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Der Küchentisch als Lernort

Schmecken und Essen in interkultureller Begegnung

Von Gabriele Mayer

Schmeckend lernen – lernend essen? Wieviel Lernen steckt im Essen? Was schmecken wir beim Essen, was können wir lernen für interkulturelle Begegnungen, wenn wir essen?

Schmecken

Die Überraschungseinladung zu FreundInnen als Dankeschön. Die Düfte begrüßen mich schon mit dem Öffnen der Tür. Fremd. Unbekannt. Ich schnuppere ganz bewusst, meine Nase ertastet sozusagen die Komponenten: Zimt, Mandeln vielleicht Gebratenes, oder was ganz anderes?

Nach dem Aperitif und Willkommensworten werden die Gäste zu Tisch gebeten. Das Experiment geht weiter, als die Suppe aufgetischt wird. Die Geschmacksnerven sind hellwach und gespannt auf die Eindrücke. Der erste Löffel: Oh! Ah! Die Konsistenz: wunderbar sämig, Farbe … Kurze Momente der Stille, in denen die Nerven das Neue abgleichen mit dem Bekannten, Namen suchen, die Gesamtkomposition sozusagen in Einzelteile zerlegen, um dann zu verstehen: Koriander ist enthalten, ein Gemüse, könnte Kohlrabi sein, aber woher kommt der ganz leicht süßliche Nachgeschmack?

Kennen Sie das? Ganz präsent sein beim Schmecken? Das Essen aufnehmen und in seinen Bestandteilen zu erkennen versuchen? Einverleiben und vom ersten Kontakt der Zunge bis zum Abgang die Geschmackskomponenten wahrnehmen, nach ein paar Löffeln oder ein paar Bissen das Gesamtkunstwerk genießen, es zu mögen oder klarzukriegen, was ich nicht so sehr daran mag. Manchmal bitte ich ums Rezept, habe eine Idee, was ich anders machen würde …

Hektisch geht das gar nicht! Frau muss verweilen können, sich einer Erfahrung von Fremdheit aussetzen, Weiterdenken wird angeregt.

Schmecken: eine intensive Lernerfahrung, über die wir leicht hinweggehen. Aber selbst wer nicht so sehr das Schmecken kultiviert – was jedeR kennt: die sofortige Abwehr, wenn ein Geschmack auftaucht, den frau verabscheut oder verdorbene Speise anzeigt. Das geht blitzartig, reflexhaft verziehen wir das Gesicht, eventuell spucken wir etwas aus.

Das Schmecken kann man im Sinne von Achtsamkeit üben und trainieren. Nehmen Sie mal eine einzige Rosine, befühlen Sie sie, betrachten sie und nehmen Sie sie dann in den Mund. Langsam nimmt sie die Wärme an, Feuchtigkeit auf, wird weich! Irgendwann löst sich (köstlich!) Zucker und Traubengeschmack daraus. Welche Fülle!

Unbekannte Gerichte sind eine Expedition ins Fremde, Unbekannte, die wir meist gemeinsam erleben. Das Zusammensitzen, Essen und Reden ist sozusagen eine horizontale Lernsituation.
(Sutter Rehmann, 2)

Häufig sind die Begegnungen übers Essen die ersten, die wir mit fremden Kulturen haben: Döner, Pizza, Sushi … noch ehe wir einen Italiener kennengelernt haben oder nach Japan gereist sind. Und selbst bei Reisen zu anderen Ländern und Kulturen ist häufig das Essen der erste Ort interkultureller Begegnung.

Lassen Sie uns einige Lernorte aufsuchen …

Zuhause, am Küchentisch
Von klein an lernen wir – auch durch Essen und Schmecken – und erfahren dies als einen Prozess des Neugierig- werdens, des Unterscheidens, des Vergleichens wie Eltern oder Geschwister reagieren. Wir verknüpfen damit Erfahrungen von Wohlgenuss und dem Gefühl von Gemeinschaft, mit Aufgehoben sein. Das wird später zum „Soul Food“, als Erinnerung an Zuhause.

Im dörflichen Kolonialwaren-Laden
Ein Dorf auf der Schwäbischen Alb, 60er Jahre bis 80er Jahre, fernab der Stadt. Das Regal mit den sogenannten „Kolonialwaren“, die von weither kamen, gaben dem dörflichen Laden einen exotischen Touch: Da waren die wärmenden Gewürze wie Pfeffer, Zimt, Muskat, die fremden Nelken, die teuren Safranfäden, die herrlichen Vanilleschoten.

Erinnerungen an das Einkaufen in der Kindheit. Gerüche verknüpften sich mit „exotischen“ Früchten, die den Geschmack von Kuchen bei besonderen Festen bereicherten. Selbst wenn die Früchte nur aus Dosen kamen.

Ab wann und wie haben sich einer Schülerin auch die weltweiten Zusammenhänge der kolonialen Abhängigkeiten erschlossen? Heute sind die einstigen Kolonialwaren und viele andere Produkte von weither selbstverständlich verfügbar. Ein Lernprozess über Herkunft, Produktionsbedingungen, wirtschaftliche Verflechtungen usw. ist vielleicht noch schwieriger geworden.

An Treffpunkten zwischen Einheimischen und Geflüchteten
– In Hamburg bei Brot & Rosen: www.brot-und-rosen.de
– In der Wochenendausgabe der taz. Unter „Genuss“ berichten JournalistInnen vom gemeinsamen Kochen mit Geflüchteten und beschreiben neue Rezepte.

Auch mit begrenzten Sprachkenntnissen kann etwas gemeinsam getan werden, werden Rezepte ausprobiert. Geflüchtete erfahren einen Ort, wo ihre Essenskultur gefragt ist, wo Erzählen stattfinden kann: Von wem kenne ich dieses Rezept? Welche Gewürze sind entscheidend für den Geschmack? Wie kommt man/frau zu den Gewürzen? Wann wurde es „Zuhause“ gekocht? Welche wirtschaftlichen Verhältnisse spiegelt es wider? Wer hat gekocht? Geflüchtete werden mit Kompetenzen erlebt. Und manchmal erwachsen daraus nächste gemeinsame Handlungsschritte.

Bei interreligiösen Begegnungen
Seit mehreren Jahren trifft sich in unserer Gemeinde eine türkisch-deutsche Dialoggruppe, besucht wechselseitig Moschee und Kirche, lernt gemeinsame Lieder und tritt als Chor bei regionalen Anlässen auf. Gemeinsames Kochen ist ein fester Bestandteil des Jahresprogramms: mit schwäbischen, aber auch mit türkischen Rezepten. Nicht nur Gesichter, Sprechweise, Gottesdiensträume werden vertrauter, sondern auch fremde Geschmacksrichtungen und Vorlieben „der Anderen“ werden mehr und mehr ins eigene Kochrepertoire aufgenommen – sie wurden von „Freunden“ gelernt.

Partnerschaften Eine Welt
Viele Kirchengemeinden oder Kirchenbezirke pflegen Partnerschaftsbeziehungen nach Afrika oder Asien. Wenn aus einer Projektunterstützung wechselseitige Besuche erwachsen, dann ist ein unmittelbares Begegnen und Lernen vonnöten.
Ein Beispiel: Eine Gruppe aus der Partnerkirche in Südkorea hat sich zu Besuch angemeldet. Ehrenamtliche Frauen haben mit großem Aufwand für den Begrüßungsabend Essen heimischer Couleur vorbereitet. Als die Gäste nach Reis fragen und das Buffet wenig Zuspruch findet, steht die Enttäuschung in den Gesichtern geschrieben: Hätten die sich nicht auch etwas anpassen können! Sind die so wählerisch?

Die Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf fremdes Essen einzulassen, ist tatsächlich unterschiedlich und sollte mit Behutsamkeit behandelt werden. Bei unseren internationalen EMS-Zusammenkünften haben wir gelernt, dass für Menschen, die drei Mal am Tag warmes Essen gewohnt sind, Abendbrot keine gute Alternative ist – sowohl für ihr physisches als auch psychisches Wohlbefinden. Nicht was einem aus der eigenen Küche wertvoll, nahrhaft oder aufwändig erscheint, ist das beste Gästeessen. Sondern was – insbesondere für Reisende oder belastete Menschen – am leichtesten verträglich ist. Gleichzeitig ist nicht jedes indische Restaurant ein Volltreffer für indische Gäste – schließlich haben sich indische Restaurants oft an den westlichen Gaumen angepasst und sind weit entfernt vom heimischen Ursprung. Warum nicht einfach die Gäste fragen, welche Art von Essen schmecken und bekömmlich sein könnte?

Interkulturelles Lernen

Welche Orientierungspunkte können hilfreich sein?
Fremdes als Fremdes wahrzunehmen, birgt zugleich die Einladung zu einem langsameren Tempo. Da ich mich nicht mehr auf einem Terrain von Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten bewege, tut ein langsameres Gehen gut. Dann kann ich auch leichter auch auf meine eigenen Vor-urteile aufmerksam werden und es mir leisten, sie zu befragen.

