Alle Ausgaben / 2011 Artikel von Inge Quernheim

Die wiedergefundene Zeit

Duft und Erinnerung

Von Inge Quernheim


Es ist 10.00 Uhr im Lina-Oberbäumer-Haus. Wie immer dienstags steht
im Soester Altenheim eine hauswirtschaftliche Aktion auf dem Programm. Heute wird Spargel geschält.

Die Küchenleiterin hatte zuvor angefragt, ob wir auch in diesem Jahr den Spargel wieder selbst schälen möchten, oder ob sie ihn bereits geschält kaufen solle. Was für eine Frage! In einem reinen Frauenaltenheim wie dem unseren machen wir uns doch vor ein paar Kilo Spargel nicht bange. In fröhlicher Runde wird erzählt, wie das früher war. Wer hatte Spargel im Garten? Gehörte Sauce Hollandaise dazu oder zerlassene Butter? Mit oder ohne Schinken?

Die praktische Arbeit geht flott von den alten Händen. Wer nicht mehr schälen kann, schneidet die Enden ab, sortiert die Stangen oder schaut einfach zu. Aus der Erinnerung steigt der Duft eines köstlichen Spargelmahles auf und lässt uns in freudiger Erwartung das Wasser im Munde zusammenlaufen. Den Spargel gibt es dann am Mittwoch.

Wonach riecht die Kindheit?

Unsere Erinnerung ist fest verbunden mit Gerüchen. Probieren Sie es aus: Wonach riecht Ihre Kindheit? Nach Erdbeeren? Nach Schnee? Nach Apfelpfannkuchen? Nach Milchreis mit Zimt und Zucker und einem Buttersee obendrauf? Woran denken Sie, wenn Sie frisch gemähtes Gras riechen? Atmen Sie tief durch und fühlen sich an fröhliche Jugendzeiten erinnert. Oder bekommen Sie Kopfschmerzen beim Gedanken an leidvolle Allergieerfahrungen?

Wenn wir uns erinnern, fallen uns viele Ereignisse ein – Episoden, Situationen, Geschichten und Geschichtchen. Es sind fröhliche, traurige, spannende, aufregende und manchmal auch unangenehme Erlebnisse. Und sie sind mit den unterschiedlichsten Menschen an den unterschiedlichsten Orten verbunden. Unser Gehirn speichert all diese Erinnerungen in Bildern. Und zu jedem dieser Bilder gibt es einen ganz speziellen Duft. Nicht immer ist es ein Wohlgeruch, der zu der jeweiligen Situation gehört. Ich selbst bin auf einem Dorf aufgewachsen, und der Geruch von Kuhstall und Gülle auf den Feldern im Frühjahr ist mir wohl vertraut. Das mag für Stadtkinder zum Naserümpfen sein. Für mich bedeutet dieser „Duft“ auch so etwas wie dörfliche Idylle.

Jedes Jahr im Frühsommer spüre ich Aufbruchsstimmung. Der Duft von Jasmin und Lindenblüten macht mich ganz kribbelig. Ich fühle mich (beinahe) wieder wie 14, als das Leben mit all seinen Versprechen und Verheißungen noch vor mir lag und nur darauf wartete, von mir erobert zu werden. Im Juli, wenn die Gerste gemäht wird und die Luft vor Hitze flirrt, riecht es staubig und trocken und nach Stroh. Für mich die schönste Zeit im Jahr. Später, im August, mischt sich Wehmut in den Duft von Stoppelfeldern und Sauerkirschen. Der Sommer hat seinen Zenit überschritten.
Im Herbst, wenn die Rüben gerodet werden, liegt Frost in der Luft und der süßliche Geruch der Zuckerfabrik. Noch heute macht mich die Erinnerung bei dieser Geruchsmelange leicht melancholisch. Der Herbst ist fast vorbei, es wird Winter. Die Luft riecht nach Vergänglichkeit. Eine wunderbare Zeit für die Nase ist im Winter der Advent mit all seinen Wohlgerüchen aus der Weihnachtsbäckerei. Dann feiern wir wahre Geruchsorgien mit Zimt und Nelken, mit Koriander, Kardamom, Vanille und Zitrusfrüchten.

Türöffner der Erinnerung

Gerade bei der Arbeit mit demenzkranken Menschen benötigen wir Türöffner für die Erinnerungsarbeit. Die kognitiven Fähigkeiten lassen mehr und mehr nach. Immer schwerer fällt es, die Gegenwart zu meistern. Umso wichtiger sind Erinnerungen. Über sie wird verborgenes Wissen wieder wach – Rezepte, Erntezeiten, Verarbeitungs- und Konservierungsmethoden steigen aus der Erinnerung auf und können wieder benannt werden.

