In einer kleineren Arena tummelt sich ein Löwe. Frei. Ohne Leine, nicht angebunden. Und Sie wollen Ihre Fähigkeiten als Führungskraft entwickeln. Stellen Sie sich also vor, Sie gingen unter Anleitung eines Coaches in diese Arena. Ihre Aufgabe lautet: Nehmen Sie Kontakt mit dem Löwen auf. Trauen Sie sich das zu?
Zugegeben, der Vergleich hinkt etwas. Ich habe ihn mir als Eselsbrücke gebaut, um mich ein wenig in die Teilnehmer-Innen des Schnupperkurses hineinversetzen zu können, die sich bei Christine Erdsiek zum pferdegestützten Führungskräftetraining angemeldet haben. Denn ich bin mit Pferden vertraut, die anderen nicht. Der Vergleich hinkt vor allem deshalb, weil Löwen Raubtiere sind – was Sie vermutlich sofort körperlich gespürt haben, als Sie sich vorstellten, Kontakt mit einem freilaufenden Löwen aufnehmen zu müssen. Körperlich gespürt haben dürften Sie Ihre Angst. Die schiere Angst davor, gleich zerfleischt zu werden.
Pferde sind keine Raubtiere. Sie sind das genaue Gegenteil, nämlich Flucht- und Beutetiere. Und genau das macht ihre besondere Begabung für die von Christine Erdsiek angebotenen Seminare aus. „Pferde leben in sozialen Strukturen, die denen der Menschen ähnlich sind, und sie sind Experten der Körpersprache, das ist für sie überlebensnotwendig“, erklärt die 52-jährige Diplom-Ökonomin, warum sie ausgerechnet Pferde als Co-Trainer einsetzt. In Bruchteilen von Sekunden muss, wenn Gefahr in Verzug ist, Information durch eine große Herde transportiert werden. „Stille Post würde viel zu lange dauern. Nein, das geht körpersprachlich. Flucht- und Beutetiere müssen die Körpersprache des Löwen, der sie vielleicht fressen will, richtig deuten können.“ Diese Fähigkeit haben unsere domestizierten Pferde sich erhalten, auch uns Menschen deuten sie körpersprachlich.
Aber auch die zwischenmenschliche Kommunikation – im Privaten wie im Berufsleben – läuft viel stärker über Körpersprache ab, als wir vermuten. „70 bis 80 Prozent unserer Kommunikation nehmen wir nonverbal wahr, der Inhalt des Gesagten macht nur etwa sieben Prozent aus“, weiß Coachin Erdsiek. Ihre KundInnen kommen zu ihr, um zu lernen, wie sie als Führungskraft auf andere wirken. Sie wollen ein ehrliches Feedback – und das bekommen sie in der Regel weder von den Mitarbeitenden noch von ihren KundInnen. „Sie wollen also wissen: Wie wirke ich denn wirklich? Wo habe ich meine Führungsstärken, wo habe ich aber auch Potential, das ich verändern oder entwickeln könnte?“
Vier Frauen und drei Männer stehen dem Löwen der Fremdwahrnehmung gegenüber, Manfred traut sich als erster, die Arena, die in unserem Fall eine Reithalle ist, zu betreten. Seine Aufgabe für die erste Übung ist ganz schlicht, Kontakt mit dem braunen Wallach aufzunehmen, der auf uns wartet.
Manfred ist Gesundheitstrainer, Kommunizieren sein Handwerkszeug. Er geht in die Reithalle, nähert sich Tino von hinten, schnalzt leise und ruft: „Komm. Komm mal her zu mir.“ Tino geht weg, Manfred folgt ihm, immer anderthalb Meter hinter dem Pferd her. Von Kontaktaufnahme seitens des Pferdes keine Spur. Als Tino kurz vor der Ecke der Reitbahn angelangt ist, kürzt Manfred quer durch die Bahn ab und kommt so schräg vor den Wallach. „Komm, komm mal zu mir.“ Manfred ruft ihn noch immer. Und tatsächlich: Tino kommt zu Manfred und lässt sich streicheln. Reagiert hat das Pferd aber auch vorher schon auf den Menschen, der da irgendwas von ihm wollte und ständig hinter ihm herlief. Zunächst, indem es sich entfernte. Denn Tino hat Manfred, der hinter ihm herging, nicht sehen können.
