Alle Ausgaben / 2017 Andacht von Dorothea Heiland

Die Wolke der Zeuginnen

Andacht im Reformationsjubiläum

Von Dorothea Heiland

Wir sind hier zusammen, weil wir in der Reihe derer stehen,
die sich verlassen wollen auf den Gott Abrahams und Saras,
den Sohn Jesus, von Maria geboren und von Gott zum Christus berufen,
den Geist der Menschen über Zeiten und Räume bewegt.
Im Namen Gottes feiern wir Andacht.

Lied:
Erd' und Himmel sollen singen
(EG 499,1-3)

Psalm 36,6+7a
Gott, wie der Himmel, soweit reicht deine Güte,
wo die Wolken hinziehen, überall da
können Menschen sich auf dich
verlassen.
Deine Gerechtigkeit wankt nicht –
so wenig wie Berge wanken.
Alles, was du willst, setzt sich durch
wie eine große Flut.
nach: Horst und Klaus Bannach, Psalmtexte, 1980, Radius Verlag

Mit solchen Worten haben Menschen über viele Jahrhunderte ihr Vertrauen zur göttlichen Stärke und ihre Weite ausgedrückt. Weitergegeben wurde und wird das Lob Gottes in vielen Sprachen überall in unserer Welt – weil Frauen, Männer und auch Kinder angesteckt wurden von der Kraft, die vom Vertrauen auf göttliche Nähe ausgeht. So sind zu Zeuginnen und Zeugen geworden viele, deren Namen wir kennen, und noch unzählige mehr, die uns unbekannt bleiben. Und es ist geschehen, dass überall in der Welt Glaube lebendig ist.

Lied:
Der Himmel geht über allen auf, auf alle über, über allen auf.
in: Mein Liederbuch für heute und morgen,
tvd Verlag, B 61 (und in vielen anderen Lieder­büchern)

Einige Beispiele mögen zeigen, was gemeint ist, wenn wir im Brief an die hebräischen Gemeinden 12,1a lesen:

Weil wir eine solche Wolke von Zeugen und Zeuginnen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt.

Eine „Wolke von Zeugen“ übersetzt Martin Luther. Weniger bildhaft sagt die Bibel in gerechter Sprache: „Weil wir von Menschen umgeben sind, die Zeugnis ablegen, wollen wir alle Last und Fesseln abwerfen, die durch die ­Toraübertretungen entstanden sind.“

Biblische Überlieferungen erzählen von solchen Menschen. Eine der ersten war wohl die Prophetin Miriam, die Schwester des Mose und des Aaron, die mit ihren Gefährtinnen die Rettung aus der ägyptischen Sklaverei tanzend besingt. (2. Mose 15,20f). Die Erfahrung von Befreiung durch Gottes Kraft ist auch ein immer wiederkehrendes Thema im Buch der Psalmen, der Lieder, die zu verschiedenen Anlässen gesungen wurden und bis heute gesungen werden.

Rettung aus dem Tod verkünden viel später die Frauen, die als erste von der Auferstehung Jesu überwältigt wurden. Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, erkannten mit Schrecken, dass alles anders war als sie sich vorgestellt hatten. Tot war nicht mehr tot, und Leben war nicht mehr greifbar. Unheimlich und sehr fremd war alles, was sie sahen und hörten. Grund genug zum Weglaufen. Aber sie hielten stand. Und sie ließen sich beauftragen, Zeugnis zu geben von dem, was sie erlebt und verstanden hatten. Wurden so die ersten Zeuginnen der Befreiung aus dem Tod. (Mt 28,1-10 u.a.)

Nicht immer wurden ihre Namen genannt, wenn von Jesus gepredigt wurde, von seinem Leben und Sterben und davon, dass er dem Tod die Macht genommen hat. Schon Paulus scheint nicht gewusst zu haben, dass Frauen die Ersten am Grab waren – denn das Zeugnis von Frauen galt in der Antike nicht besonders viel.

