Ausgabe 1 / 2009 Artikel von Simone Kluge und Ilsabe Schwarz

Die uns dünken die schwächsten zu sein

Vom Ansehen arbeitsloser Menschen

Von Simone Kluge und Ilsabe Schwarz


Sind Sie auch schon einmal darauf angesprochen worden, als Sie von Arbeitslosigkeit sprachen, dass es eigentlich Erwerbslosigkeit heißen müsste? Schließlich seien die Menschen ja nicht ohne Arbeit, viele würden sogar sehr viel arbeiten: für die Familie, im Garten, im Ehrenamt. Erwerbslos müsse es heißen, dadurch werde klar, dass diese Menschen für die von ihnen geleisteten Arbeiten kein Gehalt erhalten.

Aber macht die Wortwahl die Sache besser? Arbeits-los. Erwerbs-los. Beide Worte geben an, was nicht vorhanden ist. So wie die Worte hilflos, freudlos auf fehlende Hilfe, fehlende Freude hinweisen. Endungen, die angeben, dass viel von einer Sache vorhanden ist, sind -reich, -voll, -stark, -schwer oder -selig, wie in den Worten baumreich, liebevoll, charakterstark, vertrauensselig. Mit den Worten arbeits- oder erwerbslos wird also nicht ausgesagt, was jemand hat, was ihn oder sie auszeichnet, was sein oder ihr Potential ist. Beide Worte, arbeitslos und erwerbslos, beschreiben ein Defizit. Und so fühlen sich auch viele Menschen, die von Erwerbslosigkeit betroffen sind: defizitär, mangelhaft.

Und doch ist Erwerbslosigkeit oft ein Grund für scheele Blicke auf die Nachbarin und den Nachbarn, die oder der scheinbar immer Zeit hat. Mehr Zeit und weniger Arbeit, das würde sich so manche/r wünschen: morgens später aufstehen, in Ruhe frühstücken, das machen, wonach einer gerade ist. Für stressgeplagte Menschen, für die Erwerbstätigkeit zum täglichen Muss geworden ist, mag Arbeitslosigkeit
wie ein Dauerurlaub auf Staatskosten erscheinen.

In der Tat erleben Erwerbslose, die nur kurzfristig ohne Arbeit sind, dies in der Regel als nicht so belastend, sondern eher wie einen verlängerten Urlaub. Langzeitarbeitslose hingegen, die sich ständig bewerben und nur Absagen erhalten, fallen oft in ein tiefes Loch. Die Situation wirkt bis in die Persönlichkeit hinein. Viele reagieren mit psychosomatischen Erkrankungen, haben das Gefühl, nichts wert zu sein, oder entwickeln eine „Null-Bock-Stimmung“. Denn wie sieht, bei näherem Hinsehen, die Realität von Menschen aus, die von Arbeitslosengeld (ALG) II oder Hartz IV betroffen sind? Ilsabe Schwarz, Sozialpädagogin und Mitarbeiterin im Landesverband Braunschweig der Evangelischen Frauenhilfe, arbeitet seit 1986 in der Erwerbslosenarbeit. Sie betreut Erwerbslosengruppen in Braunschweig, Wolfenbüttel und Blankenburg und hat Betroffene dazu befragt.

Was belastet mich an der Situation der Erwerbslosigkeit besonders?
wenn andere sich über Urlaub und Reisen unterhalten
– wenn andere von großen Geburtstagsfeiern oder ähnlichem sprechen
– wenn sich jemand mit mir zum Kino/Theater/Ausflug verabreden will, aber kein Geld dafür da ist
– wenn andere Ratschläge erteilen wie „Hast du dich denn beworben?“ „Du musst dies und das machen.“
– dass ich mich nicht frei bewegen und mir mal einen Kaffee, z.B. bei Tchibo, kaufen kann. Die anderen könnten ja denken: „Guck mal, die hat aber Zeit und Geld. Wo hat sie das nur her?“
– die Erfahrung, nicht ernst genommen zu werden z.B. auf Ämtern
– existentielle Sorgen, z.B. wenn die Zuständigkeiten zwischen den Ämtern nicht geklärt sind und das Geld ausbleibt…

Was gibt mir Kraft?
– zu erfahren, dass es anderen ähnlich geht
– Ermutigung durch die Gruppe: „Du schaffst das!“
– sich unter Betroffenen gegenseitig zu helfen und sich gemeinsam für die eigenen Interessen einzusetzen
– (ehrenamtliche) Aufgaben wahrzunehmen, z.B. in der Nachbarschaftshilfe, bei der Tafel, im Altersheim, und zu erfahren: „Da traut mir jemand etwas zu.“ „Ich kann etwas / mich einbringen.“
– wenn andere Menschen mir das Gefühl geben, dass ich als Mensch wertvoll bin, auch ohne Erwerbsarbeit
– wenn ich in der Kirche dazu gehören darf, so, wie ich bin

