Ausgabe 2 / 2007 Frauen in Bewegung von Luise Metzler

Die Prostituierten und ihre Bewegung

Von Luise Metzler

„Der Staat ist der größte Zuhälter.“ Mit diesem Slogan besetzten Prostituierte am 2. Juni 1975 die Kirche St. Nizier in Lyon/Frankreich und streikten eine Woche. Sie trugen ihren Protest gegen Repressionen durch die Polizei und die rechtlose Stellung der Frauen in die Öffentlichkeit. Unterstützt von Bevölkerung und Kirchenleitung in Lyon forderten sie die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Tätigkeit als Beruf. Die Politik war anderer Meinung. Am 10. Juni räumte die Polizei gewaltsam die Kirche. Eine Protestwelle rollte durch ganz Frankreich. Weiter unterstützt vom Volk besetzten Prostituierte Kirchen in Grenoble, Marseille und Paris und verweigerten ihre Arbeit.

Ihre Arbeit? Dieses Wort führt ins Zentrum der Forderungen: Die Anerkennung ihrer Tätigkeit als Arbeit. Die Geschichte der Prostitution ist eine Geschichte von Ausgrenzung, Verfolgung und Diskriminierung. Trotz der rechtlichen Pflicht, Steuern zu zahlen, galt ihre Arbeit als sittenwidrig. Eine Doppelmoral – denn für Männer, die die Dienste von Prostituierten kaufen, gilt diese Bewertung nicht.

Die Prostituierten waren ihr Leiden leid. Sie standen dagegen auf. Sie forderten respektvolles Miteinander: „Wir philosophieren nicht darüber, warum es Prostitution gibt, und ob es sie geben muss. Möglicherweise gäbe es eine Gesellschaft ohne Prostitution, aber wenn, dann sind wir davon überall auf dieser Erde weit entfernt. Wir sehen Prostitution als sexuelle Dienstleistung. Es gibt eine Nachfrage und ein Angebot, und es kann nicht sein, dass nur die Anbieterinnen gesellschaftlich und moralisch diskriminiert werden.“ (1) Die Frauen drangen auf Verbesserung ihrer rechtlichen und sozialen Lage, auf Anerkennung ihrer Arbeit und Gleichstellung mit anderen Erwerbstätigen. Dazu gehören Pflichten (Steuern, die sie sowieso längst zahlen mussten) und Rechte (z.B. Kranken- und Sozialversicherung).


Stärkung nach innen

Die Zeit war reif. In den USA hatten sich erste Prostituiertenbewegungen gegründet. 1976 fand in Washington der Erste Weltkongress der Prostituierten statt. Er strahlte aus in alle Welt. Überall, auch in Deutschland, begannen Prostituierte, über Vernetzungen nachzudenken, oft gemeinsam mit Sozialarbeiterinnen. Sie gründeten Vereine, Beratungsstellen oder lose Zusammenschlüsse:
1980 – Hydra e.V. Berlin ist die erste autonome Hurenorganisation in Deutschland; sie wurde von sozial engagierten Frauen aus unterschiedlichen Berufssparten ins Leben gerufen.
1986 – Amnesty for Women e.V. Hamburg ist ein Verein nicht speziell für Sexarbeiterinnen, sondern für migrierte Frauen; ca. 40 % von ihnen haben Erfahrungen mit Sexindustrie.
1987 – Nitribitt e.V. Bremen unterstützt Prostituierte und ehemalige Prostituierte und will ihnen in der Gesellschaft zu einer unter sozialen Aspekten akzeptierten Lebenssituation verhelfen.
1988 – Kassandra e.V. will als Prostituiertenselbsthilfe- und Beratungsstelle in Nürnberg die Arbeits- und Lebensbedingungen von SexarbeiterInnen verbessern und Menschen in prostitutionsspezifischen Angelegenheiten unterstützen und begleiten sowie die Öffentlichkeit für die Belange von Prostituierten sensibilisieren und interessieren.
1991 – Madonna e.V. Bremen bietet, neben allgemeiner Beratung zu Lebens- und Berufsproblemen Einstiegs-, Ausstiegs- und Schuldenberatung sowie Qualifizierung und Ausbildung.
2000 – Rosamunde / Stuttgart ist ein lockerer Zusammenschluss von Frauen und Männern, die erotische Dienstleistungen anbieten. Sie kämpfen für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Akzeptanz.
2002 – Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen e.V. versucht, fachliche Angelegenheiten für BetreiberInnen von bordellartigen Betrieben und selbständigen Prostituierten wahrzunehmen.

