Ausgabe 2 / 2017 Artikel von Dr. Alexandra Bloch Pfister

Die Predigerin und Literatin Katharina Zell-Schütz

Flucht und Ankommen in reformatorischer Perspektive

Von Dr. Alexandra Bloch Pfister

Katharina Zell-Schütz war eine der ersten Frauen der Reformation, als Priester-Ehefrau und evangelische Pfarrfrau lebte sie ihre evangelische Haltung im Alltag und konkret. Ihr ganzes Leben lang kümmerte sie sich um Arme, Kranke, Geflüchtete und Gefangene und nahm viele von ihnen in ihrem großen Münster-Pfarrhaus auf. Dieses Engagement verstanden sie und ihr Mann als Teil ihres reformatorischen Amtes.

Das frühe 16. Jahrhundert war eine Zeit tiefgreifender politischer und religiöser Umbrüche, geprägt von sozialen Uto­pien und geistigen Streitgesprächen. Die enge Verknüpfung von Politik und Herrschaft mit Religion und Glauben führte aber auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen, zahlreichen Fluchtbewegungen und sozialpolitischen Protestbewegungen wie dem Bauernkrieg. Martin Luthers Thesen gegen den Ablasshandel, gedacht als Reform und ­Erneuerung der römisch-katholischen Kirche, fanden großen Anklang in breiten Kreisen der Bevölkerung, stießen aber auch auf den heftigsten Widerstand von katholischem Klerus und ­Kaiser. Da ein Konsens nicht gefunden werden konnte, entstand im Laufe von 40 Jahren, vom Thesenanschlag 1517 bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555, mit der evangelischen Konfession ein zweites christliches Bekenntnis. Die sich 1529 mit dem protestierenden Auszug der evangelischen Stände vom Reichstag in Speyer formierende Protestantische Bewegung vermochte sich – trotz der klar ablehnenden Haltung des Kaisers – zu halten und zu festigen, was nicht zuletzt auf die außenpolitische Lage, vor allem den Abwehrkampf Karls V. gegen die Türken, die 1529 vor Wien standen, zurückzuführen ist.

„Ich bin eine Kirchen-Mutter …“

Diese formalen Eckdaten des Verlaufs der Reformation sind wichtig für das Verständnis von Handeln und Leben der Katharina Zell, decken sich ihre ­Lebensdaten doch ziemlich genau mit den reformatorischen Höhepunkten. Geboren 1497 als Tochter des Straß­burger Schreinermeisters und Ratsmitglieds Jakob Schütz und der Elisabeth Gerster, wuchs sie in wohlhabendem Milieu auf und gehörte zur Oberschicht der freien, wirtschaftlich prosperierenden Reichsstadt Straßburg. Sie lernte vermutlich das von Frauen betriebene Handwerk der Wirkweberei und beschäftigte sich bereits in jungen Jahren intensiv mit religiösen Schriften. In einem ihrer erhaltenen Briefe schreibt sie: „Ich bin, seit ich zehn Jahre alt, eine Kirchen-Mutter, eine Ziererin des Predigtstuhls und Schulen gewesen, habe alle Gelehrten geliebt, viel besucht, und mit ihnen mein Gespräch, nicht von Tanz, Weltfreuden oder Fassnacht, sondern vom Reich Gottes gehabt.“ Sie plante für sich offensichtlich ein religiöses, unverheiratetes Leben, das sie ohne regulierte religiöse Gemeinschaft durch eigene Bemühungen um theologische Bildung sowie diakonisches Engagement zu gestalten anstrebte. So suchte sie auch das Gespräch mit männlichen Theologen und leitete einen religiösen Diskussionskreis von Frauen; in diese Zeit fiel auch ihre Rezeption der „erbaulichen Trostschriften“ Luthers, die dieser zwischen 1518 und 1521 verfasste.

