Eine Schätzung aus den 90er Jahren geht davon aus, dass in Deutschland ca. 400 000 Personen der Prostitution nachgehen. Niemand weiß, ob diese Zahl auch nur annähernd stimmt. Wenn ja, lässt sie zumindest keinerlei Rück schlüsse darauf zu, in welchem Umfang die Tätigkeit ausgeübt wird. Ständig, als einzige Einnahmequelle? Nur am Wochenende? Gelegentlich? Vielleicht auch nur dann, wenn eine Rechnung zu bezahlen ist? Oder wenn der Partner vielleicht seinen Lohn nicht erhalten hat?
Die Zahlen sind jedenfalls mit größter Vorsicht zu bewerten. Das Hauptangebot ist aber zweifelsohne die heterosexuelle Dienstleistung, die Frauen den Männern anbieten; umgekehrt kann man davon ausgehen, dass das Angebot von Callboys für Frauen verschwindend gering ist, ebenso wie die lesbische erotische Dienstleistung von Frauen für Frauen. Das Angebot von Männern für homo sexuelle wie auch bisexuelle Männer ist da schon wesentlich größer. Konkrete Zahlen gibt es aber einfach nicht.
Prostitution kommt aus dem lateinischen prostituere, pro – statuere: sich nach vorn stellen, zur Schau stellen, preisgeben, zu einem Preis hingeben. Dieser Preis wiederum ist mit ökonomischen, historischen und moralischen Wertvorstellungen verbunden. Wie der Begriff Prostitution definiert wird, ist vor allem eine Frage des Zeitgeistes. Das Dictionnaire de l'Academie Française von 1835 bezeichnet Prostitution als „völlige Hingabe zur Unzucht“, ohne Erwähnung eines kommerziellen Aspektes. In der Weltgeschichte der Prostitution von Dufour (1901) wird ausgeführt, dass „Prostitution sich auf alle Arten des unzüchtigen Handels mit dem menschlichen Körper“ erstreckt. 1929 kapitulieren Hirschfeld und Götz in der Sexualgeschichte der Menschheit, indem sie vorschlagen, von einer Definition ab zusehen. Das rororo-Lexikon, Ausgabe 1966, identifiziert „gewerbsmäßig betriebenes sich anbieten zum Ge schlechtsverkehr“ als Prostitution, während bereits 2000 Jahre früher der römische Dichter Ovid (43 v.Chr. bis
18 n.Chr.) im Sich-prostituieren viel allgemeiner die Beziehung zwischen (sexuellem) Genuss und Bedingung sah.
Beispiele für eine „Beziehung zwischen sexuellem Genuss und Bedingung“ wären etwa: Zwei Väter schließen einen Ehevertrag, der Vater des Bräutigams zahlt eine Kaufsumme. Eine Familie erwartet von ihrer Tochter, dass sie eine „gute Partie“ heiratet. Auch heute noch sind nicht nur in ländlichen Gegenden Europas – und zwar gerade in religiös konservativen Gesellschaften – diese Sitten durchaus üblich. In beiden Fällen ist die junge Frau Ware. Laut Ovid „Prostitution“.
Und was tut die Ehefrau, die ihre ehelichen Pflichten lediglich erfüllt, damit der Familienfrieden gesichert ist? Und was taten die vielen jungen Mütter im Krieg und in der Hungerszeit danach, die wie Löwinnen um das Überleben ihrer Kinder kämpften und sich ausschließlich aus diesem Grund auf Beziehungen mit oft feindlichen Soldaten einließen? Die Gesellschaft war nie zimperlich, diesen Frauen die moralische Integrität abzusprechen und sie ohne lange zu fackeln als Huren zu beschimpfen. Nach Ovids Definition prostituiert sich die besagte Ehefrau in Erfüllung der ehelichen Pflicht, denn sie tut es „für eine Bedingung“. Ihr ist die gesellschaftliche Anerkennung sicher – unseren Müttern aus dem obigen Beispiel mit Sicherheit nicht. Unsere Bewertung der Prostitution ist also immer noch stark von unserem traditionellen, patriarchalen Frauenbild bestimmt. Um es auf einen simplen Nenner zu bringen: die Ehefrau bzw. Partnerin als Eigentum, die Dirne als Ware. Und wenn eine Frau schon als Hure arbeitet, dann darf sie das nicht gerne und freiwillig tun, sie darf sich nicht gut dabei fühlen, sie darf nicht selbstbewusst und schon gar nicht stolz auf sich sein. Es entspricht unserer kulturellen Definition, dass eine Frau – seelisch und körperlich – beschmutzt wird, wenn sie sich dem Begehren fremder Männer aussetzt.
