Ausgabe 1 / 2005 Andacht von Fanny Dethloff

Denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz

Bausteine für eine Andacht über Flucht und Migration

Von Fanny Dethloff

Hinweis für die Leiterin
Im Folgenden finden Sie Elemente von Gottesdiensten, die bereits gehalten worden sind. Es sind Umformulierungen von Psalmen, Gedanken für die Predigt oder – wie bei dem Gottesdienst zum Thema „Koffer“ – zur Verknüpfung von Fluchtgeschichten aus der eigenen Familie, der eigenen Gemeinde mit den modernen Geschichten von Flucht und Migration.1 Jede/r mag den „Steinbruch“ für sich nutzen und mit der eigenen Phantasie anreichern. Die Textbausteine sollen  anregen: miteinander ins Gespräch zu kommen, Vor-Urteile zu prüfen,  nachzufragen, einzuhaken.

aus Ägypten – nach Ägypten

Sie waren als Wirtschaftsflüchtlinge nach Ägypten gekommen. Nomaden waren sie, Mitglieder einer reichen Sippe mit großen Herden. Aber in ihrem Land war eine Hungersnot ausgebrochen. Und so zogen sie zu ihrem Verwandten, der in Ägypten am Hofe des Pharaos war. Sie kamen und fanden Aufnahme. Doch ein paar Generationen später waren ihre guten Beziehungen aufgebraucht. Sie gerieten in Schuldsklaverei und schufteten sich zu Tode. Sie meuterten, organisierten Streiks und wollten einen freien Tag, den Schabbeth, um zu ihrem Gott zu beten.

Sklavenaufstand, Menschenhandel. Lange her? 3000 Jahre weit weg? Manche Geschichte, die wir in der Bibel lesen, klingt aktueller als uns lieb ist: Kinderhandel, Sklaverei, Ungerechtigkeit, Flucht aus ökologischen und politischen Gründen. Mose führte sein Volk nach langen Kämpfen durch das Rote Meer, hinaus in die Freiheit.  Bis heute ist diese Befreiung ein geschichtlich-spirituelles Menschengedenken, ein Bekenntnis eingegraben ins kollektive Bewusstsein: Wir stammen von Fremden ab. Wir sind auch fremd gewesen.

Joseph aus dem Stamme David wird viel später an dieses Bekenntnis erinnert: Auch er muss mit seiner Familie fliehen, um das nackte Überleben zu sichern. Herodes hatte einen Kindermord angeordnet. Ähnlich wie einst der Pharao, als die Israeliten zu mächtig wurden. Wie muss es gewesen sein – damals? Joseph hatte es schon lange gespürt. Angst und Sorge hatten ihn kaum schlafen lassen. Die Volkszählung der Römer: Maßnahme eines perfekten Überwachungsstaates, um auch aus dem Letzten noch Steuern herauspressen zu können. Sie mussten also nach Bethlehem  ziehen. Voller Furcht, denn die junge Frau war hochschwanger.

Als die Bedrohung zunahm, der Zorn der Mächtigen im Hintergrund anschwoll, erschien ihm ein Engel mit einer Warnung. Ein Bote Gottes, ein warnender Hinweis: Viele, die fliehen mussten, erzählen ähnliches. Mitten in einem bedrohlich  anschwellenden Konflikt geschieht es: ein mahnender Impuls – ein Befehl – ein Satz – ein Hinweis – ein Mensch, der warnt – ein Traum, der den Impuls gibt: Jetzt! Und so packte Joseph ihre Sachen, nahm einen Esel für Maria und das Kind und floh. Sie werden tags geschlafen haben und nachts gewandert sein. Heraus aus dem Machtbereich des Herodes. Nach Ägypten.

