Alle Ausgaben / 2002 Artikel von Dietlind Steinhöfel

Der liebe Gott sieht alles!

Wider einen pädagogischen Missbrauch Gottes

Von Dietlind Steinhöfel

(Auszug)

Als ich in die erste oder zweite Klasse ging, beneidete ich eine Mitschülerin, die ein kleines Taschengeld erhielt. Eine andere bekam sogar Geld für gute Noten. In unserer kinderreichen Familie reichte der schmale Verdienst meines Vaters gerade so für die notwendigen Dinge des Lebens. Wir mussten zwar nie hungern und frieren, aber Taschengeld war nicht zu erwarten. Aber man wollte doch „mithalten“ können! Ich kam auf die Idee, meiner Mutter hin und wieder einen Pfennig aus dem Portemonnaie zu stehlen. Das würde sie nie merken, dachte ich, und eines Tages hätte ich auch mal 20 Pfennige zusammen und könnte mir etwas kaufen. Das Portemonnaie meiner Mutter lag immer oben rechts im Küchenschrank. Ich reichte nur hinauf, wenn ich den Küchenstuhl an den Schrank schob. Und tatsächlich: Einige Male ging das gut. Doch eines Tages war ich wohl etwas unvorsichtig. Meine Mutter kam gerade dazu, als ich „meinen“ Pfennig in der Hand hielt. Ich stand noch auf dem Stuhl und war sehr erschrocken. Meine Mutter gab mir keine Ohrfeige. Ich kann mich auch sonst an keine Strafe erinnern, nur den enttäuschten und strengen Ausdruck in ihrem Gesicht und ihre Behauptung, dass sie es schon lange gewusst hätte. „Ich merke auch, wenn ein Pfennig fehlt. Ich zähle mein Geld immer ganz genau.“ Sie hätte auch mich in Verdacht gehabt, nicht etwa meinen Bruder. „Eine Mutter weiß alles“, schloss sie und beschämte mich furchtbar.

Ähnliche Erinnerungen habe ich an den Satz „Der liebe Gott sieht alles“. Dass meine Eltern damit drohten, erinnere ich nicht. Aber andere Erwachsene traktierten ihn, wenn wir etwas ausgefressen hatten. Oder sie sagten: „Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.“ Selbst Kinder aus atheistischen Elternhäusern redeten so, wenn sie sich selbst oder andere „warnen“ wollten vor Streichen oder kleinen Lügen. Das Verhältnis zu einem „lieben“ Gott wurde dadurch jedoch eher gestört als gefördert. Gott wurde als jemand empfunden, der sich überall einmischt, der sein wachsames Auge über allem hat und einengt.

Diese Angst vor Gottes Allgegenwart wurde lange Zeit weitergegeben und als pädagogisches Mittel eingesetzt. So wie die Angst vor dem Nikolaus mit der Rute, der den „bösen Kindern“ nichts in ihren Schuh steckt. Dabei war doch gerade der heilige Bischof Nikolaus jemand, der beschenkte und half! Nach der Legende rettete er zwei Mädchen, von denen nicht etwa gesagt wird, dass sie besonders brav waren. Es waren Mädchen, denen Gefahr drohte wegen ihrer Armut. In einer anderen Legende rettet er die Kinder seiner Stadt, indem er den Kirchenschatz frei gibt. Alle Kinder, nicht nur die braven, wohlgemerkt! Doch das haben die Erwachsenen nie betont. So haben sie uns Ängste vermittelt, die unser Leben beeinflussen und die wir unbewusst weitergeben an unsere Kinder und Kindeskinder. Aus Überzeugung oder Hilflosigkeit. In seiner Geschichte „Meine Angst lässt grüßen“ schreibt der Berner Pfarrer und Dichter Kurt Marti „Meine Angst zum Beispiel ist, bevor sie auf mich kam, die meiner Mutter gewesen.“ Wie können wir umgehen mit ihr? Können wir unsere Angst so einfach „aus dem Fenster werfen“, wie der Ich-Erzähler der Kurt-Marti-Geschichte es versucht?

 

Baustein für die Gruppenarbeit

 

Den Frauen soll bewusst werden, welche Rolle „Redensarten“ in unserem Leben einnehmen, wie stark sie uns beeinflussen. Das muss aber nicht explizit benannt werden, da bei jeder Teilnehmerin durch das Erzählen/Malen/Gestalten eigene Empfindungen geweckt und mitunter auch Ängste freigelegt werden. Vielleicht gelingt es, im offenen Gespräch manches aufzuarbeiten.

Die Gruppenleiterin schreibt eine Reihe von Sprichwörtern und Redensarten auf eine Tafel oder ein Plakat. Die Teilnehmerinnen ergänzen diese noch. Beispiele: Der liebe Gott sieht alles / Lügen haben kurze Beine / Kleine Sünden straft der liebe Gott sofort / Ein gut Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen / Besser arm in Ehren, als reich in Schanden / Jeder zahlt seine Zeche…

Die Teilnehmerinnen bilden kleine Gruppen, wählen einen dieser Sätze aus und erzählen einander dazu Geschichten. Das kann eine selbst erlebte, selbst erfundene oder eine aus der Literatur sein, zum Beispiel ein Märchen. Drei Geschichten, also drei Gruppen, sind ausreichend! Es muss Zeit eingeplant werden für ein offenes Gespräch im Anschluss. Ist die Gruppe sehr kreativ, können die Sprichwörter auch bildnerisch umgesetzt werden.

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