innen können auf ihm herumspazieren und später drinnen, hinter einer dicken Glasfront, die Mitternachtssonne oder die Polarlichter bestaunen und alles über diese faszinierenden Lebewesen erfahren.
Die neue arktische Attraktion stammt aus dem Studio von Dorte Mandrup, die mit ihrem Entwurf 2019 den internationalen Wettbewerb für dieses Projekt gewann. Die 1961 geborene Architektin aus Dänemark nimmt für sich in Anspruch, durch die Verbindung von Handwerkskunst und Kreativität Gesamtkunstwerke zu schaffen; und sie spielt längst in der obersten Liga ihrer Zunft mit.
Den Pritzker-Preis, so etwas wie der Nobelpreis für Architektur, hat sie bislang noch nicht bekommen. Die mit 100.000 US-Dollar dotierte Auszeichnung ging 2004 zum ersten Mal an eine Frau: Zaha Hadid. Die irakisch-stämmige Britin (1950 – 2016) gilt als Revolutionärin ihres Berufstandes. Sie übersetzte „fließende Linien in rasante Räume“. Ihre „so andersartigen, organischen Entwürfe wurden zu gebauten, realen Visionen“, schwärmte jüngst ein Beitrag im AD (Architectural Digest) Magazin. Das hat Hadid unter anderem den Titel „Königin der Kurven“ eingetragen. Ihre markante Handschrift hat sie an Hunderten von Orten überall auf der Welt hinterlassen, zum Beispiel auch in Wolfsburg. Dort wurde 2005 das Phaeno, ein experimentelles Wissenschaftsmuseum, eröffnet.2 Mit seinen scharfen Kanten, aber auch Kurven, ist das Gebäude an sich schon ein Phänomen. Auch technisch stellte es seine Erbauer*innen vor enorme, schwer lösbare Herausforderungen.
Dabei war Zara Hadid alles andere als ein Shooting Star. Ihre eigenwilligen Projekte waren den Bauherren oft zu kühn, viele ihrer Entwürfe wurden nie ausgeführt. Ihren ersten konnte sie 1993, da war sie bereits 43, realisieren: das Feuerwehrhaus des vitra-Werks in Weil am Rhein. Hadid hat immer wieder die Situation von Frauen in der Architekten-Welt thematisiert. In einem Interview mit der Zeitschrift Forbes sagte sie einmal: „Weil ich eine Frau bin, dachten die Leute, dass ich ‚softe‘ Architektur mache, […] daher konnten sie auch keine Beziehung zu meinem Werk herstellen. Wahrscheinlich haben sie gedacht, ich sollte lieber Innenarchitektur machen.“ Das alles habe sie aber wenig beeindruckt, stattdessen habe sie sich immer bemüht, „der Konvention zu trotzen“. Hadid folgten bis heute fünf weitere Pritzker-Preisträgerinnen: 6 aus 45. Das macht etwa 13 Prozent.
In der Architektur erging – und ergeht – es Frauen nicht anders als in anderen technischen beziehungsweise akademischen Berufen: In Deutschland konnten sie erst nach 1900 und zunächst nur als Gasthörerinnen Kunstgewerbe- oder Baugewerkschulen besuchen. Zugang zu technischen Hochschulen erlangten sie erst ab 1909. Männer fürchteten die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt – und bedienten die bekannten Vorurteile: Man traute Frauen weder zu, ein Budget verwalten noch eine Baustelle überwachen, geschweige denn dreidimensional denken zu können. Selbst das Bauhaus, das Zentrum der Moderne des 20. Jahrhunderts für Architektur, Kunst und Design, soll Studentinnen zuerst von einem Architekturstudium abgeraten haben; es gäbe für sie keinen Arbeitsmarkt. Dem Gleichheitsprinzip, das das Bauhaus proklamierte, stand in der Praxis eine klare Geschlechterhierarchie gegenüber. Das Künstler-Subjekt war männlich. Die Frauen, mit weniger als einem Drittel deutlich in der Minderheit, studierten vor allem in der Sparte des Kunsthandwerks. Später, nach 1927, wurden auch Architektinnen ausgebildet, aber sie blieben wenig sichtbar und bekannt.