Das Buch der Flüchtlinge

Fluchtgeschichten – eines ganzen Volkes, einer kleinen Familie. Erinnert im Buch der Flüchtlinge, der Bibel. Jeder Satz der Psalmen atmet sie, diese Poesie der Unterdrückten, der Geflohenen, der Schutz Suchenden. Lebt vom Lob der Geretteten. Viele Geschichten erzählen von den Fluchten, den Vertreibungen, von den Klagen an den Ufern Babylons. Ökologische Katastrophen (Noah und seine Arche!) werden ebenso beschrieben wie die ökonomische Migration: die Erzväter, die herumziehen mit ihren Herden und nach Weideplätzen suchen; Joseph, der Karriere am Hofe des Pharaos macht und seine Brüder, die in Hungerzeiten kommen, und denen er zu einer Nachzugsberechtigung mit unbeschränkter Aufenthaltsmöglichkeit verhilft. Weil die Bibel von Flucht und Vertreibung handelt, spricht sie auch so oft von  Schutz und mahnt, den Fremdling zu achten. Die Flucht des unterdrückten Volkes Israel aus dem ägyptischen Sklavenhaus wird zum Urstein des Gedenkens. Die Propheten mahnen die Ungerechtigkeit im Lande an, protestieren bei den  Herrschern und verdeutlichen, dass Gerechtigkeit sich an den Schwächsten einer Gesellschaft bemisst, zu denen immer auch die „Fremdlinge“ gehören. Jesus greift das auf: Ich bin fremd gewesen und ihr habt mich aufgenommen.

Wir stammen von Flüchtlingen ab, viele von uns ganz real. In den Familiengeschichten sind sie zu finden: die politisch Verfolgten, Flüchtlinge,  Vertriebenen, die Ausgebombten. Wir stammen von Flüchtlingen ab: Das ist aber auch eine biblische Aussage. Wir reihen uns ein als die Befreiten aus dem ägyptischen Sklavenhaus. Geflohen vor den Truppen Pharaos, errettet aus dem Schilfmeer, Heimatsuchende über vierzig Jahre in der Wüste. Die Bibel hält diese Erinnerung lebendig: Errettung vor Sklaverei und Unterdrückung, Bewahrung auf der Flucht. Sie ist damit in einer globalisierten Welt hoch aktuell. Als großes Buch der Erinnerungen mahnt sie uns, in der alltäglichen Lektüre nach den Zeitansagen zu suchen, die uns antreiben, über unseren eigenen Tellerrand zu sehen. Erinnerung, Ermutigung und Anstoß. Nehmen wir die Sätze ernst und lesen die Bibel neu unter diesem Vorzeichen: Flüchtlinge in dieser Welt.

Meditation zu Psalm 23

Der 23. Psalm ist das Lied eines Flüchtlings, gesungen vor 3000 Jahren: Mir wird nichts mangeln, denn Gott führt mich. Selbst durch die Dunkelheiten dieses Weges. Er erquickt meine Seele, ich muss mich nicht fürchten.

Eine Flucht ist immer gekoppelt an das, was man zurücklässt, hastig aufgibt, verlässt. Und ist immer verbunden mit der Hoffnung, dass es besser wird – dort, wo man dann ankommt. Keine Drohungen mehr, keine Verhaftungen, keine Folter,  keine weinenden Kinder, keine hungernden Frauen. Willkommen sein, Verständnis finden. Jemand, der einen als Gast empfängt, einen wäscht, salbt und einschenkt, der einem den Tisch deckt – einen Tisch im Angesicht meiner Feinde, die mir nun nichts mehr anhaben können.