Wie gut aber, dass aufgeschrieben ist, wie die Menschen damals verstanden haben, was wir bis heute Auferstehung nennen. So gewinnen wir eine Ahnung davon, wie eng Schrecken und Freude beieinander liegen, wenn ein Mensch mit Leib und Seele ergriffen wird.

Lied:
Der Himmel geht über allen auf

Gott, wie der Himmel, soweit reicht deine Güte,
wo die Wolken hinziehen, überall da
können Menschen sich auf dich ­verlassen.

Verbreitet ist der christliche Glaube über die ganze Welt. Immer geschah das durch einzelne Menschen und oft gegen große Widerstände. Meist waren es Männer, die Kirchengeschichte geschrieben haben. Darum richten wir heute unseren Blick auf einige Frauen, die Christus in Wort und Tat verkündet haben.

Bekannt sind Namen aus der Tradition, etwa Hildegard von Bingen (1098–1179), die gebildet und heilkundig war und die mit Bischöfen und dem Papst stritt um rechtes Verständnis der christlichen Lehre; oder im 13. Jahrhundert Elisabeth von Thüringen, die Fürstin, die Kranke pflegte und für Arme sorgte. Heute soll von Frauen erzählt werden, die auf ihre Weise reformatorisch oder besser: christlich gewirkt haben.

Wir schauen auf Elisabeth Cruciger, ge­borene von Meseritz (circa 1500–1535). Im Kloster lernte sie lesen und schreiben und auch die lateinische Sprache. Sie konnte ihren Glauben ausdrücken. In unseren Gesangbüchern ist ein Choral von ihr überliefert, der heute noch gesungen wird: Herr Christ, der einig Gott's Sohn. Die Begegnung mit Johannes Bugenhagen, dem Freund Martin Luthers, machte sie mit der lutherischen Lehre vertraut und ermutigte sie, das Kloster zu verlassen und Bugenhagen nach Wittenberg zu folgen. Dort hatte sie zahlreiche Kontakte zu den Gelehrten der Zeit und zu deren Frauen. Sie hei­ra­tete Caspar Cruciger und wurde von Gleich­gesinnten als verständige Ge­sprächs­partnerin geachtet.

Lied:
Herr Christ, der einig Gott's Sohn EG 67

Wir schauen auf Elisabeth Herzogin zu Sachsen – auch Elisabeth von Hessen und Elisabeth Herzogin zu Rochlitz (1502–1557). Ihre Stärke ist geprägt worden von ihrer Mutter, die sie schon früh zu politischem Denken ermutigt hat. Noch mehr Mut und Durchsetzungskraft lernte sie nach dem frühen Tod des Vaters. Während ihrer Ehe mit Herzog Johann von Sachsen war Eli­sabeth sowohl staatspolitisch als auch kirchenpolitisch auf vielfältige Weise ­tätig. Vor allem schrieb sie Briefe an verschiedene Fürsten, deckte damit allerlei Intrigen auf und versuchte so, Kriege zu verhindern. Sie hatte sich der Reformation angeschlossen und damit einen Konflikt im Hause Sachsen ausgelöst. Dieser Konflikt eskalierte an der Abendmahlsfrage. Elisabeth verlangte, das Abendmahl in beiderlei Gestalt zu bekommen, was ihr aus katholischer Sicht verwehrt wurde.

Nachdem ihr Schwiegervater und ihr Ehemann verstorben waren, zog Eli­sabeth sich auf ihren Witwensitz nach Rochlitz zurück. Im Schloss und in dem zugehörigen Gebiet führte sie alsbald die Reformation ein. Sie sorgte für ihre Untertanen, indem sie die Infrastruktur verbesserte und ein Armenhaus einrichtete, für das sie Zeit ihres Lebens sorgte. Unter ihrer Regentschaft blühte die Region auf.

