Ausgabe 2 / 2020 Material von Shahzamir Hataki

Der einzige Sohn

Von Shahzamir Hataki

65 Menschen waren auf dem Boot.
Der Schmuggler deutete auf einen Berg –
dort ist Griechenland, sagte er.
Das  Wasser fiel wie Wände auf uns herab.
Der Motor stoppte.
Es waren viele Kinder im Boot.
Es kenterte.
Ich kann nicht schwimmen.
Zwei Minuten blieb ich unter Wasser,
die rote Weste zog mich an die Oberfläche.
Ich hatte furchtbare Angst.
Es war sehr kalt.
Alle schrien. Ich auch.
Vor mir war ein Kind.
Ich tröstete es,
du musst nicht weinen,
und ich wusste es doch besser.
Eine Mutter ertrank
vor meinen Augen, ihr Kind im Arm.
Zwei Stunden, dann kam das Boot,
uns zu retten.
Überlebt haben 20 Menschen.
Die kleinen Kinder waren alle tot.
Ein Junge, er war so alt wie ich,
saß neben mir im Rettungsboot.
Er schrie immerfort
„Mutter, Mutter“
Ich fragte ihn, warum weinst du?
Er sagte, seine Familie, sieben Menschen,
sie seien gestorben.
Ich fragte mich, wer hätte meinen
Eltern gesagt, wenn ich im Meer ertrunken wäre?
Ich bin der einzige Sohn.
Ärzte warteten.
Ich konnte mich nicht auf den Beinen halten.
Sie bargen nur acht Tote.
Wir Überlebenden kamen ins Krankenhaus.
Acht Tage und acht Nächte habe ich geschlafen.
Und jeder Tag im Krankenhaus kam mir vor wie ein Jahr.
Als ich losfuhr aus der Türkei, hatte ich 100 Dollar.
Sie gingen im Wasser verloren.
Am 20. Tag rief ich zuhause an.
Mutter sagte, warum hast du dich nicht gemeldet?
Drei Tage habe ich nicht gegessen vor Sorge.
Ich sagte, ich sei wohlbehalten angekommen,
nur hätte ich das Geld für das Telefon nicht gehabt.
Wie könnte ich ihr sagen, dass ich
zehn Tage nur Kakao zu mir nehmen konnte, weil
mein Körper voller Salzwasser war?

Shahzamir Hataki, 16, Mazar-e-Sharif, Afghanistan // www.thepoetryproject.de

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