Pferde sind Wahrnehmungskünstler, sie haben ein viel größeres Sichtfeld als Menschen. Denn in freier Wildbahn brauchen sie einen Panoramablick, sie müssen ihre Feinde bereits in großer Entfernung bemerken können. Mit den seitlich angeordneten Augen haben sie fast einen Rundumblick, es gibt nur zwei kleine tote Winkel von je zehn Grad. Deshalb sollten Sie sich einem Pferd nie von hinten nähern, ohne sich akustisch bemerkbar zu machen – es könnte Sie mit einem Löwen verwechseln und ausschlagen. Mit ihren beiden voneinander unabhängig beweglichen Ohren hören sie über Distanzen von mehr als vier Kilometern, auch Hochfrequenzen, die das menschliche Ohr nicht hört. Und auch Geschmacks- und Geruchssinn sind bei den Equiden wesentlich weiter entwickelt als beim Homo sapiens. Dass ein Gewitter in der Luft liegt, können Pferde riechen, und zwar über den veränderten Aerosolgehalt der Luft. Ihre Artgenossen können sie am Duft des Kotes auseinander halten, und ihren Menschen erkennen sie blind.
Manfred ist es gelungen, mit unserem Co-Trainer Tino Kontakt aufzunehmen. Darauf könnte er stolz sein, denn er hatte bisher keinerlei Erfahrungen mit Pferden. Stattdessen ist er enttäuscht. „Ich wollte nicht nur Kontakt mit ihm aufnehmen, ich wollte auch, dass er mir folgt.“ Das ist ihm nicht gelungen, aber für Coachin Erdsiek eine Gelegenheit einzuhaken. „Wir wollen häufig mehrere Sachen gleichzeitig machen und konzentrieren uns nicht auf das Wesentliche. Was hat dich dazu bewegt, dir eine zusätzliche Aufgabe zu stellen?“
Oft fehlt es uns an Klarheit. Die Pferde reagieren darauf und zwar nach einem ganz einfachen Muster: „Kann ich dir vertrauen? Bist du klar? Bist du sicher? Dann kann ich dir folgen“, erklärt uns Christine Erdsiek die Grundlagen. „In dem Moment, wo das Pferd sich nicht sicher ist, ob der andere – in unserem Fall der Mensch – weiß, wo es langgeht, entscheidet es für sich.“ Und das gilt auch im Berufsleben, sagt sie. Die Gallup-Studie von 2012 nennt dazu Zahlen. Ein Viertel aller ArbeitnehmerInnen in Deutschland hat innerlich gekündigt, über 60 Prozent machen Dienst nach Vorschrift, lediglich die verbleibenden knapp 15 Prozent sind wirklich engagiert. Das kostet nicht nur die einzelnen Unternehmen sondern auch die gesamte Volkswirtschaft viel Geld, die Gallup GmbH benennt hierfür 122 Milliarden Euro pro Jahr. Wie kommt es zu diesen Zahlen?
„Weil viele Führungskräfte ihrer Führungsrolle nicht gerecht werden“, weiß die Ökonomin Christine Erdsiek. „Es besteht ein Defizit an guter Führung. Aber dafür braucht eine Führungskraft neben aller fachlichen Kompetenz ein hohes Maß an sozialer Kompetenz. Ich muss als führende Person vor allem anderen mich selbst kennen.“ Die Kluft zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung kann allerdings sehr groß sein.
Unsere zweite Übung am Schnuppernachmittag ist schon deutlich komplexer: Wir sollen Tino durch eine kleine Laufgasse aus auf dem Boden liegenden Stangen führen. Andreas wagt sich vor. Zunächst soll auch er Kontakt zum Pferd aufnehmen. Andreas stellt sich vor Tino auf und redet auf ihn ein, erzählt ihm, wie er heißt, was er im richtigen Leben so macht und was er gleich mit ihm vorhat. Tino guckt in der Halle herum, Andreas ignoriert er. Doch dann kommt Andreas auf die Idee still zu sein, die Hand etwas vorzustrecken und das Pferd einfach nur anzulocken. Noch eine ganze Weile später fasst er sich ein Herz, nimmt den Führstrick in die Hand und geht etwas unentschlossen in Richtung der vorbereiteten Führgasse.