Solche Zufluchtsstätte war der Tempel Gottes. Dorthin konnte sich ein Verfolgter wenden, und niemand durfte ihm etwas antun, ihn gefangen nehmen oder verletzen.
Viele Menschen auf der Flucht vor den zwei großen Weltkriegen und danach beteten diesen Psalm. Auch heute noch gehört er zu den am meisten zitierten Versen der Bibel. Die Realität, die er abbildet, darf jedoch nicht verschwimmen im Wohlklang der Poesie, im Reichtum der tröstlichen Bilder. Ich will bleiben im Hause des Herrn immerdar…

Meditation zu Psalm 56

Gott sei mir gnädig – denn andere sind es ja doch nicht. Täglich sagen sie mir, dass ich nicht hierher gehöre, und schieben mich ab aus ihrer Welt: in die schlechtesten Jobs ohne ausreichende Bezahlung; in Unterkünfte, die heiß, eng und stickig sind oder zu kalt und schlecht gelüftet, ohne Platz zum Leben. Nur das Nötigste zum Überleben – und dafür erwarten sie Dankbarkeit. Nachts sehe ich sie alle wieder, schreie, wenn meine Feinde mich bedrängen und ich nichts vergessen kann,  sondern die Bilder der Gewalt mich überfallen. Und tags verstumme ich, wenn sie mir Fragen stellen und meine Verfolgung als unglaubwürdig abtun. Sie lauern darauf, dass ich schwarz fahre, weil ich kein Geld habe, dass ich meinen Landkreis unerlaubt verlasse. Sie suchen Gründe, um mich abzuschieben. Gott, es muss doch eine Gerechtigkeit geben. Warum hört denn keiner? Zähle die Tage meiner Flucht, sammle meine Tränen in einen Krug. Ohne Zweifel, du zählst sie.

Moderne Fluchtgeschichten

Koffer – lange kannte ich sie nur als zweckmäßige Reisebegleiter. Ich brauchte sie, um in den Süden zu kommen oder in den Norden. Gut gepackt, mit sinnvollen Anziehsachen, ein paar guten Büchern, etwas zum Schreiben und Waschzeug. Koffer hatten nie eine besondere Bedeutung für mich. Da bin ich nicht anders als viele andere auch. Doch inzwischen kenne ich viele Geschichten, die von Koffern  handeln. Es ist, als hätte man einmal einen Blick durch den Deckel eines Koffers gemacht und auf seinem Boden ganz andere Geschichten entdeckt. Ich habe  verstanden, dass ein Koffer ein ganzes Leben beinhalten kann. Erinnerungen, Fundstücke, Dokumente, Notrationen, Ehre, Ansehen, Geschichte.

Koffer 1

Sie hielt ihren Koffer umklammert. Die ganze Zeit. Ihr Bademantel fiel lose an ihr herunter, die Schuhe waren offen. Ihre Haare ungekämmt. Wenn man sie ansprach, starrte sie durch einen hindurch. „Wollen Sie nicht den schweren Koffer abstellen?“
Sie schüttelte nur den Kopf. Dann zog sie wieder los, über die Flure, verschwand in einer Sitzecke, kauerte sich kurz in einen Sessel, um sich auszuruhen. Dann schleppte sie den Koffer weiter. Dementiell erkrankt – so die offizielle Version.
Fachabteilung des Altenheims. Man kannte sie nicht anders. Besuch bekam sie kaum, sprechen wollte sie nicht mehr. Nur dieser Koffer war für sie lebenswichtig. Als man sie einmal zu einer bestimmten Zeit waschen wollte und ihr den Koffer abzunehmen versuchte, kamen sprachlose Angstschreie, gurgelnde Laute. Wie eine Ertrinkende hielt sie sich daran fest. Der Koffer war der ganze Halt. Als sie verstarb, öffneten sie ihn vorsichtig. Man fand ein paar Bestecke des Altenheims darin, eine Perlenkette, ein paar Fotos, etwas Geld, einen Haarkamm und ein paar zerbröselte Stücke Zwieback. Die Jüngeren schüttelten den Kopf. Sie stellten ihn weg zu ihren anderen Sachen.
Eine ganze Weile nach ihrem Tod meldete sich eine Cousine, etwas jünger noch, interessierte sich vor allem für Familienfotos. Als man ihr den Koffer brachte, fing sie an zu weinen. Der Koffer war vom vielen Schleppen ganz abgestoßen, der Inhalt wirklich erbärmlich. Es war die Geschichte der Frau, die die Jüngere angesichts des Koffers zum Weinen brachte. 1943 ausgebombt in Hamburg, nur ein Koffer war übrig geblieben, das nackte Überleben. Das Haus, die Straße, die Bäume – alles in Schutt und Asche, alles verkohlt. Ungezählte Leichen, Nachbarn, Freundinnen,  Bekannte. Sie war davongekommen, mit einem Koffer, nur das Nötigste, die  Dokumente, Geld, ein wenig Schmuck der Familie, ein paar Fotos, etwas Wäsche.
Damit sind sie zu Verwandten, auf einen Bauernhof in den Osten. Nicht wissen, wo die Liebsten blieben, kaum Post. Zerstreut in alle Ecken Deutschlands, die Kinder evakuiert, die Älteren mussten selbst sehen, wie sie klar kamen. Dann die große Flucht zurück in den Westen, Wochen – Monate, alles in bitterer Kälte. Die Gerüchte, das Gewisper, der Schrecken der Entronnenen, die Angst, die sprachlos blieb. Später hatte sie in einer kleinen Wohnung gelebt. Reisen machte sie nicht. Es war ein kärgliches Leben, auf Sicherheiten bedacht. Der, den man liebte, war nicht wiedergekommen aus dem Krieg. Die Ehe mit dem, den man heiratete, hielt nicht. Sie arbeitete, sparte und wartete auf – auf was, hatte sie irgendwann vergessen. Vielleicht auf Erlösung. Der Koffer war eine Art Garantie dafür.

