Ausgabe 2 / 2009 Artikel von Birgist Jaster

Die Spirale unterbrechen

Wege aus Gewalt in der Pflege finden

Von Birgist Jaster


Gewalt in der Pflege ist ein hoch tabuisiertes Thema. Wir alle glauben zu wissen: Wer pflegt, handelt edel, hilfreich und gut. Auch wenn ich die gute Absicht nicht in Frage stellen möchte, so gilt es doch wahrzunehmen, dass es in Pflegesituationen zu Gewalt kommen kann. Nicht, weil die Beteiligten es so wollen, sondern weil sie überfordert und überlastet sind oder weil verschiedene innere und äußere Faktoren ihr Verhalten beeinflussen.

Um zu klären wovon wir reden, lege ich der Einfachheit halber die Definition des Brockhaus zugrunde: „Gewalt ist die Schädigung oder Beeinträchtigung eines anderen durch die Anwendung von Zwang.“

Mit dieser Definition kommt man sehr schnell zu der Erkenntnis, dass es ganz unterschiedliche Formen der Gewalt gibt. Hierzu gehören, grob unterschieden, physische, also körperliche Gewalt, psychische, also seelische Gewalt und soziale bzw. gesellschaftliche Gewalt. Mit körperlicher Gewalt haben wir es zu tun, wenn Menschen beispielsweise kratzen, beißen, spucken, treten oder schlagen.
Psychische Gewalt wenden wir an, wenn wir schweigen, nicht beachten, erniedrigen, belügen oder beschimpfen. Zum Bereich der sozialen oder auch gesellschaftlichen Gewalt gehören Ausgrenzung, Vorenthalten von Informationen und Möglichkeiten, Demütigung und Mobbing. Natürlich ist diese Einteilung nur sehr grob und auch nur scheinbar eindeutig. Im wirklichen Leben ist eine saubere Unterscheidung allerdings auch nicht besonders wichtig. Da geht es vielmehr darum, wie Betroffenen geholfen werden kann, mit einer Gewalterfahrung umzugehen und das Erlebnis, günstigstenfalls, zu bewältigen.


Gewalt-Beziehungen

Klar ist: Wenn Gewalt auftritt, gibt es immer auch TäterInnen und Opfer. Deren Verhältnis zueinander kennzeichnet ein Ungleichgewicht der Beziehung. Nur da, wo Menschen einander nicht respektvoll und auf gleicher Augenhöhe begegnen, kann es zu Gewalt kommen. Beeinflusst wird Gewalt aber durch ganz verschiedene Faktoren wie Menschenbilder, Werte und Normen, Gesetze, Finanzen, Strukturen und Institutionen. Diese Faktoren wirken gleichermaßen auf Pflegende, Angehörige und Erkrankte.

Wichtig für die Frage nach Gewalt in der Pflege ist die Einsicht, dass alle an der Pflege Beteiligten gewalttätig werden können. Das heißt: Es gibt Gewaltbeziehungen zwischen Erkrankten und Pflegenden, zwischen Erkrankten und Angehörigen, zwischen Pflegenden und Angehörigen, genau wie bei Angehörigen untereinander, bei Erkrankten untereinander oder unter Pflegenden.


Formen von Gewalt

Einige Beispiele aus dem Alltag können verdeutlichen, wo Gewalt in der Pflege verübt wird. Schauen wir uns den Bereich der Kommunikation etwas genauer an. Hier ist Gewalt nicht erst, wenn eine Person angeschrien wird, sondern schon, wenn jemand sie bevormundet oder den Blickkontakt vermeidet. Auch, sich mit Dritten über den Kopf der Pflegebedürftigen hinweg zu unterhalten, über Pflegebedürftige in deren Gegenwart zu reden, ohne diese in das Gespräch mit einzubeziehen, oder das unaufgeforderte Duzen sind Formen grenzüberschreitender Gewalt.

Besonders anfällig für Gewalt ist der Bereich der Ausscheidung. Hier gehört es zu den angewandten Formen der Gewalt, eine pflegebedürftige Person auf der Toilette sitzen zu lassen, sie in Ausscheidungen liegen zu lassen, sie auf dem Toilettenstuhl zu waschen oder ein Dauerkatheter anzubringen, ohne dass es aus medizinischen Gründen erforderlich wäre.

Auch im Zusammenhang mit der Ernährung finden sich zahlreiche Beispiele wie das Vorenthalten von Ess- und Trinkhilfen, das Missachten gewohnter Ernährungsgewohnheiten und –rituale, die unzureichende Platzierung des Essens und der Getränke, die routinemäßige Verabreichung pürierter Kost oder das Untermischen von Medikamenten unter die Nahrung. In einem Brief einer Erkrankten an eine Pflegekraft las ich dazu einmal den bezeichnenden Satz: „Sie (die Pflegekräfte) diskutieren die Erfordernisse meiner Ernährung und stellen das Essen so, dass ich es nicht erreichen kann.“

Unstrittig ist sicher, dass Gewalt ein Übel ist, das es nach Möglichkeit zu vermeiden gilt. Einschränkend muss allerdings gesagt werden, dass es – auch in der Pflege – Situationen gibt, in denen Anwendung von Gewalt notwendig ist. Wenn die alte Dame, die das Pflegeheim zur Nacht bei winterlichen Temperaturen im dünnen Nachthemd verlassen möchte, von der Pflegekraft am Verlassen des Hauses gehindert und zurück ins warme Zimmer gebracht wird, so ist dies sicherlich ein Beispiel für legitimierte Gewalt.

Wenn wir über Vermeidung von Gewalt sprechen, dann geht es um die vermeidbare Gewalt. Erst einmal ist wichtig, Gewalt überhaupt als solche zu erkennen, dann zu fragen, ob die konkrete Handlung berechtigt ist oder vermeidbar. Ist der ausgeübte Zwang nicht notwendig, zum Beispiel, um das Leben des oder der Betroffenen zu schützen, steht die Frage an, welche Alternativen es gibt: Was wird benötigt, um die Gewalt zu vermeiden – und lassen sich die Alternativen realisieren? Leider ist es im richtigen Leben so, dass sich Alternativen nicht immer verwirklichen lassen. Die einzige Möglichkeit ist, immer wieder zu schauen, ob man für das nächste Mal nicht doch andere Lösungen findet und Gewalt so vermeiden kann.


Ursachen von Gewalt

Bei aller richtigen Kritik – die genannten Formen der Gewalt haben eines gemeinsam: Befragt man die „TäterInnen“ dazu, so stellt man häufig fest, dass ihr Verhalten nicht böswillig sondern lediglich unreflektiert ist. Vor allem aber ist uns nicht immer klar, dass es für Gewalt oft genug Gründe und Ursachen gibt. Sie zu kennen macht es leichter, mit ihnen umzugehen und konstruktiv zu reagieren. Begünstigt werden Aggressionen unter anderem durch körperliche Erkrankungen, zum Beispiel eine Überfunktion der Schilddrüsen, oder Vergiftungen, etwa durch Alkohol oder Medikamente. Aber auch psychische Erkrankungen wie etwa Depressionen können gewalttätiges Verhalten begünstigen.

Nicht zuletzt führt eine Erkrankung häufig zum Bruch mit der Alltagswelt und den individuellen Lebensgewohnheiten. Auch der Rollenwechsel, zum Beispiel von der selbständigen Frau zur Pflegebedürftigen, macht unsicher, verärgert, hilflos. Ungewohnte räumliche Enge, zum Beispiel im Krankenhaus, ist genauso belastend wie die Spannung zwischen den Tagesabläufen von Institutionen – wie etwa in einer Pflegeeinrichtung – und dem Bedürfnis nach individueller Gestaltung des Alltags.


Folgen von Gewalt

Wenn Pflegende Gewalt ausüben oder erfahren, so hat dies, vor allem auf Dauer, meist gravierende gesundheitliche und psychosoziale Folgen. Oft treten zunächst körperliche Beeinträchtigungen und Krankheiten auf, etwa Magen-Darm-, Herz-Kreislauf- oder Ess-Störungen. Zu den psychischen Auswirkungen von Gewalt gehören Niedergeschlagenheit und Depressionen, Schreckhaftigkeit, Ängste, Schlafstörungen und Albträume. Neben Zweifeln und Panikattacken kommt es zu einem Verlust des Selbstwertgefühls und der Selbstachtung.
Konzentrationsschwäche und Gedächtnisstörungen runden das Bild ab. Die von Gewalt betroffenen Pflegenden sind dauerhaft müde, antriebslos und zeigen Stress- und Belastungssymptome, wie Nervosität, Anspannung und erhöhte Reizbarkeit. Überforderung wird zum vorherrschenden Gefühl, Aufgaben können nicht mehr zielgerichtet erfüllt werden. Die Betroffenen „drehen am Rad“.

Oft werden dann verstärkt Medikamente und Alkohol konsumiert, es besteht Suchtgefahr. Dies hat wiederum massive Auswirkungen auf das private Lebensumfeld, oft werden zum Beispiel Freundschaften und Kontrakte nicht mehr gepflegt, und es kann zur Vereinsamung kommen. Damit gibt es noch weniger Ausgleich zu den Alltagsbelastungen, der entspannend wirken und angestaute Aggressionen abbauen könnte. In der Überforderung und Verzweiflung findet selbstverletzendes Verhalten bis hin zum Versuch der Selbsttötung statt.


