Ausgabe 2 / 2019 Material von Peter Spangenberg

Die Blume und der Kolibri

Von Peter Spangenberg

Es war einmal eine kleine Blume – und wer sich selbst kennt, weiß, wen ich meine – also: Es war einmal eine kleine Blume, die stand mitten in der Wüste, war es nun die Wüste aus Sand oder aus Stein oder aus Geld; jedenfalls war es eine Wüste. Täglich wartete die kleine Blume auf einen Regentropfen. Immer hatte man ihr erzählt, wie wichtig und schön der Regen sei. Doch wenn es wirklich nach Regen roch, kamen die Geier und fingen alle Hoffnung ab. Mit Mühe hielt sich die kleine Blume im lockeren Boden und hatte einfach Angst, Angst vor der sengenden Hitze, Angst vor der Einsamkeit, Angst vor dem nächsten Sturm.

Ein Kolibri sah ihre Traurigkeit und sagte dies den anderen Tieren weiter.
Der Stier hatte kein Interesse. Für ihn galt nur, was stark ist. Auch der Bernhardiner blieb kalt, ihn rührte nichts. Sein Hobby war die Langeweile. Und die Elster, die immer so große Töne schwang, sagte, sie habe zu viele Termine und wirklich keine Zeit. Da war der Kolibri verzweifelt; denn was sollte er, ausgerechnet der Kleinste tun? Es konnte doch nicht wahr sein, dass sich die anderen Tiere drückten! Da schwirrte er kurzentschlossen zu den Ameisen und berichtete ihnen von der Traurigkeit der Blume. Ohne zu zögern  bildeten die kleinen Tiere eine lange Kette, schleppten Grassamen und Früchte bis an die Wurzeln des Kummers, benetzten alles ein wenig mit Tau, und es dauerte nicht lange: da wuchs Leben mitten in der Wüste, und die kleine Blume entwickelte sich zu einem strahlenden Glanz, den ihr niemand zugetraut hatte.
Und alles war nur möglich, weil der Kolibri die Ameisen benachrichtigte.

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