Koffer 2

Er wollte nur seinen Koffer haben, unbedingt. Er brauchte ihn. Niemanden schien das zu interessieren. Nur noch wenige Tage blieben ihm, dann würde er zurück müssen. Keiner machte sich ein Bild, was das hieß. Alle in seinem Dorf hatten gesammelt, jeder hatte ihm etwas geborgt. Er sollte hinausgehen und sein Glück machen – und auch das vieler anderer. In der goldenen Welt, draußen über dem Meer.
Und nun? Nun hatten sie ihm den gesamten Lohn abgenommen, und er saß hier mit fünf anderen in einem kleinen Raum mit vergitterten Fenstern. Zweimal am Tag konnte man für etwas über eine Stunde raus. Er hatte doch nur arbeiten wollen! Warum behandelten die ihn so? Sie haben ihm erklärt, dass es gegen ihr Gesetz verstoße, ohne Papiere ins Land zu reisen. Aber er hatte nicht Drogen gedealt und auch nicht gestohlen. Er hatte sich das Bett mit einem anderen geteilt,  schichtweise. Er hatte viel Geld bezahlt für diesen Schlafplatz. Und dann hatte er Geld ins Dorf geschickt, zweimal. Etwas hatte er für sich behalten. Einen Anzug  hatte er gekauft, einen kleinen Ring für seine Frau. Und all das lag in dem Koffer.
Er hatte es überall versucht, hatte geschrieben und gebeten. Sie hatten keine Zeit für seinen Koffer. Er wurde wütend. Man durfte ihn nicht so behandeln, wie würde er dastehen als Mann. All seiner Ehre beraubt! Er hatte so hart dafür gearbeitet. Warum interessierte das niemanden? Seine ganze Welt lag in diesem Koffer, seine Ehre, sein Ansehen. Wenigstens in dem neuen Anzug wollte er heimkommen! Die Verbitterung  war tief, als er flog. Der Koffer lag im Schließfach im Bahnhof. Wochen  waren vergangen.  Er konnte nicht wissen, dass das Schließfach bereits  geöffnet worden war, sein Koffer längst in einer anderen Stadt in einer Zentrale  angekommen. Er  ahnte nicht, dass sein Koffer nur noch eine Nummer war und  demnächst versteigert würde. Sein Koffer war verloren. Sein Leben auch.