Beim Schmecken fremder Speisen, insbesondere in der Gegenwart von Menschen, für die diese Speisen vertraut und wohlschmeckend sind, werden neue Reaktionen nötig: Wie reagiere ich, wenn es mir gar nicht schmeckt? (vgl. EMW Lesebuch, Fufu-Geschichte)

Wie bewege ich mich in Situationen in denen sich das zubereitete Essen überraschend mit leisen Erwartungen verknüpft? (vgl. EMW Lesebuch, Salam's Hirsebrei-Geschichte)

Wie kann Respekt wachsen?
Wenn in interkulturellen Begegnungen die Fremdheitserfahrung eine Wertschätzung erfahren kann. Sie muss nicht immer honigsüß sein, im Gegenteil, sie kann auch „Bitterstoffe“ enthalten. Eine Beobachtung aus geschmacksveränderter Nahrung möge eine Brücke sein: In der westlichen Ernährung wurden in den letzten Jahrzehnten Bitterstoffe immer mehr herausgezüchtet – dabei regen sie Gallenfluss und damit die Verdauung an. Interkulturelles Lernen wird mit Bitterstoffen umzugehen haben. Beispielsweise wenn sich Gelegenheiten nutzen lassen, auch ökonomische, geopolitische und koloniale Belastungen aufzugreifen, die beiden GesprächspartnerInnen zunächst „bitter“ vorkommen mögen. Bittere Geschmackselemente verhindern, dass eine unrealistische exotische Nähe entsteht, jenseits konkreter Lebenswirklichkeit und Machtungleichgewichten in weltweiten Verhältnissen. Beispielsweise sind westliche Länder an den Fluchtursachen Geflüchteter weitaus mehr beteiligt als uns lieb und oft bewusst ist.

Menschen mit Migrationshintergrund, Geflüchtete, Minderheiten haben ein sensibles Gespür, wo europäisches Denken und Schmecken weiterhin den Ton bzw. die Geschmacksrichtung angeben will.
Motoo Nakamichi machte mich auf eine japanische Redeweise aufmerksam: Dort wird verwestlichtes Denken, europäisch geprägter Geschmack und Lebensart mit der Metapher „nach Butter stinken“ ausgedrückt. (Nakamichi, 2011)

Methodischer Vorschlag für einen Gruppenabend

– Gemeinsames Kochen, plus Zubereiten einer Ananasspeise.
– Vorlesegeschichte „Früchte am Straßenrand“ (aus: Afrikanische Begegnungen, 2002) – In drei Teilen vorlesen, von drei Gesprächsphasen unterbrochen.

1: Früher war sie der Inbegriff von Exotik. In prall gefüllten Taschen kam sie ins Haus, um die Weihnachtszeit herum, wenn uns Verwandte und Freunde aus dem Westen besuchten. Wie ein Bote der großen weiten Welt […] thronte sie auf dem Büffet. Wir Kinder strichen um sie herum, berührten sie vorsichtig, bewunderten andächtig die goldgelbe Farbe und die schuppige Schale und tankten uns mit ihrem Duft auf. Nach einem der üppigen Mitttagessen zwischen Weihnachten und Neujahr wurde sie geschlachtet. Wir aßen gemächlich, mit vor Saft triefenden Fingern, darauf bedacht, möglichst lange etwas von dem seltenen Genuss zu bewahren. Übrig blieben Schalen und dicke grüne Blätter, die weiterhin Sonnensüße und tropischen Duft im weihnachtlichen Wohnzimmer verbreiteten.

2: Hier sitzt eine alte, weißhaarige Frau etwas abseits vom Straßenübergang auf einer Kanga (Tuch) im Gras, neben sich eine Plastikschüssel, gefüllt mit im eigenen Saft badenden Ananasstückchen, duftend, bis in die letzte Faser durchgereift. […]
Ich knie mich neben die Frau auf den Rasen, einen Schilling kostet eines der fruchtigen Stücke, fünf Pfennige. Nach dem ersten Stück setze ich mich. Alle Warnungen davor, auf der Straße verkaufte oder gar rohe Nahrungsmittel zu essen, sind vergessen. „Noch eines?“ werde ich gefragt. „Gerne“.
Ich lege meine Tasche neben mich, suche eine bequemere Stelle auf dem Rasen, esse und esse. Zwischendurch erzähle ich, Englisch und Suaheli durchmischt, wo ich herkomme und wie ich Ananas kennengelernt habe. […]
Nur ganz wenige kurze weiße Haare bedecken den Kopf der Frau. […] Über ihre Wangenknochen verlaufen Linien mit kleinen Narben, die sich schwarz von der braunen Haut abheben und sich nach außen mit kleinen Fältchen vermischen. Eine rituelle Zeichnung sicher, Initiationszeichen, Zeichen ihrer Herkunft, ihres Standes, wer weiß? Ob ich sie danach fragen kann?
„Wo ist dein Mann?“ fragt sie. „In Deutschland.“ „Hast du Kinder?“ „Ja, ein Mädchen.“
Sie hat die neue Ananas abgeschält, köpft als letztes den Strunk und schneidet nun neue Stücke in die Schüssel, in den Saft der bereits verzehrten Früchte hinein. „Nimm“, sagt sie, und ich greife zu, obwohl mein Magen inzwischen überfüllt ist. Ich esse jetzt langsam.

