Ausgabe 1 / 2013 Frauen in Bewegung von Susanne Schmidt-Lüer

Die Missionsärztlichen Schwestern

Heilende Präsenz im Herzen einer verwundeten Welt

Von Susanne Schmidt-Lüer

Es ist kühl an diesem Morgen. Ein leichter Wind weht. Herr K. hat seine Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Doch der wohnungslose Mann im rot-blauen Anorak trägt die Mütze nicht nur gegen die Novemberkälte. Sie ist ihm auch Schutz vor einer Welt, die ihn ausgrenzt.

Mit dem Rücken zur Tür steht Herr K., auf den Einkaufswagen mit seinen Sachen gestützt, in der Frankfurter Klingerstraße gegenüber der Elisabeth-Straßenambulanz unweit der Konstablerwache. „Er möchte abgeholt werden“, sagt Krankenschwester Theresia Förster, „denn er hat Angst, er könne sonst des Weges verwiesen werden“. Die 58 Jahre alte Missionsärztliche Schwester begleitet Herrn K. zu einer Seitentür, wartet, bis er seinen Wagen hineinbugsiert hat.

Auf der anderen Seite der Geldmedaille

„Herr K. ist schwer psychisch krank, er spricht sehr gut türkisch, er spricht Chinesisch und Vietnamesisch, und er sagt, er hat Informatik studiert“, sagt Dr. Maria Goetzens. Die Allgemeinmedizinerin leitet die Elisabeth-Straßenambulanz der Caritas. Sie ist eine von drei Missionsärztlichen Schwestern, die dort arbeiten – zusammen mit acht weiteren Hauptamtlichen in Teilzeit und mit Ehrenamtlichen. Gerade hat sie den weißhaarigen Herrn P. ins Behandlungszimmer geholt. „Ich bin nicht auf dem neuesten Stand, wo wohnen Sie zurzeit?“, fragt Goetzens Herrn P., während sie Luft in die Manschette des Blutdruckmessgerätes pumpt. „In meiner Wohnung“, sagt P. „Wie ist das mit dem Versicherungsschutz, klärt sich da was, hilft Ihnen jemand?“, fragt Goetzens. Herr P. liegt im Rechtsstreit mit seiner privaten Krankenversicherung. Seit zweieinhalb Jahren. Weil Schulden aufliefen, müsste er eigentlich einen Krankenkassenbeitrag von 190 Euro von seinen 350 Euro Arbeitslosengeld II bezahlen. „Bringen Sie mir nächstes Mal alle Unterlagen mit. Aufgeben tun wir beide nicht so schnell“, sagt Goetzens zum Abschied.

Herr P. ist einer von etwa 800 PatientInnen der Ambulanz, die ohne Krankenversicherungsschutz leben. Insgesamt behandelte das Team im vergangenen Jahr 1344 Männer und Frauen. Die meisten haben keine Wohnung und zu wenig Geld zum Leben. Sie leiden unter Süchten, Psychosen und oft unter mehreren Erkrankungen. Jede/r Dritte hat keinen deutschen Pass. PatientInnen der Elisabeth-Straßenambulanz, die im vergangenen Jahr starben, waren im Durchschnitt 60 Jahre alt. Sie starben rund 20 Jahre früher als Menschen, die in besseren Verhältnissen leben.

Die Schicksale hinter diesen Zahlen berühren die MitarbeiterInnen. Es gehört zum Credo der Missionsärztlichen Schwestern, ganzheitlich Heilung zu bringen und die Verhältnisse zu verändern: „Mit Amnesty International, Pro Asyl oder den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges zusammenzuarbeiten gehört für uns zur Heilung dazu,“ formuliert die 53-jährige Maria Goetzens.

Ein Telefon klingelt, Goetzens schreibt rasch das Ergebnis des Gespräches mit Herrn P. in den Computer. Zu dokumentieren gehört auch in der Elisabeth-Straßenambulanz zum Alltag. Auch dort gibt es einen Empfangstresen, doch es herrscht ein anderer Geist als in Arztpraxen. Zwei Rosen stehen auf jedem Tisch im Warteraum, der auch einlädt, sich im Warmen auszuruhen und einen Kaffee zu trinken.

Rasch sitzt die Missionsärztliche Schwester und Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Anke Felicitas Böckenförde mit im Raum, wenn es um das Schicksal einer jungen Frau mit Kopftuch geht, die unter einer schweren Psychose leidet. Sie will unbedingt ihre Arbeit, eine Putzstelle unterhalb der 400 Euro-Grenze, behalten. Denn ihre Eltern mussten sich verpflichten, für alles aufzukommen, damit die junge Frau überhaupt in Deutschland bleiben kann. Aufmerksam lauschen Böckenförde und Goetzens den Ausführungen ihres gesetzlichen Betreuers, der keine Lösung mehr sieht. Da fängt die junge Frau plötzlich selbst an Deutsch zu sprechen: „Die Geister gehen nicht weg abends.“ Böckenförde beugt sich vor: „Aber Sie haben immer den Hebel in der Hand, Sie sind stärker als die Geister.“ Ein Lächeln zieht über das Gesicht des Betreuers, als er sich Böckenförde zuwendet: „Die Patientin hat immer große Sorge, wenn ihre Medikamente gewechselt werden. Aber sie vertraut Ihnen so, dass Sie ihr geben können, was Sie für richtig halten. „

Herr K. liegt mittlerweile in dem großen gekachelten Raum mit Pflegebad und Duschen auf einer Liege, die Mütze tief im Gesicht. Sein linkes Bein ist wund und rot und geschwollen. „Nachts muss ich öfter nach Essen suchen – da habe ich meine Plätze, da spricht man nicht drüber“, sagt er schnell. „Ich hoffe, nicht im Müll“, sagt Theresia Förster. Und setzt besorgt hinzu: „Langes Stehen ist nicht gut“. „Ich habe halt keine Arbeit, was soll ich machen“, sagt K. „Es ist wichtig, dass Sie die Beine hochlegen,“ insistiert Schwester Theresia. „Ich versuche, mich und das Bein hinzulegen, aber alleine eine Toilette zu suchen, auf der ich nicht wegschikaniert werde, erfordert Zeit. Alles, weil ich keine Arbeit habe. Dann könnte ich in der Firma auf die Toilette gehen, meine Sachen waschen und meinen Wagen in den Spind stellen.“

Maria Goetzens untersucht die Wunde. Nach und nach gelingt es ihr, Herrn K. zu überzeugen, sich den Krankencontainer für Obdachlose im Ostpark zumindest anzusehen. Dass er etwas Proviant erhält, ist Teil der Abmachung. Rasch holt Theresia Förster einen Literkarton Milch, K. verstaut ihn zufrieden ganz oben auf seinem Gepäckwagen. Es sind Momente wie dieser, die hin und wieder Eingang finden in ein Buch, das auf einem Stehtisch zwischen Empfangstresen und Warteraum liegt: „Als ehemaliger Obdachloser auf Irrwegen finde ich solche Einrichtungen wie einen Diamantenfund in tiefster Dunkelheit!“

Gemeinsam unterwegs in verbindlicher Mission

Es ist Abend geworden. Theresia Förster, Anke Felicitas Böckenförde und Maria Goetzens sind zurückgekehrt in ihre Kommunität direkt neben einem Hochhaus in der Frankfurter Nordweststadt. Sechs Namen stehen auf dem Klingelschild. Ein Plakat von Pro Asyl hängt neben der Eingangstür. Maria Goetzens, die die Kommunität leitet, führt durch das Haus. Im Obergeschoss ist schon eine lange Tafel für elf Frauen gedeckt, die dort nach dem Gebet essen werden. Das Büro für die Koordinierung der Gemeinschaft in Europa liegt ebenfalls dort. Die internationale Verbundenheit schreiben die in sechs Kontinenten beheimateten Missionsärztlichen Schwestern groß. In Frankfurt lebt seit einem Jahr die Inderin Mary Joseph Pullattu, „sie teilt ihre Erfahrung mit uns. Das stärkt unsere internationale Verbundenheit“, erklärt Goetzens. Auch eine Schwester aus Frankfurt, die gerade nach London gereist ist, sorgt für Austausch über Grenzen hinweg. Gemeinsam mit einer weiteren deutschen und einer indischen Schwester baut sie mitten in London die erste internationale Kommunität des Ordens auf.

Im Wohnzimmer stehen Tee und Plätzchen bereit. Sechs Frauen haben auf den weiß bespannten Polsterstühlen Platz genommen. Die Frage, was Mission für sie bedeutet, ob sie sie eher als Auftrag empfinden oder mehr als Missionieren unter Andersgläubigen, löst tiefes, fast meditatives Schweigen aus. Auf der Fensterbank steht ein Bild der österreichischen Ordensgründerin Anna Dengel. Maria Goetzens wirft einen Blick in die Runde und beginnt: „Ich werde angesprochen vom Charisma des Heilens, das liegt in meinem Beruf. Aber als ich mich auf die Socken machte, hatte ich nicht die Idee, in eine katholische Ordensgemeinschaft zu gehen. Ich hatte immer schon den Impuls, Not wirklich kennenzulernen.“ Bei einer Mission auf den Philippinen begegnete sie Frauen, „die in aller Radikalität versuchten, unter dem Elend im Slum zu leben. Ich kam im Ausland zuhause an.“ Goetzens wollte „mit Menschen unterwegs sein, die auf die Nöte der Zeit Antworten geben, Hörende und Heilende sind.“ 1988 kam die Ärztin in die Bankenstadt Frankfurt, um „die andere Seite der Geldmedaille zu suchen“. Über Jesus zu sprechen gehört überhaupt nicht in ihren Alltag in der Ambulanz.

Ganz anders ist das bei der Theologin und Pastoralpsychologin Beate Glania, die Mission so versteht: „Ich spreche dauernd von Gott. Und ich ermutige Menschen, dass sie das auch tun.“ Sie arbeitet mit angehenden PastoralreferentInnen in der katholischen Hochschule St. Georgen. Und begleitet Frauen auf dem Weg in die Ordensgemeinschaft, die in Deutschland langsam aber kontinuierlich wächst. Glania kam zu den Missionsärztlichen Schwestern, weil sie Heilung „als eine wesentliche Dimension von Gott“ definiert. Sie weiß: „Dort, wo ich in meinem Leben verwundet wurde, habe ich eine spezielle Sensibilität für andere, die auch verwundet wurden. Das ist für mich im tieferen Sinne Mission.“

Klassisch als Missionsärztin in Asien Leprakranke heilen wollte die Psychiaterin Dr. Anke Felicitas Böckenförde: „Schon als Kind war es mein Traum, Missionsärztin zu werden. Ich wollte Medizin studieren und zu Menschen gehen, zu denen keiner hingeht.“ Doch ihren ursprünglichen Plan stellte sie zurück, weil sie in Deutschland die Not der „vielen psychisch kranken Menschen auf der Straße kennenlernte“. Die 42-Jährige arbeitet nicht nur in der Elisabeth-Straßenambulanz, sondern auch in der Institutsambulanz der psychiatrischen Klinik Hohe Mark. „Missionarisch leben“, sagt Böckenförde, „heißt zu pilgern, innerlich und äußerlich auf dem Weg zu bleiben.“

Im Stadtteil Gallus, in Bahnhofsnähe, mit vielen Alleinerziehenden und Migranten-Familien, wirkt Schwester Mariotte Hillebrand als Pastoralreferentin. Die 34-Jährige arbeitet in einem Nachhilfeprojekt für Kinder und in der Trauerbegleitung. Nicht in den „klassischen Ordensgemeinschaften“, sondern bei den Missionsärztlichen Schwestern fand die Theologin und Sozialpädagogin den Ort, an dem sie ihren Glauben „radikal leben und in den kritischen Dialog mit Kirche treten kann“.