Wenn ein dementer Mensch aufgefordert wird, Fingergymnastik gegen Kontrakturen – die Schwierigkeiten beim Beugen oder Strecken der Gelenke – zu machen, dann versteht er nicht immer, was er nun tun soll. Werden hingegen Plätzchen oder Apfelkuchen gebacken, dann arbeiten die Hände fast automatisch. Die Äpfel müssen geschält, die Streusel geknetet werden. Schließlich muss die Form gefettet und der Backofen angeheizt werden. Natürlich müssen wir riechen und probieren, ob alles wohlgeraten ist. Und wenn dann der Duft des Apfelkuchens durch das Haus zieht, läuft allen das Wasser im Mund zusammen. Der Apfelkuchen zum Kaffee ist jedes Mal der Beste, den es je gab. Über die Arbeit, den Geschmack und den Geruch werden die Bewegungsmuster selbstverständlich abgerufen und ausgeführt. So wird zum Beispiel Kontrakturen auf ganz natürliche Weise entgegengewirkt.

Oder es gibt selbstgebackene Waffeln direkt aus dem Waffeleisen. Die erinnern an Nachmittage mit der Familie, mit den Kindern und Enkelkindern. Alle Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen kommen dann in die Küche und verhalten sich so wie zu Hause: Schnell ein Herz direkt aus dem Eisen genascht, wenn möglich mit etwas Puderzucker überstäubt. Bei der gemeinsamen Arbeit und bei der gemeinsamen Erinnerung werden nicht nur soziale Kontakte gefördert, sondern auch die Sprach- und Sprechfähigkeit trainiert. Das Selbstwertgefühl steigt.

Der älteste der fünf Sinne

Aber warum wecken verschiedene Düfte bei uns Menschen bestimmte Erinnerungen, lassen Bilder in uns aufsteigen und setzen Emotionen frei? Der Geruchssinn ist entwicklungsgeschichtlich der älteste Sinn. Die Nase kann bei Gefahren alarmieren – Feuer, verdorbene Nahrung, Fäulnis! Und sie kann melden, wo Nahrung zu finden ist. Sie riecht die Bekömmlichkeit von Speisen und kann vor Giftstoffen warnen. Nicht zuletzt entscheidet der Geruchssinn über die Wahl des Partners, in diesem Falle allerdings ohne unsere bewusste Wahrnehmung. Der Körper produziert besondere Geruchsstoffe, die Pheromone, die in engem Zusammenhang mit dem Geschlecht und dem hormonellen Status des Menschen stehen. Bevorzugt werden Partner, die unter genetischen Gesichtspunkten besonders gut zu einem passen. Sicher kennen sie den Ausdruck, „jemanden nicht riechen zu können“. Er ist Konkurrent in jedweder Hinsicht.

Der Geruchssinn hat als einziger Sinn eine direkte Verbindung ins Gehirn und hier direkt zu einen Hirnteil namens Mandelkern (Amygdala). Er gehört zum Limbischen System, einem evolutionsgeschichtlich sehr alten Gehirnareal, in dem unsere Emotionen und Instinkte verortet sind. Alle jemals wahrgenommenen Gerüche werden hier gespeichert und mit einem Gefühl belegt, das zur jeweiligen Situation gehörte. Bei der erneuten Wahrnehmung eines Geruches ist das entsprechende Gefühl wieder präsent. Auch Jahre später können Gerüche ganze Erlebnisszenarien vor unserem inneren Auge aufsteigen lassen: Vielleicht fühlen Sie sich beim Geruch von Bohnerwachs zurückversetzt in das Treppenhaus Ihrer Großmutter und erinnern sich an die Nachmittage mit Plätzchen und Kakao. Oder Ihnen fällt der ewig schimpfende Nachbar wieder ein?

Eine andere Aufgabe unseres Geruchssinnes ist die Mitarbeit bei der Speisenverarbeitung. Unsere Nase signalisiert uns, was essbar ist und was unbekömmlich. Beim Geruch des Sonntagsbratens läuft uns das Wasser im Mund zusammen, die Verdauung wird stimuliert und vorbereitet. Der Geschmackssinn kann nur salzig, süß, sauer, bitter und „umami“ (wohlschmeckend, fleischig) unterscheiden. Die meisten Geschmackskomponenten nehmen wir über unseren Geruchssinn wahr. Während des Essens entfalten sich Aromastoffe, die sowohl über die Nase, als auch über Rezeptoren im Rachenraum aufgenommen werden. Geschmackssinn und Geruchssinn müssen zusammenwirken, um ein optimales Geschmacksempfinden zu haben. Wer einmal mit Schnupfen und verstopfter Nase sein Lieblingsgericht gegessen hat, weiß, was gemeint ist. Und scheußlich schmeckende Medizin schluckt man am besten mit zugehaltener Nase ganz schnell runter.