Tino folgt langsam. Das lässt Stefan, der neben mir steht, fast explodieren. Rein körpersprachlich natürlich. Ich kann seine Ungeduld – „Jetzt pack' doch mal richtig zu und sag', wo es langgeht“ – förmlich spüren. Andreas bugsiert das Pferd an der langen Leine durch die Führgasse, fragt den Wallach immer wieder, ob er wohl mitkommen möchte, und als die Gasse sehr eng wird, scheint er nicht weiter zu wissen. Zögert zunächst, bleibt stehen und tritt dann über die Bodenstange. Wohl um dem Pferd Platz zu machen. Tino aber wäre nicht Co-Trainer, würde er nicht die passende Antwort darauf finden: Auch er tritt über die Bodenstange und verlässt damit die eigentlich zu bewältigende Führgasse.
Richtig spannend wird dann die Feedbackrunde. Andreas berichtet, was er erlebt hat. „Es hat gedauert, bis Tino mich wahrgenommen hat. Als ich dann die Zügel in die Hand genommen habe, ist er meinen Anweisungen gefolgt. Ich musste ihn kurz halten, sonst wäre er mir nicht gefolgt.“ Unruhe ergreift die Gruppe, aber Christine Erdsiek bremst uns erst einmal aus und macht bewusst, was Andreas gut gemacht hat. „Du hast sehr auf Tino geachtet, indem du dich häufig zu ihm umgedreht hast. Das ist eine hohe Qualität! Aber hast du noch dein Ziel vor Augen gehabt?“ Die Reaktion aus der Gruppe ist direkter: „Das Pferd hat deine Unentschlossenheit gespürt.“ Der Führstrick war lang, Tino hatte alle Möglichkeiten, etwas ganz anderes zu machen als Andreas. „Manchmal ist es eng, und dann müssen da trotzdem alle durch, Chef und Mitarbeitende“, führt Christine Erdsiek weiter aus. Tino hat das prima gelöst, er ist Andreas gefolgt, auch wenn der vom Weg abgekommen ist, die Führgasse verlassen hat. „Du hattest da einen sehr willigen und fähigen Mitarbeiter, aber nicht alle sind so“, warnt ihn die Coachin.
Andreas widerspricht. „Ich fand die Verbindung nicht so gut. Ich wollte, dass er sofort mitkommt und dass er intensiver mitkommt!“ „Wenn du nicht weißt, wie es geht und wo ihr hingeht – wie soll es dann das Pferd, dein Mitarbeiter, wissen und machen?“ Christine Erdsiek betont immer wieder, dass der Weg nur gefunden werden kann, wenn das Ziel klar ist. Aber sie warnt auch davor, Führung, die benötigt wird, zu missbrauchen. „Das ist kein Fahrrad, das ihr durch die Gasse schiebt. Sondern ein Lebewesen. Wollt ihr gefügige Mitarbeitende oder mitdenkende Menschen?“
Unser Arbeitsalltag ist in der Regel kein Eremitendasein, sondern geprägt von einem Team. Und so ist unsere dritte Aufgabe an diesem Nachmittag von allen gemeinsam zu bewältigen. Stellvertretend für die Hürden des Arbeitsalltages bauen wir nach den Vorgaben unserer Trainerin einen kleinen Parcours, der dann mit Tino bewältigt werden soll. Danach hat das Team aus vier Frauen und einem Mann ein paar Minuten Zeit, das konkrete Vorgehen zu planen. Jetzt ist der Punkt gekommen, an dem Stefan es nicht mehr aushält. „Was müssen wir da besprechen? Ich führe den da jetzt durch und gut ist.“ Die vier Frauen ignorieren diesen Einwurf und lenken ein. Sie schlagen vor, Stefan solle das Pferd führen und sie würden mitgehen. Schnell finden sie eine Lösung, welche von ihnen welche Rolle übernehmen wird. Die Kiste mit den „Führungsinstrumenten“ – Gerten, Regenschirme, Fahnen und ähnliches – lassen sie nach kurzer Inspektion links liegen. Und dann zieht das Team los: Zwei Frauen gehen vor Pferd und Führer jeweils rechts und links, die beiden anderen übernehmen genau diese Positionen hinter dem Duo. Wie eine Schutzhülle umgeben sie Pferd und Mann, gehen sicher voran, ermutigen von hinten und geleiten das Team damit ohne Reibungsverlust durch den kleinen Parcours.
„Das war doch überhaupt kein Problem!“, kommentiert Stefan in der anschließenden Feedbackrunde seine Führung. Nun ist bei mir der Punkt erreicht, dass ich es nicht mehr aushalte – denn nicht er hat das Pferd durch den Parcours geführt, sondern vier Frauen führten Pferd und Mann. Ohne Führstrick, ohne Druckmittel. Mit klar verteilten Rollen und viel Einfühlungsvermögen für den Mitarbeiter Pferd.
