Ausgabe 2 / 2020 Bibelarbeit von Urte Bejick

Die dreigestaltige Barmherzigkeit

Bibelarbeit zur Jahreslosung Lukas 6,36

Von Urte Bejick


Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist
.
So übersetzen die Lutherbibel und die Einheitsübersetzung einen der aufregendsten Sätze der Bibel. Schon die Begründung ist eine Zumutung: Ihr werdet Kinder des Höchsten sein, wenn ihr so handelt. Lk 6,35

Sich Gott angleichen, „Gott spielen“, damit verbinden viele Christi*innen mitunter recht schnell verantwortungslose Wissenschaftler*innen und menschliche Hybris. In der Bibel hat die Annäherung des Menschen an Gott einen Zug nach unten und zur Seite, zum Mitmenschen. Schon im Alten Testament wird die „Heiligung“ eines Menschen am schonenden, zugewandten Umgang mit anderen, besonders den Schwachen, den Fremden festgemacht. Lev 19,18 Das Matthäusevangelium, das in der Bergpredigt ähnlich formuliert wie Lukas, hat gar: Seid vollkommen. Mt 19,18

Bei aller Liebe – gut, dass das Lukasevangelium die Bergpredigt erdnäher aufs Feld verlegt. Ob vom Berg oder auf der Wiese: Als Gotteskind handelt, vollkommen ist, wer nicht nur in Gegenseitigkeit und damit begrenzt liebt, sondern auch den weniger oder auch gar nicht Liebenswerten mit Zuneigung begegnet. Und wer Barmherzigkeit übt. Barmherzigkeit? Barmherzigkeit ist ein schöner Wert, aber als Wort doch etwas verschlissen und wohlfeil geworden. Sollte ich lieber „mitleiden“ übersetzen? Hör auf, sagt mein Kollege, wer will denn schon bemitleidet werden? Schreib doch: Compassion. Der Begriff, der sich mit „Mitgefühl“ übersetzen lässt, stammt aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und wird in der theologischen und diakoniewissenschaftlichen Diskussion häufig als Alternative gebraucht. Vielleicht, weil er eher nach Salsa, Che und Cuba libre klingt? Wie gesagt, der Satz ist aufregend! Denn bereits die Suche nach geeigneten Worten entspricht dem Wesen der Barmherzigkeit.

Die biblische, insbesondere die neutestamentliche „Barmherzigkeit“ tritt im griechischen Original des NT und in der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel in Dreigestalt auf. Denn die Barmherzigkeit ist kein „Wert“ oder eine Tugend, sondern, wie die göttliche Weisheit, eine Energie, die Menschen auf unterschiedliche Weise bewegt.

Das am häufigsten für „barmherzig“ gebrauchte Wort ist eleos, bekannt aus Kyrie eleison. Barmherzigkeit in diesem Wortlaut übt der Samariter an dem Verbrechensopfer. Lk 10,37

Barmherzigkeit ist das, was „vor dem letzten Gericht“ als einziges zählt, bekräftigt der Jakobusbrief Jak 2,13 also das, was dem Leben Sinn und Ziel gibt. Zudem ist Barmherzigkeit auch eine königliche Tugend; hellenistische Herrscher und Herrscherinnen legten Wert darauf, gerecht und eben auch barmherzig zu sein. Die Barmherzigkeit in diesem Sinne ist handlungsorientiert. Hier wird nicht nur migefühlt, sondern tatkräftig geholfen. Barmherzigkeit als bloßes Gefühl, das Arme bedauert, aber ihnen nicht hilft, ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Eine weitere Eigenschaft Gottes und der Menschen wird mit splanchna wiedergegeben, was als „Herz zerreißendes“, „an die Nieren gehendes“ Mitfühlen übersetzt werden kann. Denn dieses Wort ist sprachlich mit „Eingeweiden“ verwandt. Dem Samariter Lk10,33 geht das Leiden des Überfallenen, dem Vater Lk 15,20 das Schicksal seines ungeratenen Sohnes „ans Herz“. Programmatisch verkündigt das Lukasevangelium gleich im 1. Kapitel Lk 1,78, dass in der Geburt der Menschen Johannes und Jesus Gottes herzzerreißendes Mitleiden offenbar wird, um die Menschen in die Sphäre des Lebens zu befreien und auf Wege des Friedens zu leiten. In seinem Mitfühlen und Mitleiden mit den Menschen wird Gott verleiblicht, er hat, bildlich gesprochen, ein Herz, Nieren und was sonst noch im Körper alles weh tun kann.

