Wie kann es einer jungen Frau schon vor 250 Jahren, im Zeitalter der Aufklärung, gelingen, sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegzusetzen und in ein männerdominiertes Interessengebiet wie die Medizin einzudringen?
Die dieses schafft, ist Dorothea Christiane von Erxleben, geb. Leporin (1715-1762), die mit drei Geschwistern in einem Arzthaushalt in Quedlinburg aufwächst. Im 18. Jahrhundert war üblich und legitim – die damaligen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse lieferten dafür angeblich Beweise – dass Frauen sich aufgrund ihrer körperlichen und wesensmäßigen Veranlagung einzig darauf ausrichteten, den ehrwürdigen Beruf einer „beglückenden Gattin, bildenden Mutter und weisen Vorsteherin des inneren Hauswesens“ anzustreben und mit ganzem Herzen auszufüllen. Die sittliche Reform der Gesellschaft