Die Schriften und Forderungen der Reformatoren fielen bei der gut ausgebildeten und wissbegierigen Handwerkertochter auf fruchtbaren Boden, zugleich bot ihr die Durchsetzung der Reforma­tion in Straßburg ab 1521 auch die Möglichkeit, ihre Vorstellungen konkret zu leben. Ab diesem Zeitpunkt predigte der seit 1518 am Straßburger Münster wirkende sehr beliebte und bekannte Prediger Matthäus Zell im reformato­rischen Sinne; Katharina gehörte zu ­seinen Zuhörerinnen. Am 3. Dezember 1523 heirateten der 46-jährige Refor­mator und die zwanzig Jahre jüngere Katharina im vollbesetzten Münster und vollzogen damit die erste Priesterehe in Straßburg. Getraut wurden sie von Martin Bucer, der neben Zell und Wolfgang Capito der dritte wichtige Straßburger Reformator war. Die Priesterehe war zu dieser Zeit etwas unerhört Neues und provozierte den massiven Widerstand des katholischen Bischofs von Straßburg. Im April 1524 exkommunizierte er alle sieben Geistlichen, die sich bis zu diesem Zeitpunkt in Straßburg trauen ließen. Neben Zell und Capito verfasste auch Katharina eine gedruckte Rechtfertigungsschrift, die „Entschuldigung“, in der sie sich bibelfest und mit Mut gegen üble Nachrede in der Folge ihrer Eheschließung zur Wehr setzte.

Priesterheirat und evangelische Gesinnung

Katharina Zell war nicht nur eine der ersten Frauen überhaupt, die einen Priester heirateten (Luther folgte mit ­Katharina von Bora erst 1525). Sie war darüber hinaus die einzige deutsche evangelische Pfarrfrau des 16. Jahrhunderts, die in größerem Umfang literarisch tätig war und ihre Rolle selber auch reflektierte. Vom ersten Moment ihrer Ehe an ging es ihr um das Wort Gottes und den Aufbau der Gemeinde. So schrieb sie von sich: „Dan ich auch den Predigt-Stuhl zu Straßburg haben helfen bauen.“ Sie gehörte zur ersten Generation der Reformatoren. Mit ihrer Priester-Heirat bewiesen diese Männer und Frauen ihre evangelische Gesinnung. Die Pfarrehe – und damit die Pfarrfrau – wurde zu einem zentralen Bestandteil des neuen reformatorischen Amtsbegriffs. Mit der Eheschließung war für Katharina die Berufung in das Gemeindeamt verbunden: Ihr fiel nun die Aufgabe zu, die von ihrem Mann gelehrte und gepredigte Nächstenliebe exemplarisch zu verwirklichen und „armer und verjagter leüth Mutter zu sein so lang [sie] Gott bey einander liesse“. Der frühe Tod ihrer beiden Kinder trug sicherlich auch dazu bei, dass sie ihren Lebenseinsatz ganz im pfarrfraulichen Dienst sah. Ihren Schwerpunkt sah sie in der Seelsorge.

Als 1524 150 Glaubensflüchtlinge aus dem südbadischen Kenzingen nach Straßburg kamen, brachte sie in der ersten Nacht achtzig von ihnen in ihrem Pfarrhaus unter und verköstigte 50 bis 60 von ihnen vier Wochen lang. Die Kenzinger Männer hatten ihren reformiert gesinnten Pfarrer nach seiner Ausweisung aus der Stadt einige Kilometer begleitet, um nach ihrer Rückkehr die Stadttore verschlossen vorzufinden. Ein Mann wurde festgenommen und hingerichtet, die übrigen konnten nach Straßburg fliehen. Katharina nahm sich nicht nur der Flüchtlinge an, sondern verfasste auch einen Trostbrief an die zurückgelassenen Frauen in Kenzingen – eine der vier von ihr erhaltenen gedruckten Schriften.

Einsatz für Geflüchtete und Notleidende

Dieses Trostschreiben „An die leidenden christgläubigen Weiber der Gemeinde zu Kenzingen“ ist von großer seelsorgerischer Tiefe geprägt: Sie deutet das Leiden als eines der wahrhaftesten Zeichen göttlicher Liebe, da Gott selber seinen Sohn habe leiden lassen. Auch wenn Gott ihnen jetzt verborgen sei, sollten sich die Frauen seiner Barmherzigkeit gewiss sein. Dies belegt sie mit einem Jesaja-Zitat: „So wenig als die Mutter ihres saugenden Kindes mag vergessen, so wenig mag ich euer vergessen. Und ob sie sein vergisst, so mag ich doch euer nicht vergessen.“ (Jesaja 49,15)
Sie kümmerte sich ihr ganzes Leben lang um Arme, Kranke, Geflüchtete und Gefangene und nahm immer wieder zahllose in ihrem großen Münster-Pfarrhaus auf. 1525 brach der Bauernkrieg aus. Als sich auch um Straßburg aufgebrachte Bauern versammelten, ging sie mit ihrem Mann und Wolfgang Capito zu den Aufständigen, um – vergebens – für ein gewaltfreies Vorgehen zu werben. Während des Krieges zog sie über die Dorfer des Umlands, um „die armen Weib und Kinder heimzusuchen unnd [zu] trösten.“ Nachdem die Bauernheere vernichtend geschlagen worden waren, strömten Frauen und Kinder sowie Überlebende der Gemetzel in die freie Reichstadt, in der sich während der ­Krisenzeit bis zu 3.000 Menschen zusätzlich aufhielten. Zusam­men mit dem städtischen Almosenpfleger und zwei Witwen organisierte ­Katharina Hilfsmaßnahmen für die Flüchtlinge im ehemaligen Franziskanerkloster. Zusätzlich vermittelte sie alle diejenigen, die nicht im verlassenen Kloster unterkamen, an Privatpersonen und sie organisierte Spen­den aus der Bevölkerung.