Diese beiden von ihm geliebten Begriffe benutzt das wortgewandte Lukasevangelium allerdings ausgerechnet im Vers der Jahreslosung nicht, sondern ein Wort, das sonst in den Evangelien nicht vorkommt: oiktirmos. Wollte es hier nur eine sprachliche Abwechslung bieten, oder hat das eine besondere Bedeutung? Das Wort oiktirmos wird im Neuen Testament sonst nur in der Briefliteratur verwandt. Es wird oft in Zusammenhang mit „Heiligung“ des Lebens in Verbindung gebracht, also, wie wir heute sagen würden, dem „guten Leben“. Röm 12,1; Kol 3,12; Phil 2,1  Es tritt in Verbindung mit Trost spenden und Trost empfangen Phil 2,1;2 Kor 2,3, Liebe Phil 2,1; Kol 3,12 und Geduld Jak 5,11 auf. Gegenüber der eher aktionsorientierten eleos ist oiktirmos eine grundsätzliche Einstellung, eine Haltung. Blutleer und tatenarm ist das Wort aber keineswegs. Eleos ist der Gesunde gegenüber dem Verletzten, der Vater gegen den missratenen Sohn, der Großgrundbesitzer gegenüber seinen Sklavinnen und Sklaven. Oiktirmos ist da ebenerdiger, es beugt sich nicht herab, sondern steht Seite an Seite. Und diese Form der Barmherzigkeit, des Mitfühlens kümmert sich nicht um das, was als „gutes Recht“ gilt.

„… denn auch Gott wendet sich gütig den Ungütigen und Bösen zu“: Lk 6,35 begründet die Aufforderung zur Feindesliebe und zum Verleihen „ohne etwas zu erhoffen“ mit dem großzügigen, ja ungerecht erscheinenden Handeln Gottes, der sich gegenüber undankbaren und schlechten Menschen als gütig erweist. Mt 5,45f. präzisiert: Allen gehe die Sonne auf, allen werde die Gabe des Regens zuteil. Dieses göttliche Verhalten ist also aus der Schöpfung ablesbar, es entspricht dem göttlichen Versprechen nach dem Ende der Sintflut. Es entspricht dem Wirken Gottes als Schöpferin und tröstende Mutter.

Das ist doch schon einmal was! Wir müssen uns laut Lukasevangelium nicht zerreißen, auch nicht gleich zupacken. Zum guten Leben, zu dem die Feldpredigt ermutigt, gehört auch dies: mild, nachsichtig, wohlwollend sein. Sich nicht ständig vergleichen müssen, nicht urteilen und richten. Das alles ist „Barmherzigkeit“ auch.

Also alles doch nicht so aufregend? Wäre da nicht die Neuauflage der Bibel in gerechter Sprache. Erst hatte sie brav übersetzt: „Habt Mitleid, wie auch Gott Mitleid übt.“ Jetzt präzisiert die 3. Auflage ganz kühn: „Habt Mitleid, wie auch Gott mit euch leidet.“

„Die schon wieder“, reckt Lehrer Lämpel den Zeigefinger. „Interpretieren da wieder was rein, was wörtlich nicht da steht!“ Aber jede Übersetzung ist eine Interpretation, eine Übertragung in einen anderen sprachlichen, zeitlichen, sozialen Kontext. Wenn die „Barmherzigkeit“ eine Energie ist, deren Wirkweisen mit unterschiedlichen Worten wiedergegeben wird, so steckt in oiktirmos neben dem Wohlwollen auch der Schmerz Gottes und der Menschen. Dass das Leiden der Menschen Gott weh tut, ist bei Lukas Programm: Johannes der Täufer und vollends Jesus verkörpern das Herz zerreißende Mitleiden Gottes. Lk 1,17 Gott hat „Eingeweide“, die schmerzen, egal ob die Bemitleideten nun Strafe verdient hätten oder nicht, ob sie „unschuldige Opfer“ oder eher graue Seelen sind. Gott bemitleidet nicht, sie leidet mit. Gott ist kein allem enthobenes Wesen, sie oder er hat nichts teddyhaft Gutmütiges an sich. Gott wird beglückt, verletzt, erniedrigt: in Jesus und in uns allen. Und damit sind wir wieder bei dem befreienden Aspekt, den „Compassion“ ausdrückt: Gott wird in Mitleidenschaft gezogen.

