Alle Ausgaben / 2016 Andacht von Anne-Kathrin Koppetsch

Die Freude an deinem Befreien

Andacht zur Jahreslosung 2017

Von Anne-Kathrin Koppetsch

Eröffnung
Wir kommen zusammen im Namen
der Ewigen.
Wir handeln im Namen der Kraft,
die uns hält, die uns trägt.

Gemeinsam bitten wir um Gottes
Gegenwart in unserer Mitte.

Alle:
Neige dich zu uns, Gott,
sei Gegenwart in unserer Mitte.
Lebensatem, berühre uns!

Eine:
Ein klares Herz schaffe in mir, Gott.
Klar wie ein Bergsee
mit seinen Geheimnissen
erleuchtet vom Antlitz der Liebe

Eine entschlossene Geistkraft
erneuere in meiner Mitte
wirbele auf und durcheinander:
mein Denken, Fühlen, Sein

Alle:
Neige dich zu uns, Gott
sei Gegenwart in unserer Mitte
Lebensatem, berühre uns!

Eine:
Lass die Freude an deinem
Befreien
zu mir zurückkehren
Kribbeln darf es vor Glück
wenn Neugier mich zum Schwingen bringt

Lass mir Lust am Vertrauten
und darauf vertrauen
dass alles sich ändern darf
im Vertrauen auf dich

Alle:
Neige dich zu uns, Gott
sei Gegenwart in unserer Mitte
Lebensatem, berühre uns.

(nach Psalm 51, 12-14 in Bibel in gerechter Sprache; bearbeitet von Anne-Kathrin Koppetsch)

Einstieg
Vielleicht kommt Ihnen die folgende Geschichte bekannt vor?
Vor einiger Zeit ließ ich mich zum Grillfest in der Kirchengemeinde einladen. Ich war neu zugezogen, und deshalb kannte ich noch niemanden.
Unsicher schaute ich mich um. Schließlich erblickte ich einen freien Platz am Tisch. Doch als ich mich niederlassen wollte, sagte die Dame gegenüber: „Da sitzt immer die Frau Meier!“ Der nächste freie Stuhl war für Herrn Müller reserviert, und beim dritten Versuch hieß es: „Da kommt gleich die Helga.“

Selten habe ich mich so wenig willkommen gefühlt, so fremd. Im ersten Augenblick war ich gekränkt. Sollen sie doch unter sich bleiben und im eigenen Saft schmoren, dachte ich verärgert. Doch dann schmunzelte ich. Vielleicht verpassen ja auch Helga und ihre Freundin etwas, wenn sie nur miteinander reden und nicht mit mir, der Neuen?
Wie schade für sie!
Dieser Gedanke ermutigte mich zu einem neuen Anlauf. Ich nahm mir einen Stuhl, wandte mich an Helga und ihre Freundin und fragte höflich: „Darf ich?“ Etwas irritiert nickten sie. Dann setzte ich mich zu ihnen.
Wir kamen in das Gespräch, und es wurde ein netter Abend für uns alle drei.

Gesprächsimpuls
(Murmelgruppen; even­tuell hinterher ei­ni­­ge Statements zusammentragen)

Vertraute Menschen, vertraute Situationen sind ein Geschenk. Doch wer sich nur im Bereich des Vertrauten bewegt, kann viel im Leben verpassen.

Fragen:
– Was ist mir vertraut? Welche Wege kenne ich gut?
– Welche Orte besuche ich immer wieder?
– Welche Menschen sind mir vertraut?
– Welche Einladungen nehme ich an, welche nicht?

Und weiter:
– Was wollte ich schon immer gerne ausprobieren?
– Was weckt meine Neugier?
– Welche Menschen interessieren mich?

Vertrauen riskieren?!
Forscher fanden heraus, dass es ein Hormon gibt, das für „Vertrauen“ sorgt. Dieses Hormon nennt sich Oxytocin. Oxytocin, auch genannt „Kuschelhormon“, kann als Nasenspray eingenommen werden. Es führt dazu, dass man empfänglicher für soziale Signale wird und diese auch selbst aussendet. So waren etwa in einem Experiment Menschen, denen Oxytocin verabreicht wurde, bereit, Unbekannten mehr Geld zu leihen als die Vergleichsgruppe. Doch dieses Kuschelhormon hat auch eine Schattenseite: Beim Spiel zweier Parteien gegeneinander reagierten die Menschen unter Einfluss von Oxytocin zwar positiv auf die eigene Gruppe. Der anderen Gruppe gegenüber verhielten sie sich jedoch ablehnend. Das Hormon stärkt die Gruppenbindung; gleichzeitig bleiben Fremde außen vor.
Es stellt sich die Frage: Wann verhindert das Vertraute, dass wir auf Neues zugehen?

Der Soziologe Niklas Luhmann formuliert: „Vertrauen bedeutet, ins Risiko zu gehen. Wir setzen darauf, dass unser Gegenüber Wort hält, dass der andere tut, was er sagt, und lässt, was uns schadet.“
Vertrauen bedeutet, ein Risiko einzugehen. Denn wie es ausgeht, ist letztlich offen.
Vertrauen gründet sich auf die Hoffnung, dass die Beziehung trägt. Dass Versprechen eingelöst werden.

Liedstrophe
Lied EG 395,1

Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist,
weil Leben heißt, sich regen, weil Leben wandern heißt.
Seit leuchtend Gottes Bogen am hohen Himmel stand,
sind Menschen ausgezogen in das gelobte Land.

Vertrauen ja – aber wem?
„Wir schaffen das“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einer Pressekonferenz am 31. August 2015 angesichts des Zustroms von Flüchtlingen. Hunderttausende halten sich inzwischen in Deutschland auf. Aus der „Willkommens­kultur“ wurde schnell die „Flüchtlingskrise“.
Helga aus meiner Gemeinde war von vornherein skeptisch: „Viel zu viele. Und dann mit dem Islam: Glaubt mir, das geht nicht gut.“
Dabei ist Helga nach dem zweiten Weltkrieg selbst als Flüchtling in den Westen gekommen. Sie gibt zu, dass sie damals auf die Hilfe der Einheimischen angewiesen war. „Wir waren ja einquartiert. Aber glaub mal nicht, dass das einfach war! Wir haben da einiges wegstecken müssen!“ Ob man es den Geflüchteten heutzutage nicht leichter machen kann?
„Sind ja viele junge Männer. Ob das so passt mit der Kultur?“, äußert Helga ihre Bedenken. „Haben die überhaupt Respekt vor Frauen? Denk mal an die Silvesternacht in Köln. Da hat man ja gesehen, was passiert!“
Beim darauf folgenden Gemeindefest kamen auch einige Menschen mit dunklerer Hautfarbe; der „Arbeitskreis Geflüchtete“ hatte sei eingeladen. Eine Familie mit einem kleinen Kind; die Frau offensichtlich schwanger. Weiter hinten stand ein junger Mann.
Er hielt Abstand.
Da erinnerte sich Helga an das Grillfest vom Jahr davor. „Hier soll keiner mehr draußen stehen bleiben“, sagte sie resolut. Sie fasste sich ein Herz und ging auf ihn zu. „Welcome, good day“, radebrechte sie auf Englisch. Zu ihrem Erstaunen antwortete der junge Mann auf Deutsch: „Guten Abend. Danke für Einladung und für Willkommen.“ Es stellte sich heraus, dass Rafi seit neun Monaten in Deutschland lebt. Ursprünglich stammt er aus Bangladesch. Monatelang hatte er sich auf der Flucht durchgeschlagen und war froh, nun in Sicherheit zu sein.
Schon nach einer halben Stunde hatte Helga den höflichen jungen Mann in ihr Herz geschlossen. Sie empfahl ihm die einheimischen Leckerbissen vom Buffet.
Helga wurde so etwas wie die „Adoptiv­oma“ von Rafi. Als sie sich ein Pedelec kaufte, schenkte sie ihm ihr altes Rad. Als Dankeschön lud er Helga zum Essen ein. Dabei lernte sie, wie man Reis und Fisch auf bengalische Art zubereitet. Nebenbei erfuhr sie einiges von Rafis Geschichte: Der Vater war von paramilitärischen Gruppen erschossen worden. Um der Gefahr zu entgehen, war Rafi geflohen.
Helga war erschüttert.
Ein Bibelwort hat sie sich zu Herzen genommen: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll wie ein Einheimischer unter euch wohnen, denn ihr seid Fremdlinge gewesen in Ägypten.“
„Ägypten“, sagt Helga, „er kommt ja nun aus Bangladesch.“
Helgas Vertrauen in die Politik hat es nicht gestärkt. „Da kommt noch was auf uns zu“, unkt sie. „Wie sollen die alle so schnell Deutsch lernen? Und Arbeit finden?“
Trotz aller Skepsis: über die Bekanntschaft mit Rafi freut sie sich. „Macht Spaß. Ist ein bisschen wie Urlaub zu Hause.“ Terroranschläge und die Übergriffe in der Silvesternacht lehnen Helga und ihr Schützling gleichermaßen ab. „Das geht gar nicht.“
Rafi macht jetzt eine Ausbildung zum Pflegehelfer. Ob er in Deutschland eine Perspektive hat?
Helga lächelt. „Wer weiß. Ohne Vertrauen geht es nicht. Das habe ich aus dieser Geschichte gelernt!“

Lied: EG 395,2
2 Vertraut den neuen Wegen und ­wandert in die Zeit!
Gott will, dass ihr ein Segen für seine Erde seid.
Der uns in frühen Zeiten das Leben eingehaucht,
der wird uns dahin leiten, wo er uns will und braucht.

Segen
Ich will euch segnen
und ihr sollt ein Segen sein

Ich will euch segnen
Kraft zum Aufbruch schenken
Möge euch das Herz aufgehen,
wenn ihr Neues entdeckt
auf Menschen zugeht
Vertrauen wagt

Ich will euch segnen
und ihr sollt ein Segen sein
Ihr seid ein Segen!
Seid beschützt und behütet
Gott begleite euch

Lied EG 395,3
3 Vertraut den neuen Wegen,
auf die uns Gott gesandt!
Er selbst kommt uns entgegen.
Die Zukunft ist sein Land.
Wer aufbricht, der kann hoffen
in Zeit und Ewigkeit.
Die Tore stehen offen. Das Land ist
hell und weit.

Anne-Kathrin Koppetsch arbeitet als Pfarrerin in der evangelischen Miriam-Kirchengemeinde Dortmund und als „Gelegenheitspoetin“. Sie hat mehrere Bücher publiziert, u.a. die Krimireihe um Martha Gerlach, eine der ersten Pastorinnen
in den 1960er-Jahren. Mitherausgegeben hat sie ein Sachbuch über 40 Jahre Gleichberechtigung für Frauen im Pfarrdienst.
Mehr auf www.anne-kathrin-koppetsch.de

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