Ausgabe 1 / 2017 Artikel von Edith Siegenthaler

Direkte Demokratie

Ein Wundermittel für die Partizipation?

Von Edith Siegenthaler

In der Schweiz gibt es auf nationaler Ebene nicht nur die Möglichkeit, das Parlament zu wählen. Schweizerinnen und Schweizer können sich auch zu Sachgeschäften äußern, die in anderen Ländern in die Kompetenz des Parlaments fallen. Was heißt das für die Demokratie in einem Land? Können Schweizerinnen und Schweizer tatsächlich viel mehr mitreden? Und tun sie das auch? Was bedeutet die direkte Demokratie für die Stellung der Frauen und ihre Anliegen? Diesen Fragen gehe ich in diesem Essay nach. Selbstverständlich ist es stark von meinen eigenen Erfahrungen und dem, was ich als interessierte Bürgerin und Historikerin mitgenommen habe, geprägt. Ich erhebe also keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Wie muss man sich diese direkte Demokratie also praktisch vorstellen?
Schweizer_innen können auf nationaler Ebene über Verfassungsänderungen und zum Teil auch über Gesetzesänderungen abstimmen.

Verfassungsänderungen

Soll die Schweizer Verfassung geändert werden, muss diese Änderung der Stimmbevölkerung vorgelegt werden. Jede Verfassungsänderung muss von der Mehrheit der Stimmenden und von der Mehrheit der Kantone (entspricht den Bundesländern in Deutschland) angenommen werden. Das heißt, in mehr als dreizehn der sechsundzwanzig Kantonen muss die Änderung eine Mehrheit finden. Weil es größere und klei­nere Kantone gibt, ist es also möglich, dass eine Verfassungsänderung zwar von der Mehrheit der Schweizer_innen angenommen wird, aber nicht genug Kantone die Verfassungsänderung annehmen und deshalb die Änderung abgelehnt wird. Die Mehrheit der Kantone für ein Anliegen zu gewinnen, ist insbesondere für progressive Verfassungsänderungen eine große Hürde, weil die ländlich-konservativen Kantone eine Mehrheit bilden.

Das Parlament kann Verfassungsänderungen anstoßen. Beispielsweise wurde 2015 vom Parlament eine Verfassungsänderung vorgelegt zu den Bestimmungen über die Fortpflanzungsmedizin, damit das Gesetz über die Fortpflanzungsmedizin verfassungskonform umgesetzt werden kann. Die Verfassungsänderung wurde klar angenommen.

Die Initiative

Was aber, wenn ein Anliegen vom Parlament gar nicht aufgegriffen wird? Dann gibt es die Möglichkeit, den Stimmberechtigten direkt eine Verfassungsänderung vorzuschlagen und zwar mittels einer sogenannten Initiative. Damit eine Initiative zur Abstimmung kommt, müssen 100.000 Stimmberechtigte unterschreiben, dass sie dieses Anliegen unterstützen. Bekanntes Beispiel für eine solche Initiative ist die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen, die letzten Juni zur Abstimmung kam. Es gibt aber auch zahlreiche weitere Initiativen mit weniger internationalem Medienecho, zum Beispiel: Die (allesamt abgelehnten) Initiativen für sechs Wochen Ferien, für Schutz vor Passivrauchen oder gegen Kampfjetlärm in Tourismusgebieten.

Das Referendum

Nun gibt es neben der Initiative, mit der wie erwähnt die Verfassung geändert wird, auch noch die Möglichkeit, über Gesetzesvorlagen abzustimmen. Wenn eine Gruppe von Stimmberechtigten mit einem Gesetz nicht einverstanden ist, das das Parlament beschlossen hat, kann diese Gruppe das sogenannte Referendum ergreifen. Wenn sie innerhalb von drei Monaten 50.000 Unterschriften von Stimmberechtigten sammelt, wird das Gesetz dem Volk vorgelegt. Wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten der Schweiz (hier braucht es keine Mehrheit der Kantone) das Gesetz ablehnt, hat die Gruppe das Referendum gewonnen und das Parlament muss eine neue Vorlage ausarbeiten.

Auswirkungen der direkten Demokratie

Wer macht nun aber Gebrauch von Initiative und Referenden? Es sind in erster Linie politische Parteien und Verbände. Bei Referenden geht es darum, ein Gesetz, das im Parlament umstritten war, zu verhindern. Oft hat die Drohung, das Referendum zu ergreifen auch bereits eine Wirkung während der parlamentarischen Debatte. Das Parlament achtet darauf, Gesetze zu erlassen, die auch vor einer Volksabstimmung bestehen könnten.

Die Initiative bietet die Möglichkeit, Themen aufzugreifen, die vom Parlament nicht behandelt werden. Viele Initiativen werden deshalb nicht nur wegen dem konkreten politischen Anliegen, das sie verfolgen, gemacht, sondern auch um das Thema in die öffentliche Debatte zu bringen. So sind beispielsweise die Initiativen der Gewerkschaften für die Festsetzung eines Mindestlohns jeweils chancenlos – sie verankern aber dennoch im Bewusstsein vieler Menschen eine Vorstellung davon, wie viel ein Mensch für seine Arbeit mindestens verdienen sollte. Zudem hat das Parlament auch die Möglichkeit, das Anliegen einer Initiative aufzugreifen. Es erarbeitet dann einen sogenannten Gegenvorschlag. Wenn die Initiator_innen mit dem Gegenvorschlag einverstanden sind, können sie die Initiative zurückziehen, wenn nicht, kommen Gegenvorschlag und Initiative gleichzeitig zur Abstimmung und werden einander gegenübergestellt.

Lange waren Initiativen vor allem ein Instrument der linken Parteien, Verbände und Bewegungen, die sich in der Schweiz auf nationaler Ebene immer einer bürgerlichen Mehrheit gegenüber sahen. Meist hatten diese Initiativen denn auch keine Chance angenommen zu werden. Im 20. Jahrhundert wurden insgesamt elf Initiativen angenommen. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts sind hingegen bereits zehn Initiativen angenommen worden. Seit damals gibt es vermehrt Initiativen von rechtsbürgerlichen Kreisen, die mit großen, kostspieligen Kampagnen insbesondere Themen aufgreifen, die mit der Sicherheit vor Straftätern und der nationalen Identität (Zuwanderung, Bürgerrecht, nationale Souveränität) verknüpft werden können. Diese Initiativen greifen Ängste auf und schüren diese gleichzeitig durch die Abstimmungskampagne für die Initiative weiter, ohne tatsächlich eine Lösung zu bieten. So wurde beispielsweise die Initiative gegen den Bau von Minaretten mit einer großen Plakatkampagne begleitet: Vor einer Schweizer Fahne wurde eine in schwarz gekleidete und verschleierte Frau neben spitzen Minaretten, die an Raketen oder Spieße erinnerten, gezeigt. Ein Plakat, das vor einem radikalen, antiwestlichen Islam in der Schweiz warnte und entsprechende Ängste schürte. Die Annahme der Initiative führte dazu, dass keine weiteren Minarette mehr gebaut werden dürfen (aktuell stehen in der Schweiz vier Minarette). Ein radikaler Islam kann damit nicht bekämpft werden, dafür fühlen sich seit Jahrzehnten in der Schweiz lebende Türk_innen und Bosnier_innen nicht mehr willkommen, obwohl sie bisher Religion nur als einen und vielleicht sogar als einen zu vernachlässigenden Aspekt ihrer Identität betrachtet hatten.

Partizipation

Es gibt in der Schweiz also einige Instrumente, um sich als Stimmberechtigte gegenüber dem Parlament Gehör zu verschaffen. Dementsprechend gibt es pro Jahr bis zu vier Abstimmungstermine. Wahrnehmen tun dieses Recht aber viele Menschen nicht. Die durchschnittliche Stimmbeteiligung liegt leicht über 40 Prozent. Das heißt, zu den meisten Fragen äußern sich über die Hälfte der Stimmberechtigten gar nicht. Frauen stimmen leicht weniger häufig ab als Männer. Zudem kann sich rund ein Viertel der Schweizer Bevölkerung nicht zu den Vorlagen äußern, weil sie kein Schweizer Bürgerrecht besitzt. Dazu gehören auch Personen, die ihr ganzes Leben in der Schweiz verbracht haben, aber deren Eltern das Schweizer Bürgerrecht bei ihrer Geburt nicht besaßen, sogenannte Secondos und Secondas. Der Einbürgerungsprozess ist in der Schweiz je nach Kanton unterschiedlich und an zahlreiche Bedingungen geknüpft.

Frauenanliegen in der direkten Demokratie

Mit der direkten Demokratie stehen auch immer wieder zentrale Frauenanliegen zur Abstimmung. Eines der wichtigsten war sicher das Frauenstimmrecht. Von Bundesrat und Parlament wurde die Vorlage seit dem Ersten Weltkrieg hinausgezögert. 1959 lehnten die männlichen Stimmberechtigten das Frauenstimmrecht in einer ersten Abstimmung ab. Erst 1971 wurde es angenommen. Seit damals können auch die Schweizerinnen auf nationaler Ebene abstimmen und wählen. Auf kantonaler Ebene dauerte es teilweise noch länger – der Kanton Appenzell Innerhoden musste 1991 gerichtlich zur Einführung des Frauenstimmrechts gezwungen werden. Der Frauenanteil im Parlament liegt inzwischen bei rund einem Drittel.
Die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs bis zur 12. Woche wurde 2002 mit einem Referendum bekämpft, erhielt aber in der Abstimmung eine klare Mehrheit.
Mit mehreren Initiativen war seit den 1970er Jahren auf das Anliegen aufmerksam gemacht worden. Über die letzte Initiative zum Thema wurde 2014 abgestimmt, als von konservativen Kreisen erfolglos verlangt wurde, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt werden sollten.

Der Mutterschaftsurlaub (=Mutterschutz) stand seit 1945 in der Schweizer Verfassung. Die gesetzliche Umsetzung ließ aber Jahrzehnte auf sich warten. In den Jahren 1984, 1987 und 1999 wurden entsprechende Initiativen von den Stimmberechtigten abgelehnt. Erst 2004 wurde eine Vorlage, die eine Lohnfortzahlung während 14 Wochen nach der Geburt vorsieht, angenommen.

1981 wurde ein Verfassungsartikel angenommen, der Frauen und Männern die gleichen Rechte garantiert. 1996 trat dann das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann in Kraft, das auch das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit beinhaltet. Leider zahlen in der Schweiz immer noch alle Branchen Frauen niedrigere Löhne als Männern. Das Gesetz sieht keine Sanktionen für Lohndiskriminierung vor. Die Revision des entsprechenden Gesetzesartikels kommt leider nicht voran und wird im Parlament blockiert.

Fazit

Die direkte Demokratie hat also ihre Vor- und Nachteile. Es ist leider nicht so, dass die Mehrheit immer weise Entscheide fällt, wie die Abstimmungen zum Minarettverbot oder zur Masseneinwanderungsinitiative gezeigt haben. Initiative und Referendum sind ein Mittel, um politische Debatten zu lancieren. Werden sie jedoch nur als Kampagnenmittel eingesetzt, die undurchdachte, populistische Vorschläge enthalten, können sie zu gefährlichen Resultaten führen, die schwerwiegende politische Konsequenzen haben und den gesellschaftlichen Frieden gefährden.

Dr. des. Edith Siegenthaler ist Historikerin und Leiterin der Geschäftsstelle Evangelische Frauen Schweiz (EFS).

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