Und genau so kann intensives, „wahres“ menschliches Leben aussehen, behauptet die Feldpredigt: in Solidarität und Mitgefühl aufgrund des göttlichen Vorbildes und der gemeinsamen Kreatürlichkeit, der Verletzbarkeit, des Schmerzempfindens. Die schriftkundigen Leser*innen des Lukasvangeliums werden bei oiktirmos vielleicht aufgemerkt und sich an eine Lebensweisheit aus dem Alten Testament erinnert haben: „Gerechte kennen die Empfindungen ihres Viehs; das Innere von Ungerechten ist gefühllos.“ Spr 12,10 So interpretiert Bibel in gerechter Sprache einen alten weisheitlichen Lehrspruch. Die über 2000 Jahre alte griechische Übersetzung des Verses lautet in meiner Übertragung so: „Der Gerechte schont – hier steht das Verb zu oiktirmos – die Seelen (!) seines Viehs, aber die Eingeweide des Ungerechten bleiben vom Mitleid unberührt.“ Barmherzig, mitfühlend, mitleidend oder empathisch handelnd aufgrund der gemeinsamen „Eingeweide“, der gemeinsamen Kreatürlichkeit: Das bedeutet zugleich, sich Gott anzunähern. Das jedenfalls behauptet die Feldpredigt. Barmherzig sein muss dabei keine mühsam immer wieder versuchte Übung sein. Es ist ein Mitschwimmen im Lebensstrom, das sich Anvertrauen an eine Energie, die hier im Zupacken, da im Mitfühlen und dort im Wohlwollen offenbar werden will. Wenn das nicht aufregend ist!

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit / je ca. 60 min

Die beiden folgenden Vorschläge für die Bibelarbeit in der Gruppe verstehen sich als Alternativen.

Benötigtes Material für den ersten Vorschlag: große Papierbögen oder Plakate, Farbstifte, einige Illustrierte zum Ausschneiden, Scheren, Kleber; Kopien (wenn möglich farbig) des Textes von Hildegard von Bingen

Aspekte der Barmherzigkeit

Der Text der Jahreslosung 2021 lautet in der Lutherübersetzung: Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.

Teilen Sie einander mit,  was Ihnen dazu spontan in den Sinn kommt. [ca. 5 Minuten]

Dieses Wort steht in der „Feldpredigt“ im Lukasevangelium, dem Pendant zur „Bergpredigt“ bei Matthäus. Berg- und Feldpredigt wollen keine neuen Gebote erlassen, sondern eine Anleitung zum „vollkommenen“ Leben geben. Oder, wie wir heute eher sagen würden: zum vollen, erfüllten Leben.

Tauschen Sie sich aus:  Was gehört für mich zum „guten Leben“? [circa 10 Minuten]

Die Barmherzigkeit ist im Lukasevangelium treibende Kraft und Energie, deren Wirken mit drei unterschiedlichen Begriffen wiedergegeben wird.

Hinweis für Leiter*innen: Erläutern Sie anhand der Bibelarbeit die drei griechischen Adjektive für „barmherzig“ (eleos, splanchna, oiktirmos).

Überlegen Sie und tauschen Sie Ihre Gedanken aus: Welcher Aspekt von „barmherzig“ spricht mich am stärksten an? Und welcher scheint mir in meinem Alltag am leichtesten lebbar?

Barmherzigkeit ist – wie die göttliche Weisheit – eine Energie. Eleos, splanchna, oiktirmos: Alle drei griechischen Begriffe beleuchten bestimmte Aspekte, sie gehören aber untrennbar zusammen.

Gestalten Sie jeweils zu zweit oder dritt eine Collage zur „dreigestaltigen“ Barmherzigkeit und stellen Sie diese anschließend kurz im Plenum vor. [circa 30 Minuten]

Hören wir abschließend einen Text von Hildegard von Bingen (S.6)

Übersetzungen und Konsequenzen

Drei Übersetzungen des Textes Lk 6,36 werden groß gedruckt aufgehängt:

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Lutherbibel 2017

Habt Mitleid, wie auch Gott Mitleid übt.
Bibel in gerechter Sprache 2006

Habt Mitleid, wie auch Gott mit euch leidet.
Bibel in gerechter Sprache 2011

Tauschen Sie sich kurz aus: Welche Übersetzung spricht mich an? Unter welcher kann ich mir am wenigstens vorstellen? [circa 10 Minuten]