Ein Arbeiter stellt seine Körperkraft, ein Ingenieur seine intellektuellen Fähigkeiten, eine Altenpflegerin ihre Körperkraft und ihre Fürsorgefähigkeiten gegen Bezahlung zur Verfügung. Eine Grenzziehung zwischen diesen Tätigkeiten und Sexarbeit legitimiert sich über die Vorstellung, dass Sex immer mit Intimität und Gefühlsnähe verbunden wäre. Immer? Wir akzeptieren inzwischen, wenn auch mit einem lachenden und einem weinenden Auge, dass (auch) Frauen heute ihre „one-night-stands“ haben – aber erwartet da jemand ernsthaft, dass sich Intimität und Gefühls nähe entwickeln? Und trotzdem respektieren wir es, sofern die Frau selbstbestimmt handelte.
Der aktuelle Duden übersetzt „sich prostituieren“ mit „sich preisgeben“. Sich preisgeben? Was eigentlich verkauft eine Prostituierte? Bestimmt verkauft sich nicht „sich“ – und sie verkauft auch nicht ihren Körper. Er ist nämlich ihr Kapital, und sie weiß das und wird ihn daher pfleglich und gesundheitsbewusst behandeln. Nebenbei bemerkt: Machen wir uns eigentlich Gedanken über den Taxifahrer, der uns von A nach B fährt, ob er mit diesem Personentransport sein Auto verkauft?
Eine Prostituierte bietet eine sexuelle, erotische Dienstleistung bzw. Inszenierung an. Ob erotische Massage, dominante Behandlung, Sex oder andere Spielarten: Ihre Berufsmoral entspricht der einer guten Geschäftsfrau. Sie setzt Grenzen, was ihre sexuelle Selbstbestimmung betrifft, und umreißt klar, was sie anbietet. Sexuelle Praktiken, die sie nicht wünscht, sind tabu. Sie bietet eine gute und gefragte Dienstleistung und will dafür gutes Geld.
Auch wenn manche/r es nicht wahr haben will – es gibt sie wirklich: intelligente und attraktive Frauen, die aus freiem Entschluss zeitweise oder dauerhaft als Prostituierte arbeiten. Und es sind mehr, als viele wahrhaben wollen – ich persönlich gehöre übrigens auch dazu. Aber zu wenige von ihnen stehen dazu auch öffentlich. Sie fürchten Stigmatisierung oder haben einfach keine Lust, sich ständig zu verteidigen und ihrer Umwelt beweisen zu müssen, dass sie sehr wohl wissen, was sie tun. Mit sich selbst im Reinen, sind sie es schlicht leid, immerzu um die Anerkennung ihrer Mitmenschen zu buhlen.
Warum fällt es so schwer zu akzeptieren, dass es diese Frauen gibt? Wozu brauchen wir das Bild des armen Opfers, das, geprägt durch frühkindliche Missbrauchserfahrungen, mit Widerwillen und gezwungenermaßen geilen und perversen Lüstlingen den eigenen Körper darbietet? Es ist noch gar nicht so lange her, dass sogar seriöse Wissenschaftler die Theorie in die Welt zu setzen, Pros tituierte hätten per se einen kleineren Hirnumfang und ihr Verhalten sei eine Form des angeborenen Schwachsinns. Teile des Feminismus reduzierten Prostituierte ebenfalls auf das behinderte Individuum – diesmal als Opfer der Vatergewalt. Je nach Zeitgeist schwankt das Bild der Hure als physischer, sozialer oder psychischer Krüppel. Natürlich gibt es Frauen, auch in der Prostitution, die sich etwa aufgrund mangelnden Selbstbewusstseins oder anderer persönlicher Dispositionen nicht gegen psychischen Druck wehren können. Hiervon aber auf grundsätzliche charakterliche oder psychische Schwächen bei Frauen in der Prostitutionsbranche zu schließen, ist nicht nur falsch, sondern auch ein Angriff auf die Würde der Frauen.