Mit dem Bauhaus wird die österreichische Architektin Margarete Schütte-Lihotzky in Verbindung gebracht. Die Schöpferin der „Frankfurter Küche“ war eine der ersten Frauen, die an der Kunstgewerbeschule Wien Architektur studierten. Berühmt geworden ist sie mit ihrer Bausatz-Küche aus dem Jahr 1926, die als die Vorläuferin der modernen Einbauküchen gilt. Entworfen wurde sie für die beengten Arbeiterwohnungen der Weimarer Republik: Auf sechseinhalb Quadratmetern sollte die Hausfrau effizient und auf technisch neustem Niveau wirtschaften. Die Küche wurde zehntausendfach verkauft.3 Margarete Schütte-Lihotzky war zwar nie selbst am Bauhaus, aber sie war geprägt vom „Neuen Bauen“, einer deutschen Architektur- und Städtebaubewegung, die vor dem Ersten Weltkrieg begann und in der Zeit der Weimarer Republik endete. Ihre Lebensaufgabe war der soziale Wohnungsbau. Sie entwarf Siedlungstypen für Kleingartenhäuschen, Kindergärten und Modelle für Sozialwohnungen. „Mich hat das ungeheuer fasziniert, dass man sich auf dem Papier etwas ausdenkt, was dann Einfluss hat auf das Leben der Menschen, ob sie froh und glücklich sind, ob sie sich wohlfühlen in ihren vier Wänden oder unglücklich“, beschrieb sie einmal ihre Eindrücke aus der Architektur-Klasse. 1926 holte sie Ernst May, Leiter des Hochbauamtes, nach Frankfurt am Main. Sie war die erste Architektin dort. Mit May ging sie 1930 auch in die Sowjetunion, um Industriestädte zu planen.
Und heute? „Architektinnen brauchen die Unterstützung von Frauen, die es bereits geschafft haben“, sagte Zaha Hadid, nachdem ihr 2012 der Jane Drew Preis, eine Auszeichnung für herausragende Architektinnen, verliehen wurde. Es gebe heute zwar mehr etablierte und respektierte Architektinnen als jemals zuvor. „Das bedeutet aber noch lange nicht, dass es einfach geworden ist.“ Denn obwohl der Anteil der weiblichen Architekt*innen und Stadtplaner*innen in den vergangenen Jahrzehnten stetig gestiegen ist, stellen Männer rund zwei Drittel der Erwerbstätigen in dieser Branche – im auffälligen Gegensatz zur wachsenden Beliebtheit des Studiums bei Frauen. Im Wintersemester 2021/22 zählte das Bundesamt für Statistik in diesem Fach 23.585 Studentinnen und 17.985 Studenten. Mehr Frauen als Männer machen ihren Abschluss. Auf dem Weg in den Beruf und weiter hinauf in Leitungspositionen aber gehen viele verloren. Weltweit werden nur fünf Prozent der Architektur-Büros von Frauen geführt, auch die Auftraggeber sind fast nur Männer. Warum das so ist, und wie es anders sein könnte, das wird in der 3sat-Kulturdoku „Frauen bauen“ aus dem Jahr 2021 anschaulich beschrieben. Elf Architektinnen aus drei Generationen geben Auskunft über ihren Beruf. Es geht um Rollenverständnis und gesellschaftliche Verantwortung, um Vereinbarkeit und Chancen(un)gleichheit, um Führung und Autorität, um Kreativität – und um den fast ungebrochenen Genie-Kult, der die hohen Hürden für Frauen automatisch eingebaut hat.
Dieser Mythos des großen Architekten und Schöpfers als Heldenfigur war in den 1980er Jahren auch an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) verbreitet, als Regula Lüscher dort studierte. Von 2007 bis 2021 war die Architektin Stadtbaudirektorin und Staatssekretärin beim Berliner Senat und verantwortete viele Entscheidungen im Bauwesen der Hauptstadt. Diesem Beruf, so Lüscher, widme man sein ganzes Leben, arbeite rund um die Uhr. Das sei ein weiterer Grund für den Ausschluss von Frauen. Denn die Unvereinbarkeit des Berufs mit anderen Lebensbedürfnissen und -notwenigkeiten, zum Beispiel Familie, ist ein Systemfehler. 40 Prozent der Architektinnen arbeiten in Teilzeit, bei den Männern sind es zwölf Prozent.