Den negativen Beiklang, den der Begriff „Mission“ häufig hat, spricht die junge Schwester Laura Knäbel an. Sie selbst erlebte, „dass Mission mit Beziehung zu tun hat und gar nichts damit, jemandem etwas überzustülpen“. Bei den Missionsärztlichen Schwestern entdeckte sie, „wie bunt meine Biografie ist“. Heute arbeitet Knäbel, die bilingual aufwuchs, in der italienischsprachigen Gemeinde im Frankfurter Westend unter anderem auch mit Menschen, die am Rande stehen und vor der wirtschaftlichen Lage in Italien flohen. Und mit Eurobankern.

Karin Knötig (34) hat erst vor kurzem ihre Erste Profess abgelegt. Sie lebt im Nachbarhaus, zusammen mit anderen Schwestern in den ersten beiden Jahren ihres Weges in die Gemeinschaft.
Warum sie „Krankenschwester wurde“ und sich in diesem Beruf so wohlfühlt, wurde Karin Knötig erst bei den Missionsärztlichen Schwestern klar. Sie arbeitet auf der neurologischen Intensivstation im nahen Krankenhaus Nordwest. „Dort steht eher der Aspekt des Unternehmens-Krankenhauses im Vordergrund. Für mich ist die Herausforderung, klar zu machen: wir arbeiten mit Menschen.“

Die Zeit für das Abendgebet ist gekommen. Unten im Kellergeschoss stehen Stühle im Halbrund auf hellem Teppichboden, ausgerichtet auf brennende Kerzen und ein einfaches Kruzifix. Schwester Irene Fernandez sitzt mit im Kreis, morgen wird sie zurück nach Delhi fliegen. Die Frauen sind eingekehrt in sich selbst, sie sprechen abwechselnd einen Psalm, teilen Gesang und Gebete. Und auch den Dank für die psychisch kranke Frau aus der Elisabeth-Straßenambulanz, die Vertrauen fassen konnte. Und für Herrn K., der so viel Angst vor anderen hat und sich dennoch darauf einließ, den Krankencontainer im Ostpark anzuschauen. Heilende Präsenz zu sein im Herzen einer verwundeten Welt, das bedeutet für die Krankenschwester und gelernte Erzieherin Theresia Förster, „in Beziehung zu gehen, Menschen Freude und Hoffnung zu geben. Das ist missionarisch.“

Susanne Schmidt-Lüer, geboren 1960, ist freie Journalistin und lebt in Hofheim am Taunus. Nach dem Studium der Theologie, Germanistik und Geschichte arbeitete sie 25 Jahre als Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau. Sie interessiert sich besonders für religiöse und soziale Themen.

Missionsärztliche Schwestern
Drei Flammen wachsen in einem Globus empor, eine Äskulapschlange windet sich in ihre Mitte: das Symbol der Missionsärztlichen Schwestern. Das Feuer der Gegenwart Gottes am Brennen halten, die prophetische Stimme von Jesus, dem selbst verwundeten Heiler hören dies bewegte die bereits 1920 in Indien engagierte österreichische Ärztin Anna Dengel (1892?–?1980). 1925 gründete sie in Washington die Gemeinschaft der Missionsärztlichen Schwestern. Dem katholischen Orden gehören heute weltweit rund 570 Frauen an.

„Heilende Präsenz sein an den Brennpunkten des Lebens“ ist das Credo, das auch die in kleinen Gruppen zusammenlebenden deutschen Gemeinschaften in Berlin, Bottrop, Essen, Frankfurt und Münsterschwarzach prägt. Sie sind im medizinischen, therapeutischen, pastoralen oder sozialen Bereich ausgebildet und setzen sich für Obdachlose und ausländische MitbürgerInnen, Drogenabhängige, Kranke und alte Menschen ein. Im Sinne einer ganzheitlichen Heilung fragen die Missionsärztlichen Schwestern nach den Ursachen von Unheil und Ungerechtigkeit und engagieren sich für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

Die Ordensfrauen laden Frauen wie Männer zur Sinnorientierung auf dem Weg der persönlichen Identitäts- und Spiritualitätsfindung ein. – mehr unter:
www.missionsaerztliche-schwestern.org

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