Prostitution gibt es in jeder Gesellschaft, selbst in Ländern, in denen dafür Todesstrafe droht. Nicht die Prostitution als solche verstößt gegen die Würde der Prostituierten, sondern die Bedingungen, unter denen sie teilweise stattfindet. Jede Debatte über Prostitution muss das im Blick haben. (2) Aktivistinnen der Organisationen sind Frauen, die als Prostituierte arbeiten, und Sozialarbeiterinnen. Im Zentrum stehen politisches Engagement zur Verbesserung der sozialen Bedingungen, unter denen Prostituierte arbeiten (müssen), und Unterstützung der Frauen im Einzelfall: „Prostituierte sind nicht per se aufgrund ihres Berufes beratungs- und unterstützungsbedürftig.“ Aber sie brauchen – wie andere auch – in bestimmten Situationen professionelle Hilfe: bei Schwierigkeiten mit Kindern oder PartnerInnen, bei Schulden, wenn sie körperlich oder psychisch krank werden. Hier brauchen die Frauen Hilfe ohne moralische Vorbehalte. (3)

Die Aidsangst in den 80er Jahren hatte Prostituierte besonders im Blick. Sie wurden als „Seuchenherde angesehen, obwohl die Durchseuchung der Prostituierten nicht höher war als die der übrigen Bevölkerung. Die meisten Menschen machen sich keine Gedanken darüber, dass Prostituierte aus einem selbstverständlichen Schutzbedürfnis heraus mit Kondomen arbeiten.“ (4) Nicht die Männer, die von Prostituierten ungeschützten Sex fordern, gelten als Risikofaktoren. Stattdessen wurden – und werden teilweise noch – Sexarbeiterinnen ähnlich wie Schwule als Übertragungsherde gebrandmarkt. Dieser Logik folgend flossen zunächst Aids-Gelder in Prostituiertenorganisationen und ermöglichten deren vielfältige Arbeit. Wegen staatlicher Sparmaßnahmen mussten etliche inzwischen wieder schließen. Eine bedrückende Situation, denn parallel zur Veränderung der wirtschaftlichen Situation in Deutschland (Arbeitslosigkeit) vergrößerte sich die Zahl der Frauen, die als Prostituierte arbeiten. Der Bedarf an Unterstützung und Vernetzung wuchs. Diese Geldsorge betrifft auch kirchliche Fachberatungsstellen, die sich für Prostituierte und deren für rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Anerkennung einsetzen. (5)

Die meisten Prostituierten-Organisationen arbeiten dezentral. Das birgt Chancen, schafft Freiheit bei Entscheidungen vor Ort. Kurze Wege machen unbürokratische Unterstützung möglich. Erschwert sind politische Aktionen von großer Tragweite. Die Frauen erkannten die Notwendigkeit, sich in größeren Zusammenhängen zusammenzuschließen – etwa durch Vernetzungen mit Gewerkschaften wie die Sexarbeitergewerkschaft Pro Prostitution (ProPros) unter dem Dach von ver.di. Auf Initiative der niederländischen Gruppe De rode Draad entstanden die „Welthurenkongresse“. Auf dem ersten Kongress 1985 in Amsterdam bildete sich das Internationale Komitee für Prostituiertenrechte (ICPR). Es beschloss die Weltcharta für Prostituiertenrecht. Darin geht es um Entkriminalisierung, Menschenrechte und Selbstbestimmung der Arbeitsbedingungen. Weitere Kongresse folgten, besucht von Frauen aus aller Welt. Sie verglichen die Bedingungen in ihren Ländern, knüpften Kontakte und solidarische Netze und ratifizierten die genannte Charta. Von Politik und Bevölkerung wurden sie als politisches Forum der Bedürfnisse und Forderungen von Prostituierten wahrgenommen. (6)

Inzwischen hat sich der Name verändert. Zunächst nannten die Frauen sich selbstbewusst „Huren“. Sie griffen das diffamierende Wort auf und besetzten es positiv. Wegen der Forderung nach Anerkennung der Prostitution als Arbeit bevorzugten sie später die Bezeichnungen „Sexarbeiterin“ oder „Prostituierte“. Seit etwa 2000 heißen die „Hurenkongresse“ darum auch „Fachtagung Prostitution“. An ihnen nahmen zunächst vor allem Prostituierte teil. Inzwischen sind etwa 50% der TeilnehmerInnen Mitarbeitende von Gesundheitsämtern und Fachberatungsstellen. Einerseits hat sich diese Vernetzung bewährt. Andererseits beklagen die Prostituierten, dass ihre Stimmen nicht mehr genug zählen und dass die Sozialarbeiterinnen dominieren – was dazu führe, dass die Themen der Tagungen sich vom Arbeitsalltag und den alltäglichen Problemen der Prostituierten entfernen. Immer schwieriger werde es, politische Aussagen zu verabschieden, weil viele teilnehmende Sozialarbeiterinnen vom Staat (weisungs-) abhängig sind. Eine Spannung, die die politische Kraft der Bewegung zu schwächen droht.


Wirkung nach außen

Der Hurenbewegung und ihrer Öffentlichkeitsarbeit ist es zu verdanken, dass Prostitution in der Gesellschaft anders als noch vor wenigen Jahren wahrgenommen wird. Prostituierte waren bereit, in Funk und Fernsehen von ihrer Arbeit zu berichten, für manche ein wichtiger Weg, Geld zu verdienen. Sie traten aus dem Schatten der Diffamierung heraus und meldeten sich zu Wort. Einige schreiben Bücher, (7) andere organisieren Festivals wie „1001 Nacht“ oder „Kulthur“ in Berlin oder bieten Seminare an. Einige Sexarbeiterinnen haben sich bei diesen Engagements aber auch übernommen: Aus der Anonymität herauszutreten, brachte Probleme mit sich, die sie nicht vorausgesehen hatten. Das Umfeld am Wohnort etwa reagierte nicht immer so aufgeschlossen auf das Wissen: „Frau A. ist Sexarbeiterin“, wie die Frauen es erhofft hatten. Manche musste ihren Einsatz mit ihrer Gesundheit bezahlen.