Als einzige Frau wurde Elisabeth in den Schmalkaldischen Bund aufgenommen, einen Zusammenschluss lutherischer Fürsten. Die Streitigkeiten zwischen den Konfessionen wurden härter, Rochlitz wurde zu einer Art Nachrichtenzentrale. Elisabeth schrieb immer wieder Briefe, entwickelte dafür sogar eine Geheimschrift, die bis heute nicht vollständig entschlüsselt werden konnte. Dennoch konnte sie kriegerische Auseinandersetzungen um die konfessionelle Oberhoheit nicht verhindern. Schließlich wurde auch Rochlitz belagert, und Elisabeth floh nach Hessen und starb schließlich in Schmalkalden.

Wir schauen auf Amalia Regina von Zinzendorf – auch Amalia Regina Gräfin zu Ortenburg (1663–1709). Besonders bekannt wurde sie für die Einführung der Schulpflicht für Jungen und für Mädchen. Aufgewachsen in einer evangelisch-lutherischen Enklave im katholischen Altbayern war es ihr wichtig, dass alle Menschen biblische Texte selbst lesen und verstehen konnten. Folgerichtig endete die Schulzeit für die jungen Menschen mit der Konfirmation. So waren Schule und Kirche in einer engen Verbindung. Pfarrer führten die Schulaufsicht und leiteten die Unterweisung in den Gebrauch des Abendmahls, das mit der Konfirmation verbunden war.

Mit ihrer Schulreform sorgte Amalia Regina zugleich dafür, dass allen Kindern eine gute und sinnvolle Erziehung zuteilwurde, was in den Elternhäusern nicht immer möglich war.

Wir schauen auch auf Florence Night­ingale (1820–1910), die als Begründerin moderner Krankenpflege gilt. Geboren in Italien während einer langen Hochzeitsreise ihrer gesellschaftlich hochstehenden Eltern, wuchs sie in England auf. Schon früh war sie an sozialen Fragen interessiert und erlebte während der Pflege von erkrankten Menschen so etwas wie eine göttliche Berufung. Diesem Ruf nachzugehen wurde schwer für sie, weil die Familie es nicht für einen angemessenen Beruf hielt, Kranke zu pflegen. Zudem hinderten ihre körper­liche Schwächlichkeit und immer wiederkehrende Depressionen sie daran, schwere Arbeit zu leisten. So richtete sich ihr Hauptinteresse zunächst darauf, den Ruf von Pflege und Krankenhäusern zu verbessern durch gute Ausbildung von Schwestern. Sie lernte unter anderem in der Kaiserswerther Dia­konissenanstalt, bis sie sich schließlich vom Elternhaus lösen konnte und ein kleines Heim für verarmte Frauen aus guten Familien leitete. Finanziell blieb sie aber abhängig von den väterlichen Zuwendungen.

Ein wesentlicher Wendepunkt in ihrem Leben war der Einsatz zusammen mit 40 Pflegerinnen in den Lazaretten des Krimkrieges. Sie organisierte die Arbeit dort, und sie fiel dadurch auf, dass sie verletzten und sterbenden Soldaten ­unermüdlich und liebevoll beistand. Wenn es um Linderung von Leid ging, gab es für Florence Nightingale keinen Un­terschied zwischen einfachen Soldaten und höheren Dienstgraden. Sie tröstete Sterbende und nahm, wo möglich, Kontakt zu deren Angehörigen in England auf. So bewirkte sie ein neues, funktionierendes Pflegesystem zum Besten der Kranken, führte Auseinandersetzungen mit Medizinern und sorgte für ausreichend Spenden zur Unterstützung ihrer Arbeit.

Die Arbeit Florence Nightingales war nicht ausdrücklich aus christlichem oder evangelischem Glauben motiviert. Und doch steht sie in gewisser Weise für gelebtes Christentum im reformatorischen Sinn. Denn sie fühlte sich berufen, ihre Fähigkeiten eigenständig und eigenverantwortlich zum Wohl der Menschen einzusetzen, die ihre Hilfe brauchten.