Bedenken Sie: Jede Übersetzung ist eine Übertragung und eine Interpretation. Selbst eine wortwörtliche Übersetzung eines Textes kann dessen ursprüngliche Intention verfehlen. Was wir heute unter „Barmherzigkeit“, „Mitleid“, „Empathie“ verstehen, ist durch unseren eigenen historischen und kulturellen Kontext, die eigene Erfahrung geprägt. Die neueste Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache ist keine wortwörtliche Übertragung; im Originaltext steht ein Adjektiv, kein Verb.

Hinweis für Leiter*innen: Erläutern Sie jetzt anhand der Bibelarbeit die drei griechischen Adjektive für „barmherzig“ (eleos, splanchna, oiktirmos) und die Intention der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache.

Gott ist nicht nur mitleidig, er leidet nach der Theologie des Lukasevangeliums mit den Menschen mit. Wo Menschen verletzt werden, trifft es auch Gott. [circa 10 Minuten]

Überlegen Sie für sich:  Kann ich der theologischen Aussage in der Übersetzung „wie Gott mit uns leidet“ folgen? Was heißt das in einer konkreten Situation: Gott leidet mit? Was ändert das am Leiden? Habe ich selbst dies einmal gespürt oder erlebt? [circa 5 Minuten]

Tauschen Sie sich in kleinen Gruppen aus: „Gott leidet mit.“ Was ändert das für einzelne Menschen wie die Frau, die häuslicher Gewalt ausgesetzt ist? Für das Kind, das in der Schule gemobbt wird? Für den schwer kranken Mann? Für die Menschen, die hilflos auf dem Mittelmeer treiben? Hilft es ihnen? Oder macht das alles nur noch schlimmer? [circa 20 Minuten]

Tragen Sie Überlegungen und Ergebnisse aus der Gruppe im Plenum zusammen.  Hören Sie einander aber nur zu, ohne die Ergebnisse der anderen Gruppen zu kommentieren oder zu diskutieren. [circa 10 Minuten]

Hinweis für Leiter*innen: Wenn dies nicht bereits von einer der Gruppen formuliert wird, bringen Sie den Gedanken ein, dass das „Mitleiden“ Gottes ein Ende der Schuldzuweisungen („Warum gerade ich?“), der Scham und der Vereinzelung bedeuten kann.

Überlegen Sie gemeinsam: Nach der Jahreslosung sollen auch wir „mitleidig“ sein. Das Lukasevangelium bezieht dies darauf, dass wir einander nicht richten, einander nicht vergleichen, einander nicht verurteilen sollen. Ist das eine hilfreiche und befreiende Lebensmaxime? Fallen uns dazu Beispiele aus der eigenen Erfahrung ein? [circa 10 Minuten]

Tauschen Sie Ihre Gedanken aus: Fremdes Leid rührt uns an – aber kann es uns wirklich berühren? Können wir nachvollziehen, was ein einsamer alter Mensch im Pflegeheim empfindet? Und ist Empathie bei „professioneller Distanz“ nicht für beide Seiten hilfreicher? Die Menschen in den Flüchtlingslagern, die Kriegsopfer: Ihr Schicksal bewegt uns vielleicht, aber wir leiden nicht mit ihnen mit, können das auch nicht. Welche Form der Einfühlung und der Solidarität wäre hier wünschenswert und heilsam? Wie kann Barmherzigkeit, Mitleiden, Compassion in einem politischen Kontext aussehen? Wieviel „Mitleid“ ist möglich und nötig? Oder ist etwas ganz anderes gefragt? [circa 10 Minuten]

Formulieren Sie jetzt einmal für sich den Bibelvers Lk 6,36 so, wie er für Sie persönlich gerade passt.

Dr. Urte Bejick ist Theologin und war Referentin fur Theologie und Seelsorge und Altenheimseelsorge im Diakonischen Werk Baden. Seit 2018 arbeitet sie als Referentin fur Weltgebetstag und Okumene bei den Evangelischen Frauen in Baden und ist zudem Bereichsleiterin Altenheimseelsorge im Evangelischen Oberkirchenrat
Karlsruhe. Ihren Artikel widmet sie ihrem verstorbenen Doktorvater Klaus Berger Whitman.

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