Und doch müssen wir uns ständig mit dem öffentlichen Bild der unter Zwang arbeitenden, ausgebeuteten Hure auseinandersetzen. Wie aber definiert man „unter Zwang ausgeübte sexuelle Dienstleistung“?
Ist finanzielle Not bereits Zwang? Manche junge Frau in Moldawien sieht im Fernsehen, dass Deutschland ein Konsumparadies ist, und will an diesem Wohlstand auch teilhaben. So gesehen setzt sie sich mit ihren Konsumbedürfnissen selbst unter Zwang. Haben wir ein Recht, sie zu verurteilen, weil sie ein besseres Leben möchte? Seit dem Zusammenbruch des Kommunis mus sind in den Ostblockstaaten circa 15 Millionen Arbeitsplätze für Frauen verloren gegangen. Diese Frauen, die noch bis vor wenigen Jahren eigenes Geld verdient haben, sind jetzt wieder abhängig von ihren Ehemännern oder Vätern, oder sie haben niemanden mehr und wollen für ihre Kinder eine bessere Zukunft. Vielleicht ist Prostitutionsausübung in Deutschland für sie das kleinere Übel? Über legale Prostitutionsausübung in Deutschland können sie sich allerdings nirgendwo informieren – und werden darum fast zwangsläufig Opfer von Menschenhändlern. Sie landen in Tätigkeiten wie Küchenhilfen in der Gastronomie, Hausmädchen (oft in Diplomatenhaushalten, die dafür wohl ein mangelndes Unrechtsbewusstsein pflegen) und auch in der Prostitution. Viele dieser jungen Frauen gehen mit naiven Vorstellungen nach Deutschland und nehmen eine Prostitutionstätigkeit billigend in Kauf, sind allerdings dann von der Realität geschockt. Die besteht daraus, dass sie hohe Schulden bei ihrem Schleuser haben, unter un geheurem Umsatzdruck stehen und infolgedessen der Möglichkeit beraubt sind, Grenzen zu setzen und selbst bestimmt zu arbeiten. Von ihrem verdienten Geld sehen sie nur so viel, dass sie gerade existieren und im besten Fall ihre Familien zu Hause finanziell ver sorgen können. Trotzdem – wenn sie nicht von der Polizei aufgegriffen und in ihr Heimatland zurückgeschickt werden, bleiben sie so lange wie mög lich in Deutschland.