Und wir schauen auf Katharina Staritz, die von 1903 bis 1953 gelebt hat. Geprägt von der Frömmigkeit der Herrenhuter Brüdergemeine plante sie, nach dem Abitur Theologie zu studieren. Dem stimmten jedoch die Eltern zunächst nicht zu, und so wurde das höhere Lehramt mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Religion ihr Ziel. An­geregt durch ihren Lehrer wechselte sie schließlich doch ganz zur evangelischen Theologie, legte das erste theologische Examen in Marburg ab und promovierte dort auch.

Als Vikarin und später zur Stadtvikarin ordiniert, setzte sie sich während des Nationalsozialismus besonders für jüdische Menschen ein, die zum evangelischen Glauben konvertiert waren. In einem Appell an die evangelischen Christinnen und Christen Breslaus bat sie diese, Gemeindeglieder jüdischer Abstammung zum Gottesdienst zu begleiten, wenn die sich fürchteten, mit dem Judenstern an der Kleidung auf den Straßen in Gefahr zu geraten. Dieser Einsatz brachte Katharina Staritz ins KZ Ravensbrück. Dort kümmerte sie sich seelsorgerlich um ihre Mitgefangenen und suchte auch freundlichen Kontakt zu den Wärtern.

Nach ihrer Entlassung blieb sie bis zum Kriegsende in Marburg und wurde später Seelsorgerin in Frankfurt, unter anderem im Frauengefängnis Frankfurt-Preungesheim. So hat Katharina Staritz den lutherischen Satz vom „Priestertum aller Glaubenden“ für sich eingefordert und in Wort und Tat die „Freiheit eines Christenmenschen“ gelebt.

Lied:
Der Himmel geht über allen auf

Gebet:
In deinem Namen, Gott,
wollen wir handeln,
wollen weitersagen,
was uns im Leben hält und tröstet,
was uns freut und worauf wir hoffen,
damit auch wir Zeuginnen werden
für deine Liebe,
die allen Menschen gilt,
hier und überall.
Dazu erbitten wir deinen Segen.
Amen.

Dorothea Heiland, 69 Jahre, war Pastorin der Ev.-luth. Kirche in Norddeutschland (vormals Nordelbische Ev.-luth. Kirche), zuletzt bis 2013 Pastorin in der Kirchengemeinde St. Jürgen, Rendsburg. Von 2004 bis 2016 war sie Vorsitzende des Konvents evangelischer Theologinnen in der Bundesrepublik Deutschland – siehe www.theologinnenkonvent.de. Sie vertritt den Konvent in der Mitgliederversammlung von EFiD und als Patin für die Kampagne für einen anderen Organspende-Ausweis.

Frauen der Reformation …

… waren und sind im Fokus der evangelischen Frauen und ihrer Organisationen.
Zum Beispiel hier:
frauen-und-reformation.de
Website mit einer Erinnerungslandkarte für die weibliche Seite der Reformation und ihrer Wirkungsgeschichte – unter anderem mit Biografien zahlreicher Frauen aus sechs Jahrhunderten.
– „… von gar nicht abschätz­barer Bedeutung“
Wanderausstellung der Frauenarbeit in der Nordkirche zu Frauen im Norden, die Reformationsgeschichte geschrieben haben: als Vorkäm­pferinnen, als Theologinnen, als Mä­zeninnen, als Missionarinnen, als Pionierinnen für Frauenarbeit und Feministische Theologie. mehr unter frauenwerk.nordkirche.de
– Frauen der Reformation in der Region
Sechs Tafeln informieren über Lebensbedingungen von Frauen im 16. Jahrhundert. Auf zwölf weiteren Tafeln stellen Pat_innen aus der Gegenwart Frauen aus dem Mutterland der Reformation vor. Zur Wanderausstellung und zwei Schwesterprojekten im Münsterland und in Schweden siehe frauenarbeit-ekm.de
– Hörbuch Frauen der Reformation
Porträts von zwölf starken Frauen, die entscheidende Impulse zur Reformation in Deutschland und in der Schweiz gegeben haben.
mehr unter evangelischefrauen-deutschland.de

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