Eine Geschichte aus Bangladesch, dem Land mit den furchtbaren Überschwemmungen, die vom Ganges her weite Gebiete überfluten, weil oben im Himalaya die Wälder so rücksichtslos abgeholzt werden…
Da lebte in einem kleinen Dorf ein weiser Mann, der von den Menschen – Hindus wie Moslems – verehrt wurde. Nun geschah es, dass sich der Dorfgegend eine Flutwelle näherte. Alle Menschen mussten evakuiert werden. Der Bürgermeister, der den heiligen Mann sehr verehrte, ging persönlich zu ihm und bat ihn, den Ort zusammen mit all den anderen zu verlassen, bis die Flut zurückgegangen sei. Der heilige Mann weigerte sich: „Gott hat mich in dieses Dorf gesandt. Hier habe ich gelebt. Hier habe ich gewirkt. Hier werde ich bleiben. Er wird mich beschützen.“
Die Menschen verließen das Dorf. Der heilige Mann blieb. Die Flutwelle kam und umströmte sein Haus. Er musste, um sich zu schützen, ins erste Stockwerk hinaufsteigen, von wo er auf die gurgelnden Wasserströme herabsah. Die Menschen des Dorfes liebten ihren heiligen Mann. Also schickten sie ihm ein Boot. Aber der heilige Mann sagte den Ruderern: „Gott hat mich in dieses Dorf gesandt. Hier habe ich gelebt. Hier habe ich gewirkt. Hier werde ich bleiben. Er wird mich beschützen.“
Die Flutwelle stieg weiter. Der heilige Mann musste aufs Dach seines Hauses flüchten. Und weil unsere Geschichte eine moderne ist, schickten die Menschen ihm einen Hubschrauber. Aber der heilige Mann sagte zu dem Mitglied der Rettungsmannschaft, der an einer Strickleiter zu ihm herabgehangelt kam: „Gott hat mich in dieses Dorf gesandt. Hier habe ich gelebt. Hier habe ich gewirkt. Hier werde ich bleiben. Er wird mich beschützen.“ Die Flutwelle stieg weiter und der heilige Mann ertrank.
Weil er aber ein Heiliger war, kam er in den Himmel. Voller Zorn verlangte er, sofort zu Gott gebracht zu werden. Sein Wunsch wurde erfüllt. Er sagte zu Gott: „Mein Leben lang habe ich dir gedient. Viele Seelen habe ich zu dir geführt. Und du lässt mich ertrinken!“ Daraufhin Gott: „Was verlangst du denn noch? Erst schicke ich dir den Bürgermeister. Dann das Boot. Dann einen Hubschrauber. Was soll ich denn sonst noch machen?“
aus: Geschichten wie Edelsteine
© Kösel-Verlag GmbH & Co., München 1996
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