3: Wo ihre Kinder sind, frage ich. Sie macht eine unbestimmte Handbewegung. Ob ich weiterfragen darf? Es mag ihr peinlich sein. Säße sie hier auf der Straße und verkaufte Ananas, wenn sie Kinder hätte, die sich um sie kümmerten?
Lebt sie schon lange hier, in Nairobi? „Ja“, sagt sie, „sehr lange“. […] und woher kommt sie? „Aus Karatina.“ „Karatina, da bin ich gerade gewesen“, rufe ich aus. Dann weiß ich nicht weiter. Ihre Einsilbigkeit verunsichert mich.
„Okay“, leite ich den Abschied ein und stehe auf. Da deutet sie mit dem Zeige- und Ringfinger ihrer rechten Hand auf ihre Wangennarben und streicht leicht darüber. „Die stammen von wazungu“. Von Weißen? Jetzt bringt sie sicher was durcheinander. Ich setze mich wieder. „Wazungu? Was haben sie gemacht?“ – „Als ich im Camp war.“ „In welchem Camp?“ „Im Camp von den Briten!“ Ich schaue sie überrascht an. Sie blickt auch jetzt nicht zu mir, sieht auf die vorüberfahrenden Autos, die Ananasschüssel, ihre Hände. „Ich habe meinem Mann Essen gebracht, er war Mau Mau.“ Wieder weiß ich nichts zu sagen. […] „Das tut mir leid“, sage ich hilflos. Ich erinnere mich jetzt: ein kenianischer Freund hatte erzählt, dass die Briten während des Mau-Mau-Krieges die internierten Kikuyu auf diese Weise markierten.

Vielleicht war es das Schuldgefühl, vielleicht auch die Hoffnung, mehr zu erfahren von ihr und ihrer Vergangenheit, was mich veranlasste, auf dem Rückweg eine Kanga zu kaufen. Schwarz-grün-rot gemustert. Aber die alte Frau war nicht mehr zu finden, auch am nächsten Tag blieb ihr Platz leer. Jeden Tag aufs Neue ging ich mit der Kanga los, in der Hoffnung, sie ihr schenken zu können. Ich traf sie nicht wieder.

Die Kanga war auch bei der Heimreise in meinem Gepäck.

© Christiane Reichart


In der Kreismitte oder Tischmitte steht ein flacher Korb mit zwei bis drei fair gehandelten Ananasfrüchten.

(V-Vorlesen, F-Frage fürs Gruppengespräch)
V1: Vorlesen 1. Absatz:
„Früher … weihnachtliches Wohnzimmer verbreiteten.“
F1: „Was sind meine frühesten Erinnerungen an Ananas?“
Austausch in der Gruppe

V2: Vorlesen 2. Absatz:
„Hier sitzt … Ich esse jetzt langsam. Wo ihre Kinder sind, frage ich.“
F2: „Kenne ich Situationen, in denen fremde Speisen in ihrem, für mich fremden, Kontext gekostet und gefeiert wurden?“
Austausch in der Gruppe.

V3: Vorlesen des 3. Absatzes:
„Sie macht eine unbestimmte … er war Mau Mau.“
F3: „Wie können wir Fremden so begegnen, dass ihre Lebenslinien sichtbar werden können?“
Austausch in der Gruppe.

– Gemeinsames Genießen der Ananas­speise
– Abschluss mit einem Lied oder Gebet aus der weltweiten Ökumene.

Gabriele Mayer, PhD., Stuttgart, arbeitet bei der Evangelischen Mission in Solidarität, einem internationalen Missionswerk mit Mitgliedskirchen auf drei Kontinenten, Stabsstelle Gender & Interkulturelle Bildung.

Literatur
„50 Rezepte aus aller Welt“ zu 50 Ausgaben der Herrnhuter Losungen. Hg. v. Dorothea Weller, Friedrich Reinhardt Verlag, Basel, o.J.
Luzia Sutter Rehmann, „Essen – welche Offenbarung!“, in: Zeitschrift Junge Kirche 3/2015, S.1-4
Josef Schönberger: die wiederentdeckung des respekts. Wie interkulturelle begegnungen gelingen. Ein Lesebuch. Kösel 2010
Afrikanische Begegnungen. Ein Lesebuch. EMW Hamburg 2002

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