Es ist Winter, eisig kalt, der Schnee liegt dreißig Zentimeter hoch auf den Straßen, einen Meter hoch in den Parkbuchten, daher lässt die Oma das Auto in der Garage und macht sich am Nachmittag, als die Sonne scheint, zu Fuß zur Poststelle auf, wo sie einen Brief aufgeben muss. Eingemummelt geht sie los, übergibt der schwarzhaarigen Unfreundlichkeit am Schalter ihren Brief und tritt den Heimweg an. Halbe Stunde Hinweg, halbe Stunde Rückweg, denkt die Oma, hab ich doch gleich meinen Spaziergang für heute gemacht. Um sich für ihre sportliche Entscheidung zu belohnen und damit sie es nachher schön gemütlich zuhause hat, kauft sie sich unterwegs in der Bäckerei zwei Stückchen, blätterteigartige zarte Gebilde mit Puderzucker und Streusel. Eins für gleich, entscheidet sie, eins für heute Abend. Die Tüte klemmt sie sich unter den linken Arm.
Die kalte Winterluft und die Bewegung tun der Oma gut und sie beschließt, auf ihrem Heimweg durch den kleinen Park zu gehen. Wie schön, hier rodeln ja Kinder, denkt sie und hört auch schon „Mama! Mama!“ rufen. „Maama. Maama!“ Sie schaut in Richtung der Rufe, irgendjemand winkt ihr heftig zu. „Maama!“
Ach, da ist ja mein Kind, stellt die Oma fest, mein Kind mit seinen Kindern. Sie winkt zurück und geht über eine schneebedeckte große Wiese auf die kleine Gruppe zu.
Gustav stapft ihr entgegen und reibt sein kaltes Näschen
an ihrem Gesicht.
„Hallo, hallo, alle zusammen“, sagt sie. „Seid ihr schon lang hier?“
„Sicher schon eine Stunde“, antwortet ihre Tochter.
Hanna zeigt der Oma sofort, wie sie den Berg runterrodeln kann, sogar mit bremsen. Sie ist fast fünf und darf allein rodeln. Gustav ist erst zweieinhalb und darf das nur mit der Mama.
„Issen da dinn?“, fragt Gustav, der sich mittlerweile auf seinen Schlitten gesetzt hat, und deutet auf die Tüte unter Omas Arm.
„Kuchen.“
„Daaf ich ma weinschauen?“, fragt er.
„Na klar“, sagt die Oma und hält die Tüte auf.
„Kann ich ein Dückchen haben?“
Die Oma schaut zu ihrer Tochter, als die nickt, bricht sie für Gustav ein Dückchen ab und gibt es ihm.
„Mhmm, lecka“, sagt er.
Hanna hat das Rodeln unterbrochen, setzt sich neben Gustav und kriegt natürlich auch ein Stück.
„Mhmm, lecker“, sagt sie, „hast du den Kuchen für uns
gekauft, Oma?“
„Nein, für mich, ich wusste doch gar nicht, dass ich euch treffen würde. Möchtest du auch ein Dückchen?“ fragt die
Oma ihre Tochter, aber die möchte nicht.
„Noch ein Dück haben?“, fragt Gustav.
„Selbstverständlich, du auch, Hanna?“
„Ja.“
„Ooh, hier sind nur Streusel, aber da kommt das Unterteil. Sekunde, Gustav, du kriegst auch gleich wieder eins.“
Häppchenweise schiebt die Oma kleine Stückchenstücke in die aufgesperrten Schnäbel, gelegentlich sich selbst eins zwischen die Zähne und fragt amüsiert ihre Tochter: „Sag mal, mein Kind, hast du deinen Kindern heute schon was zu essen gegeben?“
„Sieht so aus, als ob nicht“, antwortet die und lacht.
Tüte leer, Finger klamm, Füße kalt, Sonne weg, Zeit, nach Hause zu gehen. Die Oma begleitet Tochter und Enkel zum Auto und winkt zum Abschied hinterher. Dann tritt sie auch den Heimweg an. Erst gegen Mitternacht fällt ihr ein, dass sie sich eigentlich ein Stückchen hatte aufheben wollen, weil sie doch abends immer was Süßes braucht. Aber heute, denkt sie, brauche ich ja gar kein Stückchen, heute habe ich schon ganz viel Süßes gehabt.
aus:
Eine Omarette –
heitere Szenen vom Älterwerden
erscheint
April 2012
bei Books on Demand
www.bod.de
© bei der Autorin
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum
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