Alle Ausgaben / 2010 Frauen in Bewegung von Hildegund Keul

Die Mystikerin Mechthild von Magdeburg

Troubadoura der Gottesminne

Von Hildegund Keul

Magdeburg um 1230 – eine blühende Handelsstadt, ein aufstrebendes Bürgertum, ein reicher Klerus. Als die junge Adlige Mechthild hier eintrifft, hat sie die Sicherheit der Burg ihrer Eltern verlassen, den vorgezeichneten Weg als Ehefrau und Mutter von Stand, um sich in der mittelalterlichen Stadt eine neue Heimat zu schaffen.

Geboren wird Mechthild 1207, im selben Jahr wie Elisabeth von Thüringen, auf einer der zahlreichen Burgen im Umland von Magdeburg. Im Alter von zwölf Jahren macht Mechthild ihre erste mystische Erfahrung. Sie erfährt „den fließenden Gruß des Heiligen Geistes“. Mit 23 Jahren verlässt sie den Ort ihrer Kindheit.
Zielstrebig geht Mechthild an den Ort, wo die Brüche ihrer Zeit besonders deutlich zu spüren sind. Denn in der neuen Stadtkultur geraten viele Menschen unter die Räder, besonders alleinerziehende Frauen, Waisen, Elendsprostituierte, Kranke und Sterbende. Diesen ausgegrenzten Menschen widmen sich die Beginen. Sie leben nach der Armut des Evangeliums und verbinden in ihrer alltäglichen Arbeit die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe.

Etwa zwanzig Jahre lebt Mechthild in Magdeburg, als die Beginen mit dem Domkapitel der Stadt in Streit geraten. Nun beginnt sie ihr Buch Das fließende Licht der Gottheit zu schreiben. Dem Missbrauch von Macht und Reichtum setzt sie die Hoffnung Gottes und die Kraft der Minne entgegen. Denn in der Seelsorge macht sie die Erfahrung, dass nicht nur die gelehrten Kleriker, sondern auch „der ungelehrte Mund“ in der Frage nach Gott Rede und Antwort zu stehen hat. Mechthilds theologischer Ort ist die Armut der Menschen, in deren Dunkelheit das Licht der Gottheit zu fließen beginnt. Als Magdeburger Begine wird sie zur Troubadoura der Gottesminne. In allen Farben und Tönen, mit allen Bildern und Metaphern der Minnelyrik besingt sie die Kraft der göttlichen Liebe, die zum Tanz des Lebens lockt.

1270 geht Mechthild in das Kloster Helfta, wo sie mit Unterstützung der Mitschwestern ihr Werk vollendet. Als Lehrerin und Mentorin der Nonnen legt sie mit ihrem „Fließenden Licht“ den Grundstein der Mystik von Helfta. Sie stirbt in den Jahren zwischen 1282 und 1294. Ihr Gedenktag in der röm-kath. Kirche ist der 15 August. Im evangelischen Namenskalender ist Mechthild als für die Geschichte aller Kirchen wichtige Frau am 26. Februar verzeichnet.

Eine heilige Aufmerksamkeit für uns selbst

„Eine heilige Aufmerksamkeit sollen wir für uns selbst haben und zu allen Zeiten in uns tragen, dass wir uns vor Gebresten bewahren. Eine liebevolle Aufmerksamkeit sollen wir für unsere Mitmenschen haben. Ihnen die Fehler wohlmeinend allein offenbaren. So könnten wir uns viel unnütze Rede ersparen. Amen“(1)

Diese lebensnahe Empfehlung gibt die Mystikerin Mechthild von Magdeburg in ihrem Buch Das Fließende Licht der Gottheit. An erster Stelle empfiehlt sie „eine heilige Aufmerksamkeit … für uns selbst“. Am frühen Morgen, bevor der Arbeitstag so richtig losgeht, ist die Zeit besonders geeignet, diese Aufmerksamkeit zu praktizieren. Mechthild nennt sie „heilig“, denn sie ist heilsam und rührt an den Kern dessen, was das geistliche Leben ausmacht. Geistlich leben heißt, wirklich leben: aufmerksam, wach, geistesgegenwärtig.

Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit geistesgegenwärtig auf sich selbst. – Stille

Geistesgegenwärtig sich selbst im Blick zu behalten, das wird uns vor „Gebresten“ bewahren – so Mechthilds Erfahrung. „Gebresten“ ist das, was fehlt, was man aber dringend braucht. Das Wort „Gebrechen“ hängt hiermit zusammen. Körperliche und seelische Gebrechen gehen oft aus Überforderungen hervor. Menschen, die an Burn-out leiden, berichten, dass sie kein Gefühl mehr haben für sich selbst. Die Empfehlung Mechthilds wirkt dem entgegen: eine heilige Aufmerksamkeit „zu allen Zeiten in uns tragen“. Das ist eine starke Metapher, die Aktivität benennt. Was ich aktiv in mir trage, das geht nicht verloren.

Wer nicht bei sich selbst ist, ist nicht präsent, sondern sonstwo, und kann daher anderen nicht begegnen. Wer hingegen „mit heiliger Aufmerksamkeit“ bei sich selbst ist, wird geistesgegenwärtig und kann sich für andere öffnen. Daher schließt sich die zweite Empfehlung nahtlos an: eine liebevolle Aufmerksamkeit für unsere Mitmenschen. Diese Aufmerksamkeit ist gefragt, wo Konflikte zu brodeln beginnen, wo Menschen Fehler machen oder einfach Missverständnisse ihr Unwesen treiben. Dies offen zu benennen und nicht nur sich selbst, sondern auch den anderen reinen Wein einzuschenken, hält Mechthild für besonders wichtig. Aber ein offenes Wort soll „wohlmeinend“ sein und wird am besten „allein“ offenbart. Und dann abschließend ganz pragmatisch: „das wird uns viel unnütze Rede ersparen. Amen.“

Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit liebevoll auf die Menschen, denen Sie heute begegnen werden. – Stille

Dass Mechthild eine heilige und liebevolle Aufmerksamkeit empfiehlt, liegt auch an den Gotteserfahrungen, die sie als Protagonistin der Armutsbewegung macht. Mitten in der Armut erfährt sie die Kraft, die „das fließende Licht der Gottheit“ freisetzt. Im 13. Jahrhundert lebt sie in einer Gesellschaft, die lebhaft und kontrovers über Gott diskutiert. Wie kann man überhaupt von Gott sprechen? Und welche Bilder und Metaphern erschließen die konkrete Bedeutung Gottes für den Alltag?

Mechthild spricht in männlichen und weiblichen Bildern von Gott. Sie schreckt auch nicht vor der Bezeichnung „Göttin“ zurück. In der Vielfalt ihrer Bilder ist dieses Licht zentral, das fließt und strömt, das selbst beweglich ist und andere in Bewegung bringt. Besonders willkommen ist dieses Licht dort, wo Dunkelheit das Leben verfinstert, wo Armut bedrängt und Ohnmacht sich ausbreitet. Eigene und fremde Gotteserfahrungen ermutigen die Mystikerin, gerade hier von Gottes Licht zu sprechen. Denn sie ist überzeugt: Dieses Licht „strömt aus dem fließenden Gott in die arme, dürre Seele hinein zu allen Zeiten mit neuer Erkenntnis und neuer Anschauung und besonderem Genuss der neuen Gegenwärtigkeit.“  Gott ist jene Lichtquelle, der sich Menschen alltäglich zuwenden können. Es führt zu „besonderem Genuss der neuen Gegenwärtigkeit“. Ist das nicht eine inspirierende Verheißung?

Ich lade Sie ein, dass wir gemeinsam dieses „fließende Licht“ herbei rufen, auf dass es uns Erleuchtung und den „Genuss der neuen Gegenwärtigkeit“ schenkt, mit dem Lied: „Fließe, gutes Gotteslicht“.

Die Texte dieses Beitrags wurden uns von Prof. Dr. Hildegund Keul zur Verfügung gestellt. Sie hat kath. Theologie und Germanistik studiert und ist Leiterin der Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz und außerplanmäßige Professorin für Fundamentaltheologie und Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Würzburg.

Die Texte zusammengefügt hat Margot Papenheim, Redakteurin ahzw.

Zum Weiterlesen

Hildegund Keul: Lebensorte – Lebenszeichen. Auf den Spuren von Mechthild von Magdeburg und Elisabeth von Thüringen, Mainz (Matthias-Grünewald-Verlag) 2007
www.kloster-helfta.de: Nach 450 Jahren leben heute wieder Cisterzienserinnen im Kloster Helfta, das u.a. Räume für Tagungen anbietet.
www.lebendiges-labyrinth.de: Im Garten des Klosters Helfte wurde auf Initiative einiger Diözesanverbände der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands e.V. (kfd) ein „lebendiges Labyrinth“ angelegt – ein Ort an dem Menschen ruhig werden und die Schöpfung genießen können, ein Ort der Begegnung mit Texten der Mystikerin-nen von Helfta.

Anmerkungen

1 Das fließende Licht der Gottheit II, 26. Der folgende Text wurde als Einstieg in einen Frauentag geschrieben. Er ist veröffentlicht in: Marie-Luise Langwald, Isolde Niehüser (Hg.): Gottes-Namen. (FrauenGottesDienste 27), © KlensVerlag der
Schwabenverlag AG, Ostfildern 2009, S. 39ff.
2 Das fließende Licht der Gottheit I,2
3 Das Lied ist in ahzw 4-2004, S. 26 abgedruckt. Für AbonnentInnen als PDF unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen im Materialarchiv zugänglich.

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