Ausgabe 1 / 2024 Andacht von Maria Goetzens

Der Menschensohn aber hat keinen Ort

Eine Meditation aus der Perspektive Obdachlosigkeit

Von Maria Goetzens

Jeden Morgen, noch bevor sich die Türen der Elisabeth-Straßenambulanz für die kranken wohnungslosen Menschen in der Großstadt Frankfurt öffnen, wartet Josef schon dort. Eigentlich hat Josef einen anderen Namen, aber nennen wir ihn heute einmal so. Josef erinnert uns:

Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann. Mt 8,20

Gott wohnt überall, so hören wir immer wieder. Und: Der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann. Wie passt das zusammen? Auch Josef hat keinen Ort, wohin er sein Haupt legen könnte – wie der Menschensohn. Josef kann nicht auf das Menschenrecht auf Wohnen bauen – worauf baut er dann?

Jetzt, wo es sehr kalt ist, trägt Josef verschiedene Jacken übereinander. Neulich kam er in eine große Decke gehüllt, die eigentlich ein alter Matratzenschoner war, den er „irgendwo“ gefunden hatte. Wie immer folgt auf Josefs knappes „Guten Morgen!“ die erwartungsvolle Bitte: „Kann ich ´ne Tasse Kaffee haben?“ Wie jeden Morgen lautet die Antwort: „Ja, gleich, einen Augenblick noch, der Kaffee läuft gerade durch!“ Josef lächelt und wartet geduldig vor der Tür, bis er eingelassen wird, um den ersten Schluck heißen Kaffee zu genießen.

Josef redet kaum, sitzt an der Heizung und beobachtet das geschäftige Treiben des Ambulanzteams, das Vorkehrungen trifft, um in wenigen Minuten die Türen zu öffnen für alle, die einer medizinischen oder pflegerischen Behandlung bedürfen.

Sag, Josef, worauf baust Du?
Du bist heimatlos,
stets in Bewegung,
arm.
Worauf baust Du,
wenn Du da draußen wartest?

Josef ist seit vielen Jahren einer der kranken Menschen ohne Wohnung oder Obdach. Er ist psychisch krank. Früher konnte er gar keine Hilfe annehmen. Jahrelang kam er „nur“, um sich im Wartezimmer aufzuwärmen oder auch mal einen Kaffee zu „schnorren“. Fast immer „musste“ er irgendetwas verstellen, verbiegen, oder „mitgehen“ lassen. Das war wie eine Regel für ihn, eine Art Fingerabdruck: Seht, ich war da!

Natürlich fand dies nicht immer Beifall. Aber im Team überwog die Freude darüber, dass dieser schwer kranke Mensch überhaupt den Weg in die Ambulanz gefunden hatte. An Tagen, an denen er ausblieb, sorgten sie sich um ihn.

Sag, Josef, wo bist Du zuhause?
Wir warten auf Dich
und nähern uns Dir
und Deiner Wirklichkeit.

Und wie nähern wir uns? Wie im Gedicht:

„Annäherung an die Wirklichkeit“

nicht durchblicken
sondern anblicken

nicht im griff haben
vielmehr ergriffen sein

nicht bloß verstehen
auch zu dir stehen

nicht durchschauen
einfach nur anschauen

so werden wir wirklich
wir

Andreas Knapp

Josef kann im Laufe der Jahre immer etwas mehr Vertrauen fassen, lässt schließlich kleinere und größere Hygienemaßnahmen zu – wobei er stets selbst die Abstände und den Umfang der Maßnahmen bestimmt. Auch das Gespräch mit der Psychiaterin und eine medikamentöse Behandlung in Form einer Depotspritze sind inzwischen möglich.

Dennoch bleibt Josef chronisch krank, wählt die Straßen der Stadt als Lebensmittelpunkt. Er kann eine Vermittlung in eine Unterkunft oder gar ein dauerhaftes Einzelzimmer aufgrund seiner psychischen Erkrankung nur sehr punktuell oder gar nicht annehmen.

Die Welt ist kein dauernder Ruheort für Dich.
Sag, Josef, worauf baust Du
mit deinen Krankheiten und Süchten,
deinen Ängsten und Verrücktheiten
im Leben da „draußen“ in Armut?