Vermeiden von Gewalt

Dieses Konglomerat verschiedenster Auswirkungen von Gewalt verstärkt wiederum die Ausübung von Gewalt. Die Spirale ist in Gang gesetzt und muss zwingend unterbrochen werden.

Dies geht nur, indem die Situationen und das Verhalten der Beteiligten genau analysiert und den Betroffenen dann sinnvolle Handlungsalternativen aufgezeigt werden. Bei der Analyse der Ursachen geht es ausdrücklich nicht darum Schuldige, sondern Lösungen zu finden. Die Umsetzung solcher Alternativen muss begleitet und unterstützt werden. Vor allem ist es wichtig, die Faktoren auszuschalten, die Gewalt begünstigen. Viele Stress-Situationen zum Beispiel sind hausgemacht und können durch rechtzeitige Planung und Information vermieden werden.

Vor allem aber gilt – ob im Pflegeteam oder zuhause: Mit anderen Erfahrungen auszutauschen, zum Beispiel in einer Selbsthilfegruppe oder in einem Gesprächskreis, entlastet und fördert konstruktive Kritik. Und: Den eigenen Körper ebenso wie Beziehungen zu anderen zu pflegen, wirkt vorbeugend gegen Gewaltbereitschaft. Es ist möglich, Wege zu finden, mit denen es gelingen kann, Gewalt zu reduzieren. Verlogen wäre das Versprechen, dass alle Gewalt vermeidbar ist. Aber: Veränderung ist möglich und Chancen sind dazu da, sie zu erkennen und zu nutzen.


Für die Arbeit in der Gruppe

Ziel

-entdecken, dass es verschiedene Formen von Gewalt in der Pflege gibt:
körperliche, seelische und soziale/ gesellschaftliche Gewalt
– erkennen, welche Ursachen Gewalt hat
– Wege aus dem Teufelskreis von Gewalt finden, der Pflegende und Gepflegte beeinträchtigt.


Zeit

2 Stunden


Material

Flipchart oder Wandtafel, dicke Stifte, Papier, Tapetenrolle für Schreibgespräch


Einführung
– Die Teilnehmerinnen fragen sich in Murmelgruppen (3-4 Personen): „Gewalt in der Pflege: Habe ich das selbst schon erlebt? Oder davon gehört? Wie wird Gewalt ausgeübt? Durch wen? Warum?“
– Eine Pinwand mit der Überschrift „Gewalt in der Pflege“ ist in drei Spalten geteilt: körperlich/ seelisch/ gesellschaftlich. Per Zuruf werden Stichworte notiert. Die Leiterin ergänzt evtl. aus dem Beitrag oben Aspekte, die von den TN nicht genannt werden.


Schreibgespräch
– Das Märchen „Der Großvater und der Enkel“ wird vorgelesen (s. S. 41; für AbonnentInnen unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen vorbereitet)
– Über 2-3 Tische ist eine Tapetenrolle ausgerollt. In der Mitte steht: Warum verhalten die Eltern sich so?
– Input der Leiterin: „Warum verhalten die Eltern sich so? Gefühlskälte ist eine von vielen Möglichkeiten. Welche Gründe könnte es noch geben? Bitte schreiben Sie es auf die Tapetenrolle. Und reagieren Sie auf das, was andere schreiben, indem Sie einfach etwas dazuschreiben. So entsteht ein Gespräch.“


Rundgespräch
– Impuls: Welche Auswege gibt es aus der Gewaltspirale? Wie können wir uns gegenseitig unterstützen, wenn wir in Gefahr sind, die Nerven zu verlieren, uns so zu verhalten, wie wir es eigentlich nicht wollen?
– Die Ergebnisse werden auf einem Flipchart oder einer Tafel notiert.
Mögliche Ergebnisse sind:
– sich gegenseitig Hilfe anbieten, z.B.: Wir rufen uns gegenseitig an, wenn wir in solcher Gefahr sind. Ein Gespräch kann helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
– professionelle Hilfe bei der Pflege in Anspruch nehmen (nicht alles selbst tun, sondern Pflegedienste einschalten)


Birgit Jaster, Arbeitswissenschaftlerin, Hannover


© alle Fotos in diesem Beitrag: Werner Krüper (www.blickweise.de)
– Es handelt sich um gestellte Fotos, die im Rahmen einer Pflegeausbildung
entstanden sind.


Verwendete Literatur

Karsten Hartdegen: Aggressionen und Gewalt in der Pflege, Hans Huber Verlag

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