Als Israel aus der Sklaverei Ägyptens wegzieht und symbolisch zu verstehende „vierzig Jahre“ durch die Wüste ziehen muss, dient ihm das karge Manna als Speise – ein Sekret der Manna-Tamariske, das wie das Harz ausgesondert wird und von den Pflanzen eingesammelt werden kann.
Eine wahre Fastenspeise. Und doch beschreibt die Bibel sie als köstliche Festtagsspeise: „Das Brot schmeckte wie Honigkuchen“ (Ex 16,31). Jedenfalls ist dies eine von zwei biblischen Interpretationen des Geschmacks von Manna. Die andere lautet: „Es schmeckt wie Ölkuchen“ (Num 11,8). Das klingt nüchterner und realistischer. Doch geht es nicht um physiologische Fakten, sondern um subjektive Geschmackswahrnehmungen. Die Erzählung in Ex 16 will die unübertreffliche Süßigkeit des Manna deutlich machen: Israel isst nicht nur das Manna, sondern kostet in ihm den Geschmack von Freiheit und Gerechtigkeit und den Vorgeschmack des Landes, „in dem Milch und Honig fließen“ (…)
Bis ins Hochmittelalter ist der Honig das, was seit dem 15. Jahrhundert der Zucker ist: Der universale Süßstoff und der Inbegriff der Essenslust. Das karge Manna, das gerade einmal den gröbsten Hunger der Wüstenwanderung stillen kann, bereitet Israel eine unübertreffliche Lust, weil es die Freiheit schmecken lässt. Doch das ist eine Glaubensfrage – und so schmeckt das Manna in den Momenten des Zweifels ganz anders. Dann wird es zur trockenen, faden Angelegenheit und lässt den Wandernden ausgerechnet Ägypten als das Land erscheinen, in dem Milch und Honig fließen (Num 16,13f.). Der Ort ihrer Sklaverei und Unterdrückung wird zum Sehnsuchtsort. Das ist eine völlige Verkehrung der Tatsachen. Doch es zeigt: Der Glaube an den befreienden Gott ist eine Geschmacksfrage. Wird das Leben nicht richtig geschmeckt, werden die Vorgänge der Wirklichkeit nicht wach und kritisch wahrgenommen, kommt es zu einer Geschmacksverirrung.
Zurecht erkennt Mose, dass das Murren der Israeliten über Aaron und ihn in Wirklichkeit ein Murren über Gott ist (Num 16,11): Die Menschen schmecken im Manna nicht mehr die Verheißung, sondern den Untergang.
Spiritualität ist eine Frage des Schmeckens der Wirklichkeit von innen her. Es geht darum, Sachverhalte im eigenen Leben durch das „Verspüren und Verkosten von innen her“ („el sentir y gustar de las cosas internamente“) zu entdecken, wie Ingnatius von Loyola in der Einleitung zu seinen „Geistigen Übungen“ schreibt (Nr. 2). Natürlich lässt sich über Geschmack trefflich streiten. Und doch gibt es eine Schulung des Geschmacks – des kulinarischen ebenso wie des spirituellen. Es ist nicht beliebig, ob man im Manna der Wüste die Ausweglosigkeit der Verzweiflung oder die Perspektive der Freiheit schmeckt. Vielmehr lassen sich Kriterien entwickeln, mit denen man prüfen kann, ob im konkreten Fall eher der eine oder eher der andere Geschmack der Wirklichkeit entspricht. Nichts anderes versucht Ignatius von Loyola in seinen geistlichen Übungen den Menschen nahezubringen: Unterscheide gut, indem du den Geschmack der Ereignisse so sorgfältig wie möglich wahrnimmst!
aus:
Im Brot der Erde den Himmel schmecken – Ethik und Spiritualität der Ernährung
© oekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH, München 2014, S. 398ff
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