Wenn eine Frau in Deutschland von Hartz IV lebt und dieses Einkommen durch gelegentliche Prostitutionsausübung verbessert, so ist das verständlich – aber auch hier kann nicht von Zwang gesprochen werden, solange sie nicht durch Dritte gezwungen wird, sexuelle Dienstleistungen anzubieten. Zwar handelt sie aus einer finanziellen Not situation heraus, hat aber trotzdem eine Wahl. Die Definition des „Anbietens einer sexuellen Dienstleistung unter Zwang“ sollte darauf eingegrenzt werden, dass konkrete Gefahr für Leib und Leben der Frau, ihrer Kinder und ihrer Angehörigen oder nahe stehender Personen besteht, wenn sie sich weigert, sexuelle Dienstleistungen anzubieten. Diese Frau hat im Gegensatz zu den oben beschriebenen, illegal arbeitenden Frauen keine Selbstbestimmung mehr über ihren Körper, ihre finanziellen Mittel und über ihre Psyche. Das Erzwingen von sexuellen Handlungen unter diesen Umständen stellt einen groben Angriff auf die Würde und die persönliche und sexuelle Integrität einer Frau dar und muss mit allen zur Ver fügung stehenden Mitteln strafrechtlich verfolgt und bestraft werden. (1)
Noch einmal: Zwangsprostitution ist für die betroffenen Frauen furchtbar. Und natürlich wünschen wir allen unseren Kolleginnen, dass sie unter den gleichen selbst bestimmten Umständen arbeiten – und so manche unter uns engagiert sich daher sozial und politisch. Es geht auch nicht darum, Prostitution zu verniedlichen. Aber die freiwillig in der Prostitution tätigen Frauen dürfen weder kriminalisiert noch pathologisiert werden. Deutschland hat mit dem Prostitutionsgesetz von 2002 einen ersten, guten Schritt in die richtige Richtung getan. Umso bedauerlicher ist es, in welche Richtung sich Teile des Feminismus entwickelt haben. Heute erklärt EMMA in der neuesten Ausgabe das Prostitutionsgesetz dafür verantwortlich, dass Männer ihre eigenen Frauen animieren, als Prostituierte das Familieneinkommen aufzubessern – vorher „hatten sie wenigstens noch ein schlechtes Gewissen“. Das erinnert doch sehr an den Dieb, der nicht bereut, dass er klaut, sondern nur, dass er dabei erwischt worden ist.
EMMA sorgt in dieser Ausgabe dafür, dass die Internetforen, in denen oftmals seelisch und körperlich impotente Männer verbale Geschmacklosigkeiten auf Stammtischniveau verbreiten, jetzt noch bekannter sind. Aber diese Männer sind nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Opfer einer Jahrtausende alten rigiden Sexualerziehung, die sie mit Schuldgefühlen belastet und ihnen nicht ermöglicht hat, eine erotische Kultur und eine eigene, reife sexuelle Identität zu erlangen. Auf der verzweifelten Suche nach dem nächsten Kick fällt ihnen nichts weiter ein, als zur Fäkaliensprache und Frauenverachtung zu greifen, um sich endlich einmal wieder lebendig zu fühlen. EMMA indes postuliert, dass „eine wahre Demokratie … undenkbar ohne den Kampf gegen das System Prostitution“ ist. War der permanente Kampf jemals in der Geschichte der Menschheit eine Lösung? Und vermag sich jemand wirklich eine Welt ohne Prostitution vorzustellen? Wer weiß – eines Tages, wenn Emma wieder nichts weiter als der Vorname für ein Mädchen ist, wird es uns immer noch geben. Wir sind stark und haben schon ganz andere Situationen überstanden.
Karolina Leppert, 61 Jahre, hat sich vor zehn Jahren den lange gehegten Wunsch erfüllt, in Berlin als Domina zu arbeiten. Sie engagiert sich im Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen e.V. (BSD) für die Rechte von Prostituierten, zuletzt als Vertreterin des BSD im Kampagnen-Netzwerk „abpfiff – Schluss mit Zwangsprostitution“; siehe auch: www.busd.de.
Literatur:
F.S.P. Dufour, Weltgeschichte der Prostitution, Frankfurt/Main (Eichborn) 1995 (Nachdruck der Originalausgabe ca. 1870)
Gotthard Feustel, Käufliche Lust, Leipzig (Edition Leipzig) 1993
Huren wehren sich gemeinsam e.V. (HWG), Prostitution: Ein Handbuch, 1995
Max Marcuse (Hg.), Handwörterbuch der
Sexualwissenschaft, Bonn 1923
rororo Lexikon (Ausgabe 1966)
Dossier Prostitution, in: EMMA, Januar/Februar 2007
Anmerkung:
1 Ein anderes Kapitel ist der Missbrauch von Kindern für sexuelle Dienste. Dies ist eine Straftat übelsten Ausmaßes, die ohne Wenn und Aber mit aller Konsequenz verfolgt und bestraft werden muss.
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