Koffer 3

Beinahe hätte er den Koffer nicht wieder erkannt. Ganz hinten auf dem Dachboden lag er, versteckt hinter alten Möbeln. Die Farbe war verblasst. Das Schild mit seinem Namen und der alten Adresse, die war noch zu erkennen. Er hatte ihn benutzt,   damals auf seiner Flucht. Als ein Freund ihm riet zu gehen, hatte er gelacht: „So schlimm wird es nicht werden, Johann!“ Aber der hatte den Kopf geschüttelt: „Du musst jetzt gleich weg! Sofort! Hörst Du!“ Da hatte er verstanden, dass sein Leben  in Deutschland zu Ende war. Sein Studium, seine Geliebte, seine Wohnung, seine  Zukunft. Es traf ihn wie ein Faustschlag. Dann hatte er genickt, ganz langsam. In seiner Wohnung hatte er in aller Hast sortiert. Was blieb hier, was musste mit? Zwei Bücher, der Anzug, die guten Schuhe, ein wenig Unterwäsche zum Wechseln. Sein  Geld, seine goldene Uhr. Er bat noch schnell die Nachbarin, die Blumen zu  gießen  und auf seine Sachen Acht zu geben. Er war mit dem Schiff nach England gefahren, dann, als die Papiere da waren, weiter zu Verwandten nach Amerika.
Als er 1945 wiederkam, erkannte er die Stadt nicht wieder. Nur dieser Koffer war ein  Bindeglied zwischen den Welten. Nichts sonst hatte gehalten, nur diese  Ledernähte. Die Stadt zerbombt, seine alte Wohnung eine große Ziegelsteinhalde.  Seine frühere Geliebte eine verhärmte verheiratete Frau, die, als sich ihre Blicke  trafen, beschämt den Kopf abwendete. Als amerikanischer Soldat kam er zurück,  Sieger und Besiegter zugleich. Wohl wissend, was ihm gedroht hätte, wäre er  geblieben – und doch voller Scham, überlebt zu haben. Und nach all der Zeit stand er noch da, der Koffer.

Koffer 4

Die Jugendlichen standen vor den Fotos. Berge von Koffern, Schuhen, Pelzmänteln. Daneben Männer in Uniform, grinsend oder auch ernst. Menschen, die ihre Sachen packten, weil sie deportiert werden sollten. Die Koffer enthielten ihre wichtigsten Sachen: Wertgegenstände, Kleidung, warme Wäsche, Schuhe, Kämme, Bürsten, Seife. Nichts davon konnten sie behalten. In den Konzentrationslagern angekommen,  wurde ihnen auch die letzte Sicherheit, der umklammerte Koffer entrissen.
Die Jugendlichen sahen die Fotos an, schwiegen und gingen weiter. Bedrückend und schrecklich. Worte können das stumme Entsetzen nicht fassen. Zu banal jeder  Kommentar.

Koffer 5

Im Koffer befanden sich alle Dokumente, Videoaufnahmen von Erschießungen und Verhaftungen. Er war Journalist. Aber sein Land, Tschetschenien, gab es nicht mehr. Man hatte es vergessen. Die „Befreier“ versuchten es in die Erinnerung der Menschheit zurückzubomben – doch zwischen den Fronten blieben die Menschen  liegen: Kinder, die zuviel gesehen hatten, Frauen, die um ihre Männer weinten.  Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit gehörten zu den ersten Opfern des Krieges. All die Grausamkeit dieses schmutzigen Krieges hatte er gesammelt. Dann war auch er bedroht. Bedroht von der Hinrichtung. Willkürlich, unter Ausschluss der  Öffentlichkeit. Er war geflohen. Doch jetzt, hier in diesem reichen Land glaubte ihm  niemand. Er solle seine Identität beweisen. Wo er denn etwas veröffentlicht hätte. Filmmaterial müsse er doch besitzen. Sie waren ausschließlich interessiert an   einem Reiseweg, damit sie ihn ins sichere Drittland zurückschieben konnten.
Er hatte Angst. Zum ersten Mal, hier in dieser Sicherheit, fing er an zu zittern. Er war in seiner Heimat von Untoten umgeben gewesen, die angesichts der Schrecken zu  keinem Mitleid mehr fähig waren. Doch hier, in dieser Sattheit traf die Gefühlskälte  ihn doppelt. Es gab niemanden, an den er sich wenden konnte. Er brauchte diesen  Koffer mit den Dokumenten, um ihn ihnen vor die Füße zu werfen. Doch es könnte  seinen Freund das Leben kosten, diesen Koffer aus dem Versteck zu holen und über  die Grenze zu schaffen. In diesem Koffer war so viel Blut. Er verfluchte diesen Koffer.