1531 vermerkt die Stadtchronik: „Caterina, mster Mathis Zellen frau, ist zu den armen sündern, die zum tod verurtheilt, gangen sie zu trösten.“ Sie besuchte regelmäßig während Jahren den vor den Toren der Stadt lebenden aussätzigen Junker Felix Armbruster, um ihn in seiner Krankheit zu trösten. Ihm widmete sie 1558 ihre gedruckte Auslegung von Psalm 51 und 130. Und als der Straßburger Reformator Kaspar Hedio 1552 starb, erbat er sich ausdrücklich Katharina vor „alen Predigern“ an seinem Sterbebett als seelsorgerischen Beistand, indem er sie „vill mal ermanet, das [sie] nit von ihm wöll ghon, das khan sein Weib und Kinder noch bezeugen.“

In ihrem Einsatz für Bedrängte und Notleidende scheute sie Konfrontationen mit den Machthabern keineswegs. So nahm sie den aus Calw vertriebenen protestantischen Prediger Marx Heilandt auf und verschaffte ihm – gegen den Widerstand einiger Straßburger Geistlichen – eine Vikarstelle. Und sie nahm heimlich nach dem Augsburger Interim 1949 während vier ­Wochen die beiden aus Straßburg ausgewiesenen Prediger und Reformatoren Martin Bucer und Paul Fagius in ihrem Haus auf und gewährte ihnen damit Asyl, bevor diese ins Exil nach England gingen.

Recht auf Einspruch in Krisen

Ihr gastfreies Pfarrhaus stand aber auch Nichtverfolgten offen: Sie beherbergte 1538 während zwei Wochen die nach Marburg reisenden Reformatoren Ulrich Zwingli, Oekolampad und Schwenckfeld, und 1540 im Zusammenhang
mit dem Hagenauer Religionsgespräch „30 herrlicher gelehrter Menner auß Wittenbergk, Sachssen, Hessen, Nürenbergk, Schwaben und anderen Ortten“. Die sich ihr dabei bietenden Möglichkeiten in Kontakt mit den führenden Repräsentanten der Reformation zu gelangen, nahm Katharina begierig auf. Sie empfand sich bei solchen Gesprächen keineswegs nur als Objekt kluger Belehrung, sondern als aktive Gesprächspartnerin. Sie selbst sei den „alten herr­lichen gelerten mennern und bauwleuten der Kirchen Christi […] so lieb gewesen“, dass diese selber das Gespräch mit ihr gesucht hätten. Mehrmals begleitete sie ihren Mann auf seinen Besuchen anderer Reformatoren, so auch auf einer längeren Reise 1838, die sie unter anderem nach Wittenberg führte.

Nach dem Tode ihres Mannes 1548 lebte sie weitere zwei Jahre im Pfarrhaus; anfänglich in gutem Einverständnis mit dem Nachfolger ihres Mannes, Ludwig Rabus, der sie gebeten habe, so Katha­rina, „nicht von ihm zu weichen, sonder im hauß zu bleiben, sein und der kirchen mutter zu sein“. Der mit den Zells gut bekannte Rabus wird zu Beginn seiner Amtstätigkeit auf die Unterstützung der geachteten und erfahrenen Pfarrfrau nicht verzichtet haben wollen. Bald kam es aber zu Konflikten zwischen den beiden, die auch in gedruckten – und bis heute überlieferten – Schriften ausgetragen wurden und im Kern eine Auseinandersetzung zwischen reformato­rischen Ideen der ersten Generation evangelischer Prediger und solchen der nachkommenden Generation waren. Die Glaubensvorstellungen hatten sich verfestigt, Andersgläubige wurden hart angegriffen. Dies wollte und konnte ­Katharina, die ihr ganzes Leben die christliche Liebe über die Glaubens­unterschiede gestellt hatte und offen blieb für verschiedene Strömungen der Reformation, nicht hinnehmen. Was die Auseinandersetzung aber verschärfte, war das Selbstverständnis Katharinas als Inhaberin eines ihr durch die Ehe mit einem Priester verliehenen Gemeindeamtes. Dieses erlosch in ihrem Verständnis mit dem Tode ihres Mannes nicht.

Wenn sich deshalb Katharina in ihrem Gewissen als Amtsperson zu reden gefordert sah, tat sie dies und überschritt damit auch die ihrem Geschlecht in der frühen Neuzeit gesetzten Grenzen. Mit diesen Recht zum Einspruch in Krisen­situationen, wie sie es durch Rabus' Amtsführung gegeben sah, knüpfte sie an das in der Frühzeit der Reformation auch von Luther allen Laien weiblichen Geschlechts zugestandene Notmandat an, kraft des Priestertums aller Gläu­bigen dann im Sinne des Evangeliums zu handeln und zu reden, wenn die Männer versagten. Dass sie auf der Basis dieses frühreformatorischen Gedankenguts auch Jahrzehnte später in einer konsolidierten und verfestigten religiösen Landschaft noch gewandt, überzeugend und vielseitig respektiert handeln konnte, ist – neben ihren intellektuellen Fähigkeiten – sicherlich auch auf ihren sozialen Hintergrund zurückzuführen: Bis weit über den Tod ihres Mannes hinaus blieb Katharina Zell in Straßburg eine hochgeachtete und aufgesuchte Autorität.

„die verjagden auffgenummen …“

So hielt sie nach Bucer die zweite Leichenpredigt bei der Beerdigung ihres Mannes und einige Jahre später und kurz vor ihrem eigenen Tod zwei Grabreden für Frauen. Da eine der Frauen Anhängerin einer mittlerweile verfemten reformatorischen Richtung gewesen war, wollte kein Pastor die Verstorbene öffentlich beerdigen. Die Verwandten baten Katharina Zell, den Trauergottesdienst in aller Frühe zu halten. Da sie selber schon zu schwach zum Gehen war, ließ sie sich auf einer Pritsche zum Friedhof bringen. Der Straßburger Rat wollte Katharina nach ihrer Gesundung zur Rechenschaft ziehen; sie starb jedoch am 5. September 1562 und wurde unter großer Anteilnahme der Bevölkerung zu Grabe getragen.
Katharina Zell, von der Straßburger Bevölkerung auch liebevoll-spöttisch und ehrfurchtsvoll Doktor Katharina genannt, verstand ihren Einsatz für Flüchtlinge und Benachteiligte als Teil ihres reformatorischen Amtes, das sie zusammen mit ihrem Mann bei ihrer Heirat übernommen hatte: Sie habe „die verjagden auffgenummen, die elenden getröstet […] und kirch, predigstul und schulen gefürderet und geliebt.“ Damit helfe sie, „das Evangelium (zu] bauwen“. Das Bild der evangelischen Pfarrfrau prägte sie durch ihr Handeln und ihre literarische Tätigkeit für Generationen wesentlich mit.

Dr. Alexandra Bloch Pfister ist freiberufliche Historikerin und Journalistin in Münster. Sie ist Inhaberin des Büros für Geschichte & historische Kommunikation http://alexandra-bloch.de.

Für die Arbeit in der Gruppe

(von Simone Kluge)

Sie haben von der Situation der Männer und Frauen im 16. Jahrhundert gehört.
Was sind für Sie nachvollziehbare Fluchtgründe?

1. Finden Sie sich in Kleingruppen zusammen und tauschen Sie sich über Ihre Umfrageergebnisse aus. Als Einstiegsfrage kann dienen, wie oft jede Ja, Nein oder Vielleicht angekreuzt hat. Dann erst, wie sie zu ihrer Entscheidung gekommen ist.

2. Ordnen Sie dann die Begriffe den vorangehenden Beispielen zu (Mehrfachnennungen sind möglich) und stellen Ihre Ergebnisse im Plenum vor.

3. Die Leiterin kann Hintergrundinformationen (siehe www.ahzw-online.de) ergänzen.

4. Sammeln Sie dann Beispiele aus der heutigen Zeit und kommen Sie darüber ins Gespräch.

Hintergrundinformationen zu frauen­spezifischen Fluchtgründen im 16. Jahrhundert und eine „Auflösung“, welche historischen Begebenheiten sich hinter den im Fragebogen dargestellten Fluchtgründen verbergen, finden Sie online unter www.ahzw-online.de.

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