Alle Ausgaben / 2017 Material von Ernst Fischer

Der Tag, als die Atomwolke nach Cham kam

Von Ernst Fischer

Vor 30 Jahren passierte der Atom-GAU in Tschernobyl. Die Menschen im Bayerwald hörten erst vier Tage später davon. Chronik der Berichterstattung in der Mittelbayrischen Zeitung

Samstag, 26. April 1986 – Gesprächsthema des Tages: Der FC Bayern München wird Deutscher Meister – völlig überraschend: knapp nach Torverhältnis. Keiner hatte mehr daran geglaubt. … In einem Atomkraftwerk in der Ukraine kommt es an diesem Tag zum größten Kernreaktorunfall in der Geschichte der Atomenergie. Es wird vier Tage dauern, bis die Menschen im Landkreis Cham davon hören.

Montag, 28. April – Der Chamer VdK beklagt die Rentenpolitik in Bonn. … Kein Wort von Tschernobyl. Wetter: Starke Bewölkung, teilweise anhaltender Regen.

Dienstag, 29. April – Die Welt weiß immer noch nichts von Tschernobyl. … Am 25. April hatte Landtagskandidat Reinhard Schmidt mit einem Grünen-Bundestagsabgeordneten bei einer Anti-WAA-Veranstaltung vor den Risiken der Atomkraft gewarnt: „Bei Reaktorunfällen hat es schon Tote gegeben.“ … Dazu schreibt Dr. Fischer vier Tage später, das seien „absurde und polemische Horrorszenarien“. Der Umweltstaatssekretär wörtlich: „Dass Kernkraftwerke sicher betrieben werden können, bestätigen jahrzehntelange Erfahrungen.“
Da war Tschernobyl schon drei Tage in die Luft geflogen. Und wir wussten alle immer noch nichts davon.

Mittwoch, 30. April – Die erste Nachricht auf der MZ-Titelseite: „Hilferuf nach der Atomkraft-Katastrophe“. Dazu eine Grafik mit der radioaktiven Wolke, die sich über Europa ausbreitet: ein Dreieck von der Ukraine Richtung Nordwesten zwischen Dänemark und Finnland. Unterzeile: „Deutsche Meteorologen sehen Gefahr durch veränderte Windrichtung.“ …

Freitag, 2. Mai – Die MZ-Titelseite: „Schreckensbilanz“ mit „Skepsis“: Moskau spricht von zwei Toten und 197 Verletzten in Tschernobyl, westliche Schätzungen liegen viel höher. In Cham herrscht noch Feiertagsruhe vom 1. Mai. … Der Chamer Bürgermeister Leo Hackenspiel (Freie Wähler) hat mit dem CSU-Staatssekretär Dr. Max Fischer eine „Große Koalition“ mit grünen Absichten zuwege gebracht: Zum Tag des Baumes pflanzten sie gemeinsam 14 immer rarer werdende Stammgehölze – Ahorn, Kirschbäume, Birken und Kastanien. Das Echo schreibt: „Nach der anstrengenden Arbeit strebten die eifrigen Baumpflanzer schnell dem nahegelegenen VSG-Vereinslokal zu, um sich bei einer Maß von den Strapazen zu erholen.“ – Wetter: heiter bis wolkig und trocken. Heute wissen wir: Der Wind in Europa hatte gedreht – wie befürchtet. Die Tschernobyl-Wolke nahm auch eine Kurve über Österreich und Bayern: Am 2. Mai ist sie auf heutigen Karten genau über München verortet.

Samstag, 3. Mai – Die MZ titelt: „Rat zur Vorsicht beim Genuss von Frischmilch –Strahlenkommission warnt vor erhöhten Jodwerten“. Und es gibt „Streit um die Folgen von Tschernobyl“. Genscher verurteilt „Ausschlachtung“, Grüne fordern „Konsequenzen“ …

Montag, 5. Mai – Das Bundesinnenministerium meldet: „Strahlenbelastung in der Luft sinkt, Werte am Boden steigen.“ Erste Meldung zu Tschernobyl im Lokalteil: Dr. Max Fischer erklärt: „Es besteht keine Gefahr!“ … Der Katastrophenschutzbeauftragte im Landratsamt erklärt: Die Strahlung im Landkreis sei so niedrig, dass man sie mit einem normalen Geigerzähler nicht messen konnte. …

Dienstag, 6. Mai – Landrat Ernst Girmindl … rät, Obst vor dem Verzehr „besonders zu waschen“ und Blattgemüse zu meiden. Girmindl zur Lage: „Wir wissen nicht mehr als das, was die Medien verbreiten.“ Und: Der ABC-Messtrupp im Katastrophenstab des Landkreises hat nur ein Strahlen-Messgerät, das auf die so „geringen“ Belastungen offenbar gar nicht anspricht.
Molkerei-Direktor Hans-Jürgen Barth geht an die Öffentlichkeit. Milchbauern wurden in einem Rundschreiben aufgefordert, kein Grünfutter mehr zu verfüttern – „rein vorsorglich“. Barth: „Der Verbraucher kann ohne Sorge Frischmilch aus der Chamer Molkerei verwenden.“ Die Strahlenwerte seien „im Bereich des Normalen“. Trotzdem: Die Italiener wollen keine Milch mehr aus Cham: alle Lieferungen gestoppt. …

Mittwoch, 7. Mai – Titelzeile in der MZ: „Bodenbelastung weiter gestiegen“. Lokales: Für Kindergärten und Schulen werden „Vorsichtsmaßnahmen“ angeordnet. Die Kleinen dürfen nicht mehr draußen spielen. Sportunterricht findet nur in der Turnhalle statt. Die Schüler werden „aufgerufen, sich nach allen Freizeitaktivitäten gründlich die Hände zu waschen, öfters die Haare zu pflegen und die Kleider zu wechseln.“ Die Biologie-Lehrer klären in allen Klassen über die Wirkungsweise der Radioaktivität auf.

Freitag, 9. Mai – Die MZ zitiert Innenminister Friedrich Zimmermann: „Keine Gefahr – aber die Vorsorge ist nötig.“ Lokales: Das Chamer Frühlingsfest „eröffnet mit fröhlichem Klang“. Zu Tschernobyl: „Der Landkreis Cham muss mit Regensburger Messwerten leben.“ Recherchen des Bayerwald-Echo haben ergeben, dass es hier keine eigene Mess-Stelle gibt.

Samstag, 10. Mai – Das Thema ist wieder weg von der MZ-Titelseite. … Lokales: Die Waldmünchner sind aus Berlin zurück. Sie haben einen Maibaum vor dem Schöneberger Rathaus aufgestellt und sich mit großer Parade auf dem Ku'damm gezeigt. … Und im Bayerwald-Echo schreibt Erwin Gnan als „Schorschi“ in seiner Filser-Kolumne an die „Liebe Kathi“: „Indem, daß es dem Russen sein erstes Atomkraftwerg zerrisen hat, strahlt der Mai bei uns wie nie zufor…“

26. April 2016
auf:
mittelbayrische.de gekürzt; vollständiger Text unter: http://www.mittelbayerische.de/region/cham/gemeinden/cham/der-tag-als-die-atomwolke-nach-cham-kam-22798-art1370949.html

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