Der Beruf ist sehr „deadline-orientiert“, erklärt Helga Blocksdorf, die ein eigenes Büro in Berlin führt und Professorin für Baukonstruktion an der TU Braunschweig ist. Das gelte vor allem während der Beteiligung an Wettbewerben. Sie seien das Nadelöhr, um die Chance für einen Auftrag zu bekommen, stellt Ulrike Eichhorn fest. Die Architektin und Architekturvermittlerin hat jahrelang zur ungleichen Lebens- und Arbeitssituation von Architektinnen geforscht und publiziert. Gerade für kleine Büros sei es fast unmöglich, bei Wettbewerben mitzumachen. Denn erstens müssten die Teilnehmenden nachweisen, dass sie das, wofür sie sich bewerben, auch schon gebaut haben. Außerdem müssten sie viel Geld mitbringen. „Die Vielfältigkeit und die Phantasie fällt für mich dabei hinten runter,“ sagt Eichhorn und fordert radikales Umdenken; sie wünscht sich Wettbewerbe, „die zeigen, wie vielfältig die Welt sein kann, wenn verschiedene Menschen sie planen.“
In der Ausschreibung öffentlicher Aufträge für alle sieht auch Blocksdorf eine große Chance für Frauen – und dafür, dass sich das Stadtbild diversifiziert. Regula Lüscher aber weiß aus Erfahrung: „Es ist so, dass vielleicht nicht das architektonisch genialste Projekt gewinnt, aber für diejenigen, die es umsetzen müssen, ist es die beste Wahl.“ Denn beim Bauen geht es meistens um sehr viel Geld, und die Verantwortung ist auch für die Architektin sehr hoch. „Sie können dabei extrem viel verlieren“, sagt Helga Blocksdorf.
Um den Wettbewerb geht es auch Regine Leibinger. Die Absolventin der Harvard University war von 2006 bis 2017 Professorin für Baukonstruktion und Entwerfen an der TU Berlin. Zusammen mit ihrem Mann führt sie seit vielen Jahren das inzwischen sehr renommierte Büro Barkow Leibinger in Berlin. Ein Schwerpunkt liegt im Bereich des Industrie-, Büro- und Geschäftsbaus, darunter auch Großprojekte wie der Estrel Tower in Berlin-Neukölln. Mit 44 Stockwerken auf 175 Metern Höhe soll er Berlins höchstes Haus und zugleich Deutschlands höchstes Hotelgebäude werden mit über 800 Räumen. 2025 soll es fertig sein; den Wettbewerb dafür gewannen Barkow Leibinger 2014. Regina Leibinger weiß, wie viel „Herzblut und Kraft“ nach der Einladung zu einem Wettbewerb auf der Strecke bleiben. Da werden die Nächte durchgearbeitet, die Anspannung und das Adrenalin steigen. Doch selbst wenn der Entwurf gewinnt, heißt das nicht, dass er auch realisiert wird. Diese Hochs und Tiefs immer wieder zu verarbeiten, ist auch für gestandene Profis nicht leicht.
Frauen bauen nicht anders. Sie fordern nur die Chance, die Welt so zu bauen, wie es ihnen gefällt. Oder, „weil ich ganz im Sinne auch des Bauhauses dachte, dass ich eine bessere Welt mache“, wie sich Regula Lüscher an ihre Motivation als Studentin erinnert.
Zurück zu Dorte Mandrup, der Schöpferin von „The Whale“: 2020 gewann ihr Büro auch den Wettbewerb für den Neubau des Exilmuseums am Anhalter Bahnhof in Berlin. Aus den Entwürfen von zehn international renommierten Architekturbüros wählte die Jury – fünf Frauen, ein Mann – den von Mandrup. Diese hatte 2017 für eine internationale Kontroverse gesorgt mit einem Essay in dezeen, einem Online-Magazin für Architektur, Innenarchitektur und Design. Überschrift: „Ich bin keine Architektin. Ich bin ein Architekt.“ Das klang für viele Frauenbewegte nach Verrat. Später stellte sie in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung klar, dass sie sich nicht als Unterkategorie unter männlichen Architekten sehe, denn: „Es gibt viele gute Architektinnen, und wir können es leicht mit den Männern aufnehmen.“
Ulrike Helwerth ist freie Journalistin. Bis 2020 war sie Presse- und Öffentlichkeitsreferentin beim Deutschen Frauenrat, von 1999 bis 2005 ehrenamtlich Vorsitzende des Journalistinnenbundes, eines Netzwerks medienschaffender Frauen. Von diesem wurde sie 2021 mit der Hedwig-Dohm-Urkunde fürihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Anmerkungen
1) © Dorte Mandrup, MIR, The Whale, CC BY 3.0 via Wikimedia Commons; Foto S. 30: Frankfurter Küche, Margareta Schütte Lihotzky © Minneapolis Institute of Art, CCO, via Wikimedia Commons
2) Siehe www.phaeno.de
3) Vgl. dazu auch: Beate Blatz, Bauhaus. Vom Höhlenfeuer zur Frankfurter Küche, in: Arbeitshilfe zum Weitergeben 1-2008, S. 51-56; https://leicht-und-sinn.de/bauhaus/
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum
Thema „Bauen“ ist Mitte April 2024
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