Koffer 6

Sie waren geflohen, über die Berge. Im Schnee hatten sie nur noch einen Koffer tragen können. Die anderen hatten sie aufgegeben. Leichten Herzens sogar, denn nun sollte alles besser werden. Aber in den Bergen war es kalt, und die Kinder wurden krank. Die Kleinsten blieben in der Fremde zurück, man würde sie holen – bestimmt! hatte man der verzweifelten Mutter versprochen. Wie die Koffer waren die Kleinen verloren gegangen. In einem fremden Land mit einer fremden Sprache. In dem Land, wo sie endlich  Aufnahme fanden, gab es Gesetze, die besagten, dass die Kinder nicht zu ihren Eltern durften. Es dauerte über zwei Jahre, bis alle Papiere da waren: von dem einen Land in dieses Land und dann die Übersetzungen aus ihrem Heimatland und alles wieder in eine andere Sprache. Bis endlich klar war, dass sie verheiratet und die Kinder ihre waren, war die Familie am Ende. Es dauerte, bis Menschen aufmerksam wurden. Die Kinder sprachen, als sie endlich kamen, nicht mehr die Sprache ihrer Eltern. Man hatte ihre Kinder wie Koffer vergessen. Koffer-Geschichten, Geschichten von Migration, Wanderung, Flucht durch unser Land. Unterschiedliche Zeiten, unterschiedliche Koffer. In meinem Beruf als Flüchtlingsbeauftragte sehe ich viele Menschen mit Koffern vor mir. Als Seelsorgerin vorher habe ich viele Geschichten von Flucht, von Koffern und Verlust von lieben Menschen und Heimat aus unserem eigenen Land gehört. Jetzt höre ich sie auch von Menschen aus der ganzen Welt in einer Abschiebungshaftanstalt. Geschichten – mal weniger, mal mehr dramatisch. Sich berühren lassen und zuhören ist eine alte christliche Tradition. Auch die schweren Geschichten hören und aushalten, beistehen und nicht wegsehen, das ist die Aufgabe. Oft erlebe ich die gleiche Sprachlosigkeit, wie die unserer alten Menschen. Flüchtlinge, die keine Sprache für das Grauen fanden, als sie vor dem Anhörer des Bundesamtes standen, die keine Worte fanden für die Qualen, die sie durchlebten, die kein Recht bekamen, weil Folter eine landesübliche Polizeimaßnahme in der Türkei sei – so Verwaltungsgerichtsbeschlüsse im Namen des deutschen Volkes. Nicht nachweisbar die Geschichten von Menschen, die keinen Koffer mitnehmen konnten, als sie flohen, keine Zeitungsausschnitte über ihre politische Partei. Menschen, die keinen Haftbefehl einstecken konnten, weil sie sofort tot gewesen wären, hätte man ihre Flucht entdeckt. Und ohne Koffer, ohne diese Dokumente, können sie ihre Fluchtgründe nicht belegen und bekommen kein Asyl in unserem Land. Die Koffergeschichten durch die Zeiten ähneln sich – und doch schotten wir uns ab: vor den abgewetzten Koffern im Altenheim, vor den Erinnerungsstücken unserer eigenen Vergangenheit und vor den neuen Koffern, die, ebenso abgestoßen, durch die Welt mitgezogen werden. Jeden Tag gibt es Abschiebungen. Zurück! ist die Parole in unserem Land. Zumutbarkeitsregeln dafür stellen Behörden auf. Menschen wurden jahrelang ohne Arbeitserlaubnis geduldet und dann als „Kostenfaktoren“ und „Schmarotzer des Sozialstaates“ zurückgeschoben. Mitten in der Nacht klopft dann die Staatsgewalt, und immer öfter sind es auch Kinder, die wie vergessene Koffer ihren Eltern hinterhergeschickt werden müssen. Schwangere, Mütter mit Kindern, Väter – auch Väter deutscher Kinder. Abgeschoben mit einer lebenslangen Wiedereinreisesperre nach Deutschland. Es ist, als wüssten wir nichts mehr von Flucht in unserem Land. Als könnte nie-mand verstehen, was vor sich ging. Und so ist es ja auch. Ohne Sprache bleiben die meisten Geschichten hinter dem Schweigen der Altenheime verborgen, hinter der Verwirrung des Geistes versunken, vor dem Desinteresse von uns Jüngeren verstummt. Ohne einen Blick auf die eigene Geschichte, auf das eigene Grauen, sind wir Meister im Bewerten anderer Leiden. Wir werten ab. Nicht glaubwürdig, so die ständige Aussage von Anhörern, Richtern, Bürokraten. Die Familie, die elf Jahre hier lebte, drei Kinder hier gebo ren: Zurück! Der Mann, der hier seinem Beruf nach ging: Zurück! Der Flüchtling, der hier Asyl suchte: Zurück! Zurück mit ein paar Koffern. Gleichzeitig sind wir zu wenige im Land, um unser soziales System aufrecht zu erhalten. Wir brauchen Menschen, deren Kinder hier in die Schule gehen und einen Beruf lernen, damit unser Rentensystem eine Zukunftschance hat. Wir brauchen eine Brücke – gebaut von den alten Menschen in unserem Land, die sich an ihre Koffer noch erinnern, und den neuen, die mit fremden Koffern kommen. Wir brauchen einen neuen Blick auf Koffer.