Trotz der wachsenden gesellschaftlichen Anerkennung transportieren viele Medien aber nach wie vor ein schräges Bild. Sie zeichnen entweder die Nobelprostituierte, die viel Geld verdient, oder drogenabhängige oder von ihrem Zuhälter verschleppte und vergewaltigte Frauen, die gegen ihren Willen Sexarbeit leisten. „Dabei werden bewusst alle arbeitenden Frauen über einen Strich gekehrt und auch die vielfältigen Einsatzgebiete der Sexarbeit ignoriert, die sich neben Straßenstrich und Edelpuff auftun und nicht unbedingt hierarchisch gegliedert sind. Wichtig sind die Arbeitsbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten, die im günstigsten Fall von der Frau selbst bestimmt werden. Der Staat kann positive Rahmenbedingungen schaffen, wie z.B. in Holland und Australien mit den Richtlinien für den Betrieb eines Bordells.“ Natürlich gibt es Verschleppungen und Menschenhändlerringe, wobei das Ausmaß fraglich ist. Nicht gezeigt werden selbstbewusste Frauen wie die thailändische Bordellmanagerin, die als „mamasan“ sozial und kompetent die Leitung übernimmt, die schwarze Polin, die für Werbung und Marketing des Betriebs zuständig ist, oder die lettländische angehende Rechtsanwältin, die wie viele ihr Studium mit Sexarbeit finanziert und sich auf europäisches Prostitutionsrecht spezialisieren will. Verschwiegen werden auch die Frauen, die völlig autonom entscheiden, als Sexarbeiterin zu arbeiten, weil sie Praktiken lernen wollen, Sex toll finden, männliche und heterosexuelle Lustmechanismen analysieren wollen oder es einfach spannend finden, diese Welt kennen zu lernen. Diese Vielfalt der sexarbeitenden Frauen bewusst zu machen, ist wichtiger Teil der Arbeit der Prostituiertenbewegung. (8)

Die Sexarbeiterinnenbewegung hat wichtige Veränderungen bewirkt. Aber die Arbeit ist noch nicht getan. In 1/2007 bestimmt EMMA unter Berufung auf Einzelaussagen von Prostituierten erneut, dass es keine freiwillige Prostitution gibt, und schlägt Sexarbeiterinnen gegenüber harte Töne von „verbieten“ an. (9) Und die übrige Frauenbewegung? Obwohl alle für weibliche Selbstbestimmung eintreten, stand der Mainstream der Frauenbewegung der Hurenbewegung in den 60er bis 80er Jahren kritisch gegenüber. Scharf vertraten die meisten die Position, Prostitution sei mit Frauenwürde nicht zu vereinbaren, und verweigerten den Sexarbeiterinnen jede Unterstützung.

Inzwischen zeichnet sich eine Veränderung ab. Frauen(verbände) treten für das Recht aller Frauen, auch der Sexarbeiterinnen ein, selbst zu definieren, wie sie leben und arbeiten. Viele von ihnen sehen heute, dass eine vielfältige Solidarität nötig ist: Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden, brauchen Hilfe, um frei zu werden. Frauen, für die Prostitution eine Not-Lösung ihrer Probleme ist, brauchen Unterstützung, damit die Ausgangsnot behoben wird. Frauen, die sich aus freien Stücken zur Sexarbeit entscheiden, brauchen Respekt vor ihrer Entscheidung – und solidarischen Protest, wenn ihnen Rechte vorenthalten und sie diskriminiert werden.

Luise Metzler, 57 Jahre, hat nach einigen Jahren der Arbeit als Grund- und Hauptschullehrerin und anschließender längerer Familienphase – mit ehrenamtlichen Projekten aller Art – Theologie studiert und promoviert zur Zeit an einer Arbeit über Rizpa (2 Sam 21). Sie ist zuständig für das Marketing der ahzw.

Fußnoten:
1 Elisabeth von Dücker / Museum der Arbeit (Hgin.), Sexarbeit – Lebenswelten und Mythen, Hamburg 2005, 215
2 ebd. 214
3 Zitat und Ausführung siehe ebd. 222
4 ebd. 220
5 Vgl. Positionspapier des Diakonischen Werkes unter ww.diakonie.de/de/html/presse/214341.html
6 ebd. 231
7 Eines der bekanntesten ist: Pieke Biermann, Wir sind Frauen wie andere auch. Prostituierte und ihre Kämpfe, Rowohlt 1984. Der Titel ist als Überschrift für dieses Porträt entliehen.
8 Zitat und Ausführung in http://www.sexclusivitaeten.de/herstory/texte/huren.html
9 vgl. Dossier Prostitution in EMMA 1/2007

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang