Ausgabe 2 / 2017 Bibelarbeit von Rita Müller-Fieberg

Die Angst nicht siegen lassen

Bibelarbeit zu Joh 16,33

Von Rita Müller-Fieberg

Angst hat global Hochkonjunktur. Diesen Eindruck mag man gewinnen beim Blick auf unsere Tage: Kriege ohne absehbares Ende, Flüchtlings­elend, Terroranschläge, das Erstarken rechten Gedankengutes … Die Liste des Schreckens und der Bedrohungen ließe sich noch weiter fortführen. In den Abschiedsreden des Johannesevangeliums setzt Jesus der Angst mit prominenten Worten Ermutigung und Zuversicht entgegen – auch für heute?

„In der Welt habt ihr Angst …“

Joh 16,33 ist nicht in den luftleeren Raum hineingesprochen: Der Evangelist hat in den Kontext des letzten Abendmahls eine lange Ansprache Jesu an seine Jünger/innen hineinkomponiert. Sein Jesus spricht hier im Angesicht der bevorstehenden Auslieferung, Gefangennahme, Verurteilung und Kreuzigung. Situativ gesehen ist er selbst in der Si­tuation zwischen „Vertriebenwerden“ aus einer ihm gegenüber feindlich gesonnenen Welt und „Ankommen beim Vater“ (vgl. Joh 16,28). Sein Vermächtnis für die kommende Zeit trifft die Jünger/innen in einem Moment der Verunsicherung. Mit dem Tod Jesu am Kreuz wird für sie die größte Krise ihrer Nachfolge verbunden sein – ihre bisherige Welt wird zusammenbrechen (vgl. Joh 16,32).
Jesus beschönigt nichts. An anderen ­Orten der Bibel mag (zu Recht und unverzichtbar!) die Schönheit von Gottes guter Welt gepriesen werden – für den vierten Evangelisten steht die griechische Vokabel „kosmos“ vor allem für Gottferne und Lebensfeindlichkeit. Diese „Welt“ ist hier kein gastlicher Ort. Sie ist – nicht nur für die Nachfolger/innen Jesu – verbunden mit der Erfahrung von Drangsal und Druck. Auch diese Be­deutungen kann das griechische Wort ­„thlipsis“ besitzen. Wo es mit „Angst“ übersetzt wird wie in der Lutherübersetzung, steht im Hintergrund kein vages Gefühl, sondern die Reaktion auf eine bedrängende, lebensbedrohliche Realität von Kreuz und Leid.

„… aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“

Angst und Bedrängnis werden nicht klein geredet – doch sie werden von Ostern her in einen neuen Bezugsrahmen gestellt. Den Jünger/innen wird schon in dieser Situation und darüber hinaus die Gewissheit zugesprochen, dass der Gott, der das Leben liebt, in Jesu Tod und Auferstehung den Sieg über Gewalt und Leid davonträgt. Für ihn und für alle gilt fortan: Das Recht des vermeintlich Stärkeren wird nicht das letzte Wort behalten!
Dieser Zuspruch hat durchaus einen ­„eschatologischen“, letztgültigen Grund­ton: Er zeugt davon, dass schon im Hier und Heute etwas Neues begonnen hat – eine neue Zeit, deren Vollendung noch aussteht, die aber schon mitten in diese Welt hineinragt und Spuren zieht. Angezielt ist damit keine Jenseitsvertröstung, sondern vielmehr ein Starkmachen für das Leben in dieser Welt. „Seid getrost!“ – das ließe sich auch übersetzen mit: Habt Mut! Lasst euch nicht von der Angst regieren! In den ­johanneischen Abschiedsreden sichert Jesus seinen Jünger/innen zu, dass sie auch nach Tod und Auferstehung den Weg der Nachfolge nicht alleine gehen müssen. Es begleitet sie dabei als Wegführer, als „Tröster“ und „Beistand“ („Paraklet“) Gottes stärkender „Geist der Wahrheit“ (Joh 16,13).

Und heute?

Wer Joh 16,33 heute hört, denkt vermutlich über den Kreis der ersten Jünger/innen Jesu hinaus und transponiert den Gedanken von damals unwillkürlich in Erfahrungen und Bilder des 21. Jahrhunderts. Das mögen ganz persönlich geprägte Bilder, Nöte und Ängste sein. Darunter werden aber auch solche sein, die medial vermittelt oder auch direkt erlebbar über den Alltag auf unseren Straßen, in unseren Schulen, Gemeinden und anderen Lebensbereichen in unsere Wirklichkeit getreten sind und die uns zeigen, dass die Welt ein glo­bales Dorf geworden ist: Klimawandel und Erderwärmung. Vom Krieg zerstörte Städte. Unüberblickbar große Flüchtlingslager. Religiös motivierter Hass. Menschen, die gezeichnet sind von Gewalt und Verfolgung. Bootsflüchtlinge im Mittelmeer. Unüberwindbar scheinende Hürden der Sprache und Bürokratie. Terror, der in unsere alltäglichsten, liebgewonnenen Lebensgewohnheiten einbricht: im Café, beim Konzert, im Zug, auf dem Weihnachtsmarkt … Erregte Fernsehdebatten um die Sicherheit der Menschen in unserem Land. Versuche, Mauern und Zäune zu ziehen. Populistische Parolen auf Straßen und Plakaten.
„In der Welt habt ihr Angst …“ – diese Angst kann in unserer Lebenswirklichkeit 2017 sehr verschiedene Gesichter tragen. Subjektiv wahrnehmbar ist vielerorts ein steigender Angstpegel. Dem steht die bleibende Aufgabe gegenüber, die Ängste und Bedrängnisse – ­eigene und fremde – achtsam und nüchtern ernst zu nehmen, sie realistisch einzuschätzen und sie einzubinden in die „größere Hoffnung“, die christliches Denken und Handeln bestimmen sollte.