Hinweis zur Gestaltung: In einem Gottesdienst haben wir mehrere Koffer vor dem Altar hingelegt und die Geschichten gelesen. Dazwischen gab es meditative Musik. Im anschließenden Fürbittengebet haben Menschen Teelichter auf die Koffer stellen können und ihre Fluchtgeschichten oder die ihnen bekannten Flüchtlingsschicksale bedenken können.

Lob- und Dankgebet

Gott, wir danken dir für unsere Welt. Wir haben ein Dach über dem Kopf, ein Bett, einen Tisch, wir haben Familie, Freunde und Nachbarn, wir haben einander als Gemeinde, als Gemeinschaft. Lass uns wachsam umgehen mit denen, die Du uns ans Herz legst: mit dem Nachbarjungen, der aus Afghanistan kommt und nachts weint, wenn die Bilder zurückkommen; mit der alten Frau aus der Türkei, deren Familie hier lebt und die doch allein ist, heimwehkrank ohne Heimat; mit der jungen Familie aus Afrika, die nicht versteht, was man ihr auf dem Amt sagt. Hilf, dass wir Zeit finden, einen Ort, Ruhe, um den Menschen gerecht zu werden. Hilf uns, unsere Liebe und Dankbarkeit zu leben und weiterzugeben.
Amen.


Fanny Dethloff, 45 Jahre, ist Pastorin und seit 2002 Flüchtlingsbeauftragte der Nordelbischen Kirche, seit September 2004 Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft
Asyl in der Kirche.


Fußnote
1 Vgl. auch den Text der Autorin im Materialteil dieser AHzW.


 

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