Ilsabe Schwarz erläutert: Erwerbslose, die auf Hartz IV angewiesen sind, führen ein Leben in relativer Armut.(1) Sie leben in beschränkten Wohnverhältnissen und haben schlechteren Zugang zu Bildung, Kultur, Sport und Gesundheit als der Durchschnitt der Bevölkerung. Das hat unmittelbare Auswirkungen auch für die Kinder, deren Eltern erwerbslos sind. Für ein Kind unter 13 Jahren stehen umgerechnet 2,59 Euro pro Tag für Nahrungsmittel und Getränke zur Verfügung. Ein Schulessen kostet 2,80 Euro! Inzwischen belegen Studien, was auch gesundem Menschenverstand einleuchtet: Kinder von Sozialhilfe- und ALG-II-EmpfängerInnen sind in vielen Bereichen ihrer Entwicklung benachteiligt. Sie werden schlechter ernährt, haben weniger soziale Kontakte und geringere Bildungschancen und finden so oft auch keine Lehrstellen. Die Armut bei Kindern nimmt rasant zu, in Braunschweig etwa ist fast jedes vierte Kind arm. Viele konkrete Möglichkeiten, von tatsächlicher Lernmittelfreiheit bis zur Einführung von Berechtigungskarten für freien Eintritt in Schwimmbäder und Museen müssen genutzt werden, damit alle Kinder Bildungs- und Lebenschancen unabhängig von sozialer Herkunft und finanziellen Möglichkeiten der Eltern haben.

Eines der Hauptprobleme sieht Ilsabe Schwarz darin, dass die von Arbeitslosigkeit Betroffenen immer stärker in die Isolation geraten. Ihre Selbstsicherheit schwindet, Ängste, Depressionen oder andere psychosomatische Krankheiten drohen. Ein Teufelskreis beginnt, der den Umgang mit ihnen oft erschwert.


Auf dass nicht eine Spaltung im Leibe sei

Wieso sollten wir uns als Kirche, als kirchliche Frauenarbeit den Erwerbslosen zuwenden? Für Ilsabe Schwarz ist dies eine Frage der Glaubwürdigkeit. Für sie ist klar, dass wir als Kirche, als Gemeinschaft Christi zusammengehören und aufeinander angewiesen sind: „Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.“ 1 Kor 12,26


Annahme

Um die Betroffenen aus ihrer Isolation herauszuführen, ist es wichtig, ihnen auf gleicher Ebene zu begegnen. Gespräch und Austausch machen es möglich, die Lebenswirklichkeit des / der anderen kennen und achten zu lernen und Vorurteile abzubauen. Ausdrücklich warnt Ilsabe Schwarz vor der Gefahr, die Betroffenen als „Objekt der Nächstenliebe“ anzusehen. Es geht darum, sie als gleichberechtigte Mitglieder in der Kirchengemeinde / in der Frauengruppe aufzunehmen und sich gemeinsam auf den Weg zu machen.


Unterstützung

Neben materieller Unterstützung in Notsituationen ist es wichtig, finanzielle Hürden zu minimieren. Finanzielle Hürden können zum Beispiel Mitgliedsbeiträge oder Seminarkosten sein. Hier wäre kritisch zu prüfen, inwiefern Gemeinden und/oder Frauengruppen Menschen mit beschränktem Budget die Teilhabe an ihren Aktivitäten ermöglichen oder sie – unbewusst – ausschließen. Die Ev. Frauenhilfe in Braunschweig hat z.B. einen Spendenfonds eingerichtet, um Frauen mit geringem Verdienst bei ihren Seminaren und Veranstaltungen kostenfrei beteiligen zu können.
Unterstützend ist aber nicht nur das, was wir „für“ andere tun. Ilsabe Schwarz hat beobachtet, wie Menschen aufblühen, wenn sie Aufgaben übernehmen dürfen. Ihre Stimme und Körperhaltung verändert sich, sie werden optimistischer und fröhlicher. Die Fähigkeit, auf andere zuzugehen, wächst ebenso wie die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.


Positionierung

In unserer Gesellschaft herrscht ein Mangel an Arbeitsgelegenheiten zu angemessenem Entgelt für Arbeitsfähige und Arbeitswillige. Es gibt zurzeit ca. 3,1 Millionen „Arbeitslose“ in Deutschland, davon über 1,5 Millionen Frauen. Und es kann jede und jeden treffen! Dass, wer will, auch (bezahlte) Arbeit findet, ist bestenfalls ein dummes Gerücht. Schlimmstenfalls eine üble Diskriminierung.

Kirchliche Frauenarbeit ist darum gefordert, in der Öffentlichkeit über die Lebenswirklichkeit von Hartz-IV-EmpfängerInnen zu informieren und zu öffentlichen Diskussionen einzuladen. Es ist notwendig, Einfluss auf die (Kommunal-) Politik zu nehmen und sich, gemeinsam mit den Betroffenen, für mehr Beschäftigung von Frauen, für gleiche Bezahlung und für die Möglichkeit der Teilhabe an Bildung, Gesundheit, Sport und Freizeit – auch für die Kinder von Hartz-IV-EmpängerInnen – einzusetzen.


Für die Arbeit in der Gruppe

Die Vorschläge für die Umsetzung in der Gruppe zielen darauf ab, von den Vorurteilen hin zum Mitgefühl der Menschen zu kommen und zu deren Sensibilisierung gegenüber Betroffenen beizutragen. Die Frauen werden dazu eingeladen, kritisch darüber nachzudenken, inwiefern die eigene Gruppe / Kirchengemeinde offen ist für die betroffenen Frauen. Welche Hürden gibt es möglicherweise und wie können diese überwunden werden?


Kartenabfrage auf verschieden farbigen Zetteln

– Frauen und Männer einer Erwerbslosengruppe wurden befragt: Was belastet mich an der Situation der Erwerbslosigkeit besonders? Was gibt mir Kraft?
Schreiben Sie auf die Zettel, welche Antworten Sie vermuten (je Zettel nur eine Antwort).
– Abgleich mit den Ergebnissen der Befragung (s. oben)


Rollenspiele

– Bereiten Sie Rollenspielkärtchen vor, in denen oben genannte Situationen nachgestellt werden, z.B.:
Frau A: Sie haben schon 100 Bewerbungen geschrieben, finden aber seit nunmehr fast drei Jahren keine Arbeit. Sie treffen Frau B und …
Frau B: Sie treffen Frau A, die Ihnen von ihrer Arbeitslosigkeit berichtet und wie sehr sie darunter leidet. Sie sind recht erfolgreich im Beruf und machen gleich Vorschläge, was Frau A unternehmen könnte…
– Lassen Sie die Frauen (in Gruppen) selbst Rollenspiele entwickeln (Vorlage: oben genannte Liste) und ausprobieren.

– Wichtig ist, dass die Leiterin anschließend Rolleninterviews durchführt, um das innere Geschehen deutlich zu machen (Wie ging es Ihnen in der Situation? Wie haben Sie sich gefühlt? Was haben Sie gedacht? Was hätten Sie sich gewünscht / gebraucht?). Ebenfalls wichtig ist es, die Personen wieder aus ihren Rollen zu entlassen.


Kritische Reflexion

– Wie „barrierefrei“ ist unsere Frauengruppe / Kirchengemeinde? Wie würde sich eine Betroffene fühlen, die zu uns kommt?
– Was könnten wir tun / ändern / unternehmen, um uns gegenüber betroffenen Frauen zu öffnen? Wie können wir Kontakt aufnehmen?*


Abschluss:

Lesung 1 Kor 12,12-27


Lieder:

Strahlen brechen viele aus einem Licht EG 268; Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen; Herr, mach die Kirche zum Werkzeug deines Friedens EG 615; Liebe ist nicht nur ein Wort EG 613; Damit aus Fremden Freunde werden EG 619; Der Himmel geht über allen auf EG 588; Wo ein Mensch Vertrauen gibt EG 604; Vertrauen wagen dürfen wir getrost EG 607


Ideen für die weiter gehende Auseinandersetzung mit dem Thema:

– Informieren Sie sich über Erwerbslosengruppen in Ihrer Nähe, besuchen Sie sie und informieren Sie sich über die Lebenswirklichkeit der Betroffenen.
– Laden Sie Betroffene für ein Gespräch ein und überlegen Sie, welche Projekte Sie gemeinsam auf die Beine stellen können.
– Beteiligen Sie sich an dem Projekt „Leben mit Hartz IV“ und probieren Sie, einen Monat oder mehrere Monate mit dem Hartz IV-Satz auszukommen. Oder laden Sie sich eine Familie ein, die von ihren Erfahrungen mit dem Projekt berichtet.
– Ermitteln Sie selbst den Tagesbedarf eines 13-jährigen Kindes und vergleichen Ihre Ergebnisse mit den Regelleistungen.
– Sie überlegen, in Ihrer Gemeinde eine Erwerbsloseninitiative zu gründen? Frau Schwarz hilft Ihnen gerne weiter, Tel: 05331/802-527,
ilsabeschwarz@frauenhilfe-bs.de


Ilsabe Schwarz, Jg. 1948, ist Dipl. Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin und seit 1986 in der Erwerbslosenarbeit tätig, zuletzt beim Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt. Die Arbeitsstelle wird von der Ev.-Luth. Landeskirche Braunschweig finanziert. Seit 2005 ist der Arbeitsbereich bei der Evangelischen Frauenhilfe Landesverband Braunschweig e.V. angesiedelt und erfährt breite Unterstützung durch den Vorstand der Frauenhilfe und die Mitgliedsfrauen. Für ihr Engagement erhielt Ilsabe Schwarz 2007 die Bürgermedaille der Stadt Braunschweig.

Simone Kluge, Jg. 1972, lebt in Hildesheim und arbeitet seit 2005 als pädagogisch-theologische Mitarbeiterin in der Ev. Frauenhilfe Landesverband Braunschweig e.V. Sie ist Mitglied im Redaktionsbeirat der ahzw.


Anmerkungen:

1 Zur besonderen Betroffenheit von Frauen durch Erwerbslosigkeit und daraus resultierender Armut -siehe die Beiträge S. 51ff, 57ff und 67ff.

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang