Eine ursprünglich auch dem Persischen stammende Legende erzählt, wie die Rose von den Blumen zur Königin gewählt wurde und die Lotosblume aus ihrer Vorherrschaft verdrängte:
Ehemals war die prächtige Lotosblume die Königin der Blumen. Doch in der Nacht konnte diese ihren königlichen Pflichten nicht nachkommen, weil sie dann ihr Blumenauge zum Schlaf schließen musste. Darum wurden die Blumen mit ihr unzufrieden. Einst erschienen sie vor Gott und baten um eine neue Königin. Gott gewährte ihre Bitte gern und gab ihnen die weiße Rose zur Königin. Alle freuten sich über die neue Königin, selbst die lieben Vögel sangen zu ihrem Preis ihre schönsten Lieder. Namentlich war es die Nachtigall, die als Königin der Singvögel der Blumenkönigin huldigte. Als sie ihr herrliches Lied geendet, drückte sie die Rose an ihre liederreiche Brust. Doch die spitzen Dornen verwundeten sie leicht, und ihr rotes Blut netzte die weißen Blätter der Rose und rötete sie. So entstanden neben den weißen Rosen auch die roten.
Hinter dieser schlichten Legende scheinen verschiedene Welten und Religionen auf. Die Lotosblume wurde als göttliche Pflanze in allen asiatischen und orientalischen Kulturen als Symbol der Vollkommenheit, Unsterblichkeit und Erleuchtung verehrt. Im Hinduismus und Buddhismus ist der Lotos ein Weltsymbol, die Lotosblüte gilt ans Thron des Buddha, Brahma wird auf einem Lotosblatt dargestellt. Auch im alten Ägypten galt der Lotos als erste Blume der Weltschöpfung. Sie wurde als Attribut von Osiris, Isis, Horus und Hathor bei Opfern und Bestattungen verwendet und drückte die Hoffnung auf Wiedergeburt aus.
Die Lotosblume als göttliche Pflanze wird im Islam – ¬ Persien ist das Land der Rosen – durch die Rose abgelöst. Die Legende bezieht sich auf die Fähigkeit der Rose, am Tage und auch in der Nacht zu blühen. In der Antike – bereits die griechische Lyrikerin Sappho, geboren um 612 v. Chr., soll die Rose als „Königin der Blumen“ bezeichnet haben – und später im Christentum übernimmt die Rose die Rolle des Lotos, denn sie kann das Heilige in seiner Ganzheit, in seiner Tag- und Nachtseite, in Freude und Trauer repräsentieren und damit ihre Aufgabe als Königin der Blumen noch besser erfüllen.
aus: Rosenwunder © Verlag Herder, Freiburg 1997
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