In Christus Frieden haben

Die Zusage in Joh 16,33 besitzt einen hohen Bekanntheitsgrad. Weniger Beachtung findet oft der erste Teil des Verses, der das Ziel der Abschiedsreden formuliert und dabei das große Sehnsuchtswort (nicht nur) unserer Tage in die Mitte stellt: „Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt.“
„In Christus sein“ – das bedeutet: in Einheit mit ihm leben, teilhaben auch an seiner Auferstehung. „In Christus Frieden haben“ ist nicht gleichzusetzen mit Passivität und Ruhe. Wer in Christus Frieden hat, der weiß, dass sein Leben getragen ist, dass er furchtlos handeln kann in dem Vertrauen darauf, dass er selbst nicht alles leisten muss.
Bezogen auf die Thematik von Flucht und Migration in unserer Zeit, ist ein solcher „Frieden in Christus“ schlicht unvereinbar mit einem „Lasst uns in Frieden!“ gegenüber denjenigen, die als Bedrängte zu uns kommen. Denn wenn es um den Umgang mit Fremden geht, ist die Botschaft der Bibel von großer Eindeutigkeit. Ihre Schriften, die oft selbst in einem Kontext von Exil, Flucht ­und Vertreibung entstanden sind, sind eingebettet in den großen Bogen menschlicher Geschichte zwischen der Vertreibung aus dem Paradies und dem Ankommen in Gottes neuer Welt. In dieser Geschichte werden die Menschen immer wieder zu Ausgelieferten und Aufbrechenden, rastlos und ruhelos (Gen 4,12) – unter ihnen so pro­minente Gestalten wie Abraham, Sara, Hagar, Jakob und Mose. Aus der Ursprungserfahrung Israels, der Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens, erwächst immer wieder die Aufforderung, den Fremden im eigenen Land zu achten und zu lieben (vgl. z.B. Lev 19,33f; Dtn 26,5-10). Im Matthäusevangelium, das schon den jungen Jesus als bedrohtes Flüchtlingskind zeichnet (Mt 2,13-15), identifiziert sich sehr grundsätzlich auch Jesus beim Weltgericht mit den Fremden: „Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen […] Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,35.40).
Der „Schalom“ im Alten Testament ­bezeichnet sehr umfassend ein heiles Verhältnis zwischen Gott und den Menschen auch untereinander. „Frieden in Christus“ ist ebenfalls kein selbstgenügsamer Friede. Er ist ein Friede, der ­Zäune abbricht und Spaltungen überwindet (Eph 2,14). Er ist nicht durch Abschottung zu haben, nicht durch Rückzug in die Innerlichkeit und nicht ohne den Rest der Welt.
Das Geschenk eines solchen Friedens dürfen wir furchtlos annehmen (vgl. Joh 14,27). Ein „österliches“ Christsein wird den Ängsten und Bedrängnissen dieser Welt mit Gelassenheit, Nüchternheit und Klarheit begegnen. Und es wird sich den Mut zur Widerständigkeit nicht nehmen lassen.

Für die Arbeit in der Gruppe

1. „In der Welt habt ihr Angst“ – eine Annäherung an die Schrecken, Ängste, Befürchtungen und Bedrängnisse der Gegenwart
Die Teilnehmerinnen tauschen sich (z.B. anhand diverser aktueller Zeitungsartikel und -bilder rund um das Thema „Flucht und Ankommen“) über ihre diesbezüglichen Wahrnehmungen aus. Sie setzen die Eindrücke aus der Gegenwart in Beziehung zur Aussage Jesu in Joh 16,33.

2. „Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ – Ermutigung zu einem Christsein aus österlichem Vertrauen
Beim Gespräch über die Bedeutung dieser biblischen Zusage damals und heute können vertiefend der fol­gende neutestamentliche Text oder eines der folgenden Lieder hinzugezogen werden:
a) Die Stillung des Sturmes (Mk 4,35-41)
Diese Rettungswundergeschichte erzählt von lebensbedrohlichen Naturgewalten, vom „vollen Boot“ und von der Angst zu kentern – und lädt ein zum vertrauensvollen Schritt in den Glauben.
b) Wolf Biermann: „Ermutigung“ (1968)
Ursprünglich im gesellschaftlichen Kontext der DDR geschrieben, ruft das Lied auch weit darüber hinaus wider die Gefahr von Verhärtung und Verbitterung zu solidarischer Hoffnung. Wo sehen die Teilnehmerinnen Zeichen dafür, dass „das Grün aus den Zweigen bricht“?
c) „We shall overcome“
Das weltweit bekannte, vor allem in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung beheimatete Pro­testlied enthält (wenn auch ohne den Bezug zu Christus und in Betonung des „Wir“) die entscheidenden drei Akzente aus Joh 16,33: „We shall overcome“ – We shall live in peace“ – „We are not afraid“.
3. „Frieden in Christus“ – Vom Hoffen und Handeln
In einer abschließenden Gesprächsrunde und mit einer Fokussierung auf das Thema „Flucht und Ankommen“ können folgende Fragen thematisiert werden:
– Wie werden Hoffnung und Vertrauen auf Christus konkret?
– Was bedeutet es in meinem ei­genen Hier und Heute, inmitten ­einer oft von Angst und Gewalt entstellten Welt, aus dem „Frieden in Christus“ heraus zu leben und zu handeln – privat und politisch?

Dr. Rita Müller-Fieberg ist Dozentin für Biblische Theologie am Institut für Lehrerfortbildung Essen und Dozentin für Exegese des Neuen Testaments
an der Philosophisch-Theologischen Hochschule SVD St. Augustin.

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