Oft kommt gerade beim Essen unsere Erinnerung ins Spiel. Wir wissen, wie Erdbeeren schmecken, und sind sehr irritiert, wenn unsere Erwartungshaltung nicht mit der Realität übereinstimmt. Andererseits hilft uns die Erinnerung im Alter, wenn unser Geschmacksvermögen nachlässt. Wir erinnern den Duft und den Geschmack, den ein bestimmtes Gericht oder eine Frucht hat, und unser Gehirn verhilft uns so zu einem halbwegs zufriedenstellenden Geschmacksempfinden.

Das berühmteste literarische Beispiel dafür, wie unwillkürliche Erinnerungen aus dem Unbewussten aufsteigen und Erlebnisse der Vergangenheit intensiv erfahrbar machen, findet sich bei Marcel Proust. Er beschreibt im ersten Teil des Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, wie der Geschmack einer in Tee getauchten Madeleine – ein französisches Gebäckstück – den Ort seiner Kindheit wiederauferstehen lässt.

„Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Missgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unserer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, dass sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war.“

Für die Arbeit in der Gruppe


Im Folgenden finden Sie einige methodische Vorschläge, die Sie einzeln oder in beliebiger Kombination mit Ihrer Gruppe ausprobieren können.

Duftmemory

Vorbereitung:
– alte Filmdöschen oder Röhrchen von Vitamintabletten etc.
– verschiedene geruchsintensive Materialien, z.B. Lavendel, gemahlener
Kaffee, Vanillezucker, Pfefferminzöl oder -blätter, Zimt, Orangenschalen, Zitronenmelisse, Maggikraut, Rosmarin
– ein wenig Gaze, Mull oder Wattepads zum Abdecken der Materialien – es soll ja die Nase erkennen und nicht das Auge
– 5-6 Düfte in verschiedene Döschen füllen; pro Duft 2 Döschen, bei größeren Gruppen 4 oder 6 Döschen pro Duftstoff

Jeweils ca. 6 Personen pro Kleingruppe bekommen 5-6 Duftpaare. Durch Schnuppern an den Dosen sollen die zusammengehörenden Gerüche herausgefunden werden. Ist sich die Gruppe einig, kann nachgeschaut werden, ob die Lösung richtig ist.

Danach kann in der Gesamtgruppe zu jedem Duft von jeder Teilnehmerin eine persönliche Erinnerung erzählt werden – eventuell bei einer frischen Tasse Kaffee und Vanillegebäck, einem frisch gepressten Glas Orangensaft und Käsegebäck oder anderen wohlriechenden Köstlichkeiten.

Verkostungen

Vorbereitung:
verschiedene wohlschmeckende Lebensmittel; geeignet sind:
– Obst- und Gemüsesorten
– Äpfel und Birnen in Varietäten
– diverse Schokoladensorten
– Joghurtsorten verschiedener Firmen
– Weine oder andere Getränke
– Brotsorten
– und, und, und…

Wichtig ist es, erst intensiv an den jeweiligen Geschmacksproben zu schnuppern und den Geruch zu beschreiben, bevor gekostet wird. Eventuell kann auch erst eine „Blindverkostung“ stattfinden. Während und nach der Verkostung können Erinnerungen ausgetauscht werden.

Duft-Füllhorn

Variante 1: Jede Teilnehmerin bringt etwas Duftendes mit und legt ihren Gegenstand in einen großen Korb.

Nacheinander wird reihum jeweils ein Gegenstand herausgenommen, die Eigentümerin sagt, was es damit auf sich hat. Danach kann jede eine Assoziation oder eine spezielle eigene Erinnerung zu dem gerade besprochenen Teil beitragen.

Variante 2
: Die Gruppenleiterin bereitet einen großes Korb mit duftenden Dingen vor, z.B. Südfrüchte und andere Obstsorten, Rosenblüten und andere duftende Blumen, Seife, Körperpuder, Zahnpasta, Schuhcreme, Badezusatz, Japanöl, Knoblauchknolle, Rosmarin, Lavendel und andere Gewürze, Kaffee…

Auch hier wird nacheinander ein Gegenstand herausgenommen, herumgegeben, daran geschnuppert, und es werden Erinnerungen zu speziell diesem Geruch ausgetauscht.

Inge Quernheim, Jahrgang 1954, ist Sozialpädagogin und Gedächtnistrainerin. Sie arbeitet als Leiterin des Sozialen Dienstes im Lina-Oberbäumer-Haus, dem Altenheim der Ev. Frauenhilfe in Westfalen e.V., sowie als Dozentin am Fachseminar für Altenpflege und Referentin in Frauengruppen.

Zum Weiterlesen
Hanns Hatt, Regine Dee: Das Maiglöckchen-Phänomen. Alles über das Riechen und wie es unser Leben bestimmt, Pieper Verlag (ISBN: 9/8-3-492-05224-5)

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