Ausgabe 1 / 2008 Material von Henning Sußebach

Die deutsche Küche

Von Henning Sußebach


Die Küche ist vom Zonenrandgebiet zum Ballungsraum in deutschen Wohnungen geworden. Die Soziologin Eva Barlösius, die das Essverhalten im Land erforscht, findet bemerkenswert, dass sich ausgerechnet in bürgerlichen Kreisen eine eigentlich unbürgerliche Entwicklung vollzieht: „Lange galt die Trennung von Kochen und Essen als Symbol des Reichtums. … Jetzt werden Kochen und Essen wieder in ein Zimmer gebracht“, in einen Raum, der einerseits auch repräsentativ sei, aufwändig gestaltet, andererseits aber ausgesprochen bäuerlich: viele unbehandelte Oberflächen, wenige Tischdecken.

Der Möbelkonzern Ikea hat vor einem Jahr einen weltweiten Kitchen Living Report erstellt und dafür auch 500 Deutsche nach ihrer Wohnsituation und ihren Wohnwünschen befragt. Die Küche diente dabei nur noch 24% „ausschließlich zum Kochen“, 35% hingegen „zum Kontaktepflegen“ und 43% „zum Telefonieren“. Die zwei Staaten, deren Bürger die Küche sogar der wichtigste Raum ist (wichtiger noch als das Wohnzimmer), sind Italien und Schweden – wohl nicht zufällig zwei Sehnsuchtsländer der Deutschen. In der Ikea-Zentrale in Älmhult erzählt Jesper Brodin, der Kitchen & Dining Manager der schwedischen Trendmacher und -verstärker, dass sich seit einiger Zeit weltweit und auch in Deutschland insbesondere freistehende Kücheninseln gut verkaufen. „Die Menschen sammeln sich offensichtlich wieder um die Feuerstelle“, sagt Brodin.

Wie fast jede Veränderung hat auch die Hinwendung zum Herd ihre beruhigenden wie befremdlichen Seiten. So wird der Kulturpessimismus, demzufolge die Deutschen immer fauler und fetter werden, ein Fast-Food-Volk, durch die Statistik widerlegt. Uta Meier-Gräwe, Haushalts- und Familienwissenschaftlerin an der Universität Gießen, schreibt im aktuellen Ernährungsbericht: „Trotz täglichem Stress nehmen wir uns mehr Zeit zum Essen, nämlich rund 21 Minuten mehr als noch vor 10 Jahren. Durchschnittlich verwendet der Bundesbürger täglich 1 Stunde und 43 Minuten für das Essen, davon entfallen 1 Stunde 25 Minuten auf Mahlzeiten zu Hause und 17 Minuten auf den Außer-Haus-Verzehr.“ An Wochenenden werden nochmals 24 Minuten zusätzlich dem Essen gewidmet, Einkaufen und Zubereiten nicht mitgerechnet.Henning Sußebach

gekürzt aus:
DIE ZEIT
Nr. 49 / 30.11.2006
© DIE ZEIT
Hamburg

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