Alle Ausgaben / 2006

Der Häuptling und seine schöne Frau

Indianisches Märchen


Liebe versetzt Berge, aber es kann auch geschehen, dass sie Bäume auf die Berge bringt. Einst heiratete ein junger Indianerhäuptling das schönste Mädchen des Stammes. Und sein Herz sang vor Glück. Aber das Glück dauerte nicht lange. Bald nach der Hochzeit erkrankte die Braut. Der Häuptling schickte Boten in alle Himmelsrichtungen und rief Zauberer aus der ganzen Welt herbei. Sie kamen zu Pferd und mit Booten, aber die schreckliche Krankheit konnten sie nicht heilen. Die junge Frau starb.

Nichts half gegen das Leid des Häuptlings, weder Müdigkeit noch Schlaf, weder Jagd noch Kampf. Ohne die Frau konnte er nicht leben. Er wollte sie in seinem Zelt haben, wollte sie anschauen und mit ihr sprechen. Deshalb ¬ machte er sich auf, um einen geschickten Schnitzer zu suchen, der ihm ihr Bild in Holz schnitt. Er lief von einem zum anderen, aber vergebens. Keiner vermochte sie so zu schaffen, wie sie gewesen war.

Nach einem Jahr kehrte der Häuptling mit leeren Händen zurück. Am Dorfrand hielt ihn ein alter Mann an und sagte: „Du läufst von Dorf zu Dorf nach einem geschickten Schnitzer, Häuptling. Suchst ihn in der Ferne, und dabei hast du ihn zu Hause. Ich habe deine Frau oft gesehen und erinnere mich an ihr wunderschönes Gesicht. Wenn du willst, schnitze ich sie für dich.“

Und der alte Mann machte sich ans Werk. Das Meer hatte ihm vor einiger Zeit ein schönes Stück Holz angeschwemmt, daran begann er zu arbeiten. Als er fertig war, ging er zu dem Häuptling und sagte: „Komm und schau es dir an.“

Im Zelt des alten Mannes erblickte der Häuptling seine Frau. Sie saß dort, wie er sie immer hatte sitzen sehen, trug die gewohnten Kleider und sah so aus wie damals, als er sie zur Frau nahm.

Der Häuptling freute sich. Sein Leid wurde geringer. Er trug die Holzfigur in sein Zelt und belohnte den alten Schnitzer reichlich. Seitdem war der Häuptling nicht mehr allein. In seinem Zelt war die schöne Frau, und er sprach mit ihr wie mit einem lebendigen Menschen. Er saß bei ihr, nahm neben ihr die Mahlzeiten ein und erzählte ihr alles, was geschah. Nur dass die Frau kein einziges Wort sagte, quälte ihn.

Eines Tages aber schien es ihm, als ob sie seufze. Der Häuptling traute zuerst seinen Ohren nicht, aber das Holzbildnis rührte sich zum zweiten Mal, es begann zu atmen und hörte nicht mehr auf. Aber sprechen und sich bewegen konnte es nicht. Des Häuptlings Herz sang wieder. Seine schöne Frau schien ins Leben zurückzukehren.

Lange lebte der Häuptling glücklich mit dem Bildnis aus Holz. Aber auch dieses Glück dauerte nicht ewig. Eines Tages, als er bei der Figur saß, vernahm er einen tiefen Seufzer! Und dann knackte es, wie wenn ein Baumstamm zerspringt. Die Frau aus Holz starb. Als er sie von der Stelle, wo sie die ganze Zeit gesessen hatte, aufhob und wegtrug, erblickte er ein Bäumchen, das aus dem Lehmboden wuchs. In kurzer Zeit durchbrach es das Zeltdach und wurde zu einem hohen, stattlichen Baum, wie ihn die Menschen im Dorf noch nie gesehen hatten.

Sie nannten ihn Rote Zeder. Die Roten Zedern wachsen jetzt überall, wo Indianer leben. Aber die größten und schönsten gibt es dort, wo der junge Häuptling und seine Frau zu Hause waren. Von nah und fern kommen die Menschen herbei und schlagen hier die Zedern. Und wenn sie einen besonders schönen hoch gewachsenen Baum sehen, sagen sie: „Er sieht aus wie die Tochter der jungen Häuptlingsfrau.“

Indianisches Märchen

aus:
Warum die Bäume nicht mehr sprechen können, deutsch von Jan Vápenik
© Verlag Werner Dausien Hanau/Main 1976

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