Ausgabe 1 / 2017 Material von Peter Brandl

Die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen

Von Peter Brandl

In den Sand gesetzt
Die Erkenntnis, dass man in seinem Leben aufs falsche Pferd gesetzt hat, kann schleichend kommen. Dann wird aus einem anfangs noch kaum spürbaren Unbehagen eine störende Missstimmung, die du noch ganz gut wegdrücken kannst. Doch aus dem merkwürdigen Gefühl wird schließlich ein Klumpen im Bauch, der dich Tag für Tag, Stunde für Stunde begleitet. (…)
Fast jeder kommt in seinem Leben an einen Punkt, an dem es gilt, reinen Tisch zu machen. Und das wahrscheinlich nicht nur einmal! Doch statt die fällige Entscheidung zu treffen, die Konsequenz aus der Erkenntnis zu ziehen, macht man lieber Nebenschauplätze auf und überlegt sich tausend Gründe, warum es doch besser ist, so weiterzumachen wie zuvor. (…)

Der Sprung ins Ungewisse
Wir alle kennen die Kinder, die im Freibad stundenlang auf dem Sprungturm stehen und aufs Wasser starren. Sie klettern nicht wieder herunter, aber sie springen auch nicht. Ihr erstaunliches Ausharrungsvermögen kommt daher, dass sie völlig ausgeblendet haben, dass eine Entscheidung ansteht. Sie stehen da oben und frieren, während ihre Freunde unten im Wasser einen Höllenspaß haben.
Du weißt genau, dass du etwas entscheiden musst. Dass der Zeitpunkt längst gekommen ist, eine Situation zu klären, ein Missverständnis zu bereinigen. Aber du tust es nicht. Lieber noch ein bisschen warten. Lieber noch ein paar Informationen mehr einholen. Doch wenn du da oben auf dem Sprungturm stehst, nutzt es nichts, die anderen Kinder nach der Wassertemperatur zu fragen. So etwas fällt unter die Sparte „Kreative Vermeidungsstrategien“.
Und das ist das Drama mit dem uneingeschränkten Sicherheitsdenken: Weil du dich nicht entscheiden möchtest, vertagst du den Entschluss. Und aus diesem Vertagen wird schnell Vermeiden. Aus der langen Bank wird schnell der Sankt-Nimmerleins-Tag.
Jede Entscheidung ist wie ein Sprung. Im Sprung hast du keine Kontrolle. Und aus Angst, die Kontrolle zu verlieren, springst du nicht. Wenn du dich aber gar nicht mehr zu rühren wagst, dann wird es kritisch. Die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, hindert dich daran, eine Entscheidung zu treffen.
Das Perverse an der Sache ist: In dem Moment, wo du nicht entscheidest, entgleitet dir die Kontrolle erst recht. Dann hat der Kontrollzwang dich im Griff.
Warum also zum Teufel, entscheidest du dich nicht? Alles, was du tun musst, ist zu sagen: Hopp oder Top, Stop oder Go. Das gilt übrigens auch für:
Baugenehmigungen erteilen oder nicht; Kita-Plätze einrichten oder nicht; Hochschulreform oder nicht. Stattdessen heißt es: „Da müssen wir noch ein Gutachten einholen“ oder „Wir sollten noch ein Komitee gründen“.

Was ist das für eine unselige Kraft, die uns wie ein unsichtbarer Sicherheitsgurt zurückhält, fällige Entscheidungen zu treffen, und so daran hindert, ins Handeln zu kommen? Was ist das für ein Sicherheitsgurt, der, ohne dass wir es bemerken, zur Fessel mutiert?
Erst, wenn du weißt, wie er funktioniert, kannst du das Schloss knacken und ihn ablegen. Und zwar genau dann, wenn du es für richtig hältst. (…)
Wenn du zurückschaust auf dein bisheriges Leben, dann erkennst du: Jeder Lebensabschnitt hatte seinen ganz eigenen Fokus. Alle paar Monate oder Jahre war eine andere Baustelle dran. Alles andere, schon Überstandene verblasste dagegen. Als Fünfjähriger hast du dir gedacht: „Ich würde gerne Rad fahren können“. Als Zehnjähriger war das kein Thema mehr für dich. Da wolltest du endlich das Bruchrechnen kapieren. Es hat genervt, wie der Lehrer dich vor der Klasse immer bloßstellte. Als 13-Jährigem war dir das Bruchrechnen so egal wie ein Sack Reis in China. Denn damals warst du zum ersten Mal hoffnungslos verliebt. Mit 19 Jahren hattest du diese Episode als eine echte Kinderei abgetan; du machtest gerade die erste wilde Trennung durch. Liebeskummer war dir mit 23 herzlich egal, jetzt stand dein Streit mit deinem Professor um ein paar Punkte in deiner Hausarbeit im Vordergrund. Du wolltest nicht, dass dein Notendurchschnitt versaut wird. Als 25-Jähriger hast du zum ersten Mal einen Job verloren. Die haben dich einfach nicht aus der Probezeit übernommen. Und so geht es das ganze Leben weiter.
Die Sängerin Annett Louisan hat in ihrem Lied Chancenlos die Geschichte eines Mädchens beschrieben, das unsterblich in einen Mitschüler verknallt war. Jahre später könnte sie ihn haben. Aber da ist es längst zu spät.

„So viele Dinge bekommt man erst dann,
wenn man sie nicht mehr gebrauchen kann.
Ein dummer Teenager-Traum, jetzt wird er wahr.
Warum erst jetzt, und nicht als sie 16 war?“

Darüber zu jammern, dass ein Wunsch und seine Erfüllung nur sehr selten zeitlich passend aufeinandertreffen, bringt nichts. Sieh es positiv! Wenn du weißt, dass nichts ewig ist, dann kannst du auch abstrahieren: „Meiner Erfahrung nach wird diese unangenehme Situation, in der ich feststecke, nur eine gewisse Zeit anhalten. Danach ist dann wieder was anderes dran.“ Wenn du in fünf Jahren sowieso darüber lachst, dann kannst du das doch eigentlich gleich tun. Deine Sehnsucht oder dein Problem ist zwar jetzt im Moment unbestreitbar vorhanden. Aber es wird nicht ewig anhalten. Relativierung – auch dies ist ein Schritt weg von der belastenden Situa­tion. Indem du den Blick hebst, findest du den richtigen Maßstab. Dann bist du dem Gleichgewicht zwischen den alltäglichen Belangen und der großen Linie auf die Spur gekommen. Dann wirst du dich weder in Hektik verlieren noch als vergoldete Statue nur noch Entscheidungen von intergalaktischen Dimensionen treffen wollen.
Dann bist du am Ziel: Gelassenheit.

aus:
Hudson River – Die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
© GABAL Verlag GmbH, Offenbach 2013,
S. 12, 13, 36, 37, 215, 216
ISBN 978-3-86936-509-1

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