Pferdeherden in freier Wildbahn hatten ähnliche Strukturen. Vorneweg ist die Leitstute dafür verantwortlich, die Futterquellen aufzutun und ihrer Herde den Weg dorthin aufzuzeigen. Der Leithengst hält von hinten alles zusammen. Die Prinzipien der Leitstute sind Verbundenheit, Sicherheit, Klarheit, Zielgerichtetheit, die des Leithengstes Kraft, Präsenz, Zutrauen und auch Dominanz. Dominieren heißt nicht: beherrschen, erklärt unsere Coachin. „Dominanz wird heute negativ bewertet. Dominanz ist aber eigentlich nichts anderes als die Fähigkeit, mit freundlicher Selbstverständlichkeit andere ins Handeln zu bringen.“
Christine Erdsiek erlebt in ihren Seminaren, dass es die Männer manchmal schwer haben. „Sie werden in eine Form gepresst, der manche gar nicht gerecht werden können, weil sie vom Typ her nicht so sind.“ Das Unterdrücken der weiblichen Seite wird ihnen gesellschaftlich abverlangt, oft sind sie sich dessen gar nicht bewusst. Ihre Einfühlsamkeit können sie so nicht nutzen. „Das merke ich bei den Übungen, die Verbundenheit aufbauen sollen. Männern gelingt das genauso gut wie Frauen.“ Frauen hingegen tun sich oft schwer damit, ihre Energie zu bündeln, Präsenz aufzubauen. Jede/r hat aber beide Anteile. Gar nicht so selten entdecken Frauen in den Seminaren ihre Leithengst-Qualitäten. „Und die sagen dann: Genau das kann ich! Und das mache ich im Job jetzt auch! Ich gehe nicht vorweg, ich halte den Laden von hinten zusammen.“ Christine Erdsiek, selbst Mutter von vier inzwischen erwachsenen Kindern, ermutigt sie, diese Begabungen zu nutzen und „sich nicht immer wieder mit dem Mütterlichen herumzuquälen“.
Die Übersetzung der Führungsprinzipien einer Pferdeherde in das Berufsleben des 21. Jahrhunderts lässt uns erleben, dass es beide Rollen braucht. Und dass es keine Rolle spielt, ob die Führungskraft eine Frau oder ein Mann ist. Männer können sehr wohl Verbundenheit aufbauen und den Weg aufzeigen, Frauen können genauso gut den Rücken freihalten und auch mal Druck machen, wenn die Herde nicht beisammen bleibt.
Ihre Arbeit als Coachin hat Christine Erdsiek in gewisser Weise jedoch der klassischen Rollenaufteilung zu verdanken. Als ihre Kinder in die Schule kamen, wollte sie wieder in ihren alten Beruf als Ökonomin einsteigen. Sie wurde nicht mit offenen Armen empfangen. Eine junge Mutter mit vier Kindern und dann Vollzeit in Leitungsfunktion – vor zwanzig Jahren für viele undenkbar. Was also könnte ich stattdessen tun, was tue ich gern, überlegte sie sich. Es folgten eine Trainerausbildung, ein Weiterbildungsstudiengang Erlebnispädagogik und Outdoortraining und vor allem eine Ausbildung zur zertifizierten Coachin. Sie gehört zum Netzwerk EQ Pferd, das sich zum Ziel gesetzt hat, Qualitätsstandards für pferdegestützte Personalentwicklungsmaßnahmen zu entwickeln und zu etablieren. Denn AnbieterInnen müssen nicht nur Trainer- und Coachingkompetenzen erworben haben, es braucht auch Pferdekompetenzen.
Christine Erdsiek hat quasi dank alter Rollenmuster ihren Traumberuf gefunden. Ein Leben ohne Pferde kann sie, die in einer Pferdezüchterfamilie aufwuchs, sich nicht vorstellen. „Pferde sind meine Seelenverwandten.“ Damit hat sich auch ihr Mann, der selbst keinen Bezug zu Pferden hatte, arrangiert. „Man(n) muss da nicht eifersüchtig sein. Mein Pferd ist mein Pferd und mein Mann ist mein Mann.“
Frauke Josuweit, 47 Jahre, ist Öffentlichkeitsreferentin der Evangelischen Frauen in Deutschland. Sie wuchs in einer Pferdezüchterfamilie auf und lernte reiten, bevor sie lesen und schreiben konnte.
Mehr über die Arbeit von Christine Erdsiek erfahren Sie unter www.equi-connect.de.
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