Für die Mitarbeiter*innen der Ambulanz ist Josef einer, der sich ein Zuhause so ganz anders aufbaut, als es den eigenen Vorstellungen entspricht. Im Laufe der Jahre – inzwischen sind es schon zwei Jahrzehnte – ist Josef für sie zu einem Menschen geworden, der sie lehrt, worauf es im Leben ankommt, was wirklich zählt. Er lehrt, was Zuhause-Sein bedeuten kann, selbst wenn ich obdachlos und krank bin.

Seine Frage „Kann ich ´ne Tasse Kaffee haben?“ ist den Mitgliedern des Teams inzwischen sehr vertraut. Sie ist wie eine dringliche Bitte am Morgen, die doch frei lässt. Denn wenn es einmal keinen Kaffee gibt, kommt Josef auch am nächsten Tag wieder und fragt nach. Ohne Vorwurf, ohne Klage. Einfach ein Beziehungsangebot von seiner Seite.

Noch bevor jemand ihm den Kaffee reicht und in das tägliche Ritual einsteigt, fühlt er oder ?sie sich beschenkt von dem Vertrauen und der Beziehungsanfrage, die Josef ihr oder ihm hinhält.

Josef baut auf Vertrauen.

Bei Josef wird es vermutlich keine „Wunderheilung“ von seiner psychischen Erkrankung geben, die ihn und seine Gedankenwelt stark beeinflusst. Gleichzeitig wächst, unmerklich und doch spür- und sichtbar, bei Josef im Team Vertrauen. Vertrauen ist wesentlich für eine gelingende Beziehung und Gemeinschaft. „Vertrauen ist immer ein Wagnis mit offenem Ausgang“, sagt die Theologin und Pädagogin Gisela Baltes.

Sag, Josef, worauf baust Du?
Was gibt Dir den Mut
Vertrauen zu wagen?
Die guten Erfahrungen?
Das Loslassen der Erwartungen?
Die Kraft Deiner Freiheit
Du selbst zu sein
auch in Krankheit und Not?

Josef sucht die Straßenambulanz täglich auf, letztlich nicht zur Behandlung. Für ihn ist die Straßenambulanz ein Ort des Ankommens, eine vertraute Gemeinschaft, „ein Zuhause“. Auch wenn die Mitarbeiter*innen die Rollen als Ärztin und Therapeut, als Gesundheits- und Krankenpflegerin bewusst einnehmen – in der jahrelangen Weggemeinschaft mit Josef ist für sie alle eine Beziehung jenseits der therapeutischen gewachsen.

Zunächst hat „die Not“ von Josef ein Echo in den Herzen hinterlassen. Wenn sie sich heute begegnen, sind Liebe und Dank für das gewachsene Vertrauen und seine gewachsene Beziehungsfähigkeit spürbar. Dieses Potential an Liebe und Vertrauen bleibt jenseits aller Krankheit unzerstörbar. Oft ist es verborgen – und doch erlebbar im Innersten dieses verwundeten Menschen, der in und mit seiner psychischen Erkrankung ein wunderbarer Mensch ist und bleibt.

Sag, Josef, worauf baust Du?
Wir lernen:
Du baust auf das Potential in Verwundung,
zeigst Deine psychischen Gebrechen
als Eingangstor
zu deinem unzerstörbaren Reichtum an Vertrauen,
in dem Gott wohnt.

Es sind die Armen und arm Gemachten, die uns den „langen, liebenden Blick“ auf das Leben in all seiner Kostbarkeit lehren. Sie lehren uns, worauf es ankommt im Leben und Sterben, was bleibt und unzerstörbar ist, worauf es sich lohnt zu bauen.

Josef,
Du spürst die Liebe, siehst das Vertrauen.
Darauf baust Du!
Bauen auch wir darauf
und knüpfen Beziehung?

Dr. Maria Goetzens MMS ist Missionsärztliche Schwester. Sie leitet die Elisabeth-Straßenambulanz in Frankfurt, die vom Caritasverband Frankfurt e.V. getragen wird.
www.missionsaerztliche-schwestern.org

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