Alle Ausgaben / 2014 Material von Josef Osterwalder

Die zweite Rettung des Schafes

Von Josef Osterwalder


Das hundertste Schaf kam auf abwegige Gedanken. Das war naheliegend. Denn es war nicht nur das hundertste, sondern auch das letzte: Keines übersah die Masse einer solchen Herde besser, keines musste sich so sperren und drängen, um noch in die Hürde zu kommen, keines wusste besser, wie schwer es sein kann, zu einer Herde zu gehören. (…) Und da kam ihm plötzlich der Gedanke: Was soll das, so eine Herde, ich bin ja schließlich ein Individuum. Das hatte bisher noch nie ein Schaf gedacht: dass es ein Ich haben könnte. (…)

Das Schaf, das zum Individuum geworden war, besann sich auf die grundlegenden Schafsrechte, dachte sich eine allgemeine Schafsrechtskonvention aus und beschloss fürs erste, einmal eine Nacht draußen zu bleiben. Aber das ging nicht lange gut. Sein Ausbleiben wurde entdeckt. Der Hund erriet die Spur und führte den Hirten zum verlorenen Schaf. Dieses aber sah nicht verloren aus, zeigte sich nicht demütig, sondern begegnete herausfordernd dem Blick des Hirten. Es stellte mit knappen Sätzen fest, es sei ein Individuum geworden. Der Schäfer vernahm es verwundert, dann entrüstet. Schließlich hörte er zu. Er nahm das Schaf auf die Schulter und dachte den langen Weg über nach, wie es nun weitergehen sollte.

Im Schafstall wurde das verlorene Tier von ungläubigen Schafsaugen angestarrt. Und das Schaf schaute frech zurück, es zuckte etwas in seinem Blick, etwas Neues: Das konnte nicht verborgen bleiben. Es wurde umringt, musste erzählen, was es entdeckt hatte, und jedes einzelne Schaf ging in sich und entdeckte unter einer dicken Kruste von Herdenbewusstsein ebenfalls etwas höchst Seltsames: ein Ich. Im selben Augenblick waren sie keine Herde mehr, keine Masse, kein Neunundneunzig oder Hundert, sondern lauter einzelne, Ich neben Ich.

Am anderen Morgen blieb der Schäfer lange liegen, denn die Schafe blökten nicht mehr laut und blöde, wie es Herdentiere tun, und als er aufwachte, begriff er die Verwandlung, die geschehen war. Er merkte, dass die Schafe zu denken begonnen hatten, sie selber sein wollten und den Schäfer nur noch ausnahmsweise brauchten. Die Hunde waren über Nacht überflüssig geworden, man konnte sie verkaufen oder den Kindern zum Spielen geben. Da der Schäfer nun selbst viel freie Zeit hatte, wurde er immer klüger, und manchmal gab er den Schafen einen guten Rat, den sie dankbar annahmen, manchmal sprach er auch eine Ermahnung aus, wenn sie allzu sorglos wurden.


leicht gekürzt aus:
Von Senf- und Samenkörnern
25 fast biblische Geschichten
© Matthias-Grünewald Verlag der Schwabenverlag AG Ostfildern 1977
www.verlagsgruppe-patmos.de

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