Das Zeitalter der Expeditionen ist abgeschlossen. Heute finden die Erkundungen im Inneren statt. Aber uns fehlt ein Alexander Humboldt für das Innere.
Humboldt … stand am Anfang einer euphorischen Wissenschaftsbegeisterung, die sich mit dem Entdecken des Fremden beschäftigte und Einflüsse von außen zuließ, die die eigene Kultur beseelten und formten. Auch heute gelten Humboldts Forschungsreisen als Inspirationsquelle und Bezugspunkt einer Öffnung zur Welt, die humanistischen Idealen entspringt und Menschenneugier und Naturkunde auf kreative Weise miteinander verbindet. So entstand ein sich an der Welt orientierender Heimatbegriff. Ein Gegenbegriff zur Scholle, zur Heimat im Schrebergartenformat, ein weit atmender Kosmos, der nicht durch künstliche Grenzen zerstückelt, sondern durch die Beziehung der Dinge untereinander erweitert und vertieft wird.
Sollte man sich heute nicht wieder mit den Humboldt'schen Begriffen des „autonomen Individuums“ oder des „Weltbürgers“ auseinandersetzen? Humboldts vielfältige Tätigkeiten wurden von einer ganz persönlichen, individuellen Neugier angetrieben, die der Ferne ihren Schrecken nahm, nicht aber ihr Geheimnis. Die Autonomie des Einzelnen wurde einerseits zu einem ethischen Prinzip, das es dem Menschen ermöglichte, seine individuellen Fähigkeiten auszubauen und ein unverwechselbares Leben zu führen. Andererseits war er in der Lage, Heimat in der Welt zu sehen, jenseits von Sprach-, Kultur- und Ständegrenzen. Doch diese Fundamente, die den neugierigen, aufnahmebereiten Einzelnen auf Reisen schicken, sind heute durchaus bedroht. Kultur und Identität werden wieder stärker als Kapsel wahrgenommen, die mehr Schutz bieten soll, als Keimzelle einer Öffnung nach außen zu sein. Ist der Weltbürger für uns vielleicht nur ein durch seine Heimatlosigkeit und Ungebundenheit immer unter Verdacht stehender Träger einer neuen unwirtlichen Welt geworden? Welterfahrung scheint heute im Zeitalter der weltweiten Kommunikation leicht und selbstverständlich zu sein. Sie ist aber nur noch schwer eingrenzbar und überfordert den Bürger in seiner Hütte. Rasch sind die geistigen Aufnahmekapazitäten erschöpft. Oft setzt eine Blockade ein, der wir uns nicht einmal bewusst sind. …
Dabei gibt es gerade in Bezug auf die deutsche Aufklärung und den Islam eine lange und intensive Berührungsgeschichte. Die Orientalistik als akademisches Fach ist vor allem eine deutsche Kreation. Sie hat nicht nur zur Exotisierung einer als fremd wahrgenommenen Welt geführt, sondern auch viel Nachbarschaft geschaffen. Wer heute darüber diskutiert, ob der Islam ein Teil der deutschen Kultur sei, kennt weder seinen Goethe noch seinen Lessing und schon gar nicht seinen Rückert, den genialen Übersetzer aus den orientalischen Sprachen. Er weiß nichts über die muslimischen Engelmotive bei Rilke. …
Warum also diese Verkrüppelung in den Identitätsdebatten, in denen ein oberflächlich beschnittener Begriff der eigenen Kultur gepflegt wird? Geht es hier wirklich um Fremde, die man integrieren möchte, oder vielmehr genau um das Gegenteil, um ihre Ausgrenzung? Wahrscheinlich weder noch. Es geht eher um das eigene Selbstverständnis, um ein Unbehagen an der eigenen Identität. Es geht um ein Selbstgespräch. Gibt es ein Maß für das Gewicht des Fremden? Wie viel Fremdes verträgt Deutschland?
In der Integrationsdebatte streiten in erster Linie die Alteingesessenen über ihr Verhältnis gegenüber den Fremden. Das erklärt, warum so wenig von diesen Debatten bei denen ankommt, um die es angeblich geht, bei den Einwanderern. Wie geht man mit Unterschieden in einer pluralistischen Gesellschaft um, wie definiert man Gemeinschaft? Dabei wären die eigentlichen Grundlagen der westlichen Zivilisation, die Neugier und die Skepsis, aus denen sich die größte Kreativleistung der Menschheitsgeschichte entwickelt hat, auch heute die richtigen Ratgeber im Gespräch mit einer anderen, der islamischen Kultur, die diese Grundlagen eingebüßt hat und sich deshalb in einer großen Krise befindet. Neugier und Skepsis verhindern die Aufstellung einfacher Behauptungssätze. Sie tragen zu einer Kultur der Selbstkritik bei und öffnen die Poren zum Austausch.
aus:
Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift
© edition Körber-Stiftung
Hamburg 2011
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