Ausgabe 2 / 2007 Material von Kurt Marti

Dolce vita

Von Kurt Marti

Ein Glücksfall, direkt aus Tirol importiert, ein Mädchen mit Herz und üppig geformtem Körper, ein jeder konnte es sehen, ein jeder sah es, und viele kamen ins Rössli, um es zu sehen. Vergnügt rieb der Wirt sich die Hände, die Kasse schnurrte am laufenden Band und Liesl bediente. … Ungewiss blieb, ob es Faktum war oder nichts als Gerücht, dass Männer öfters erst gegen Morgen und lange nach Wirtschaftsschluss aus einer Hintertüre des Rössli nach Hause entwichen. Über Beschwerden, an den Wirt des Rössli gerichtet, schwieg dieser sich aus, wie überhaupt in der ganzen Affäre die Rolle des Wirts und seiner mageren Frau stets ungeklärt blieb. Schließlich wurde sogar im Gemeinderat das Treiben im Rössli verhandelt, wenn auch nur kurz, da keiner der Herren wusste, ob und was dort getrieben wurde …

Männer steckten die Köpfe zusammen, Frauen gerieten abends in Angst, wenn die Männer das Haus verließen, und gaben sich Mühe, dass Rössli in schlechten Ruf zu bringen und das Naturereignis aus dem Tirol als kleines Luder überall anzuschwärzen, womit sie freilich nicht mehr erreichten, als dass das Rössli erst recht florierte und auch, wer bisher nicht hinging, sich jetzt, nur um die Liesl doch auch gesehen zu haben, ins Rössli begab, um dort ein Bier zu trinken, oder auch zwei, und dabei die vielbesprochene Liesl von Nahem zu sehen, um eigenäugig prüfen zu können, ob es stimmte, was man von ihrem Ausschnitt erzählte, von ihren Hüften und Haaren und auch von ihren Ringen unter den Augen, und ob sie so zugänglich sei, wie es hieß. …

Nach einigen schwülen Sommerwochen fand der Spuk ein plötzliches Ende. Von einem Tag auf den andern war Liesl verschwunden. Und einige Männer im Dorf, so hieß es, hatten eine Vorladung vor den Amtsarzt erhalten. Wen es betraf, vermochte niemand zu sagen, weil alle schwiegen, die etwas zu sagen hatten und nur etwas sagte, wer nichts zu verschweigen hatte.

gekürzt aus. Wohnen Zeitaus. Geschichten zwischen Dorf und Stadt; Flamberg Verlag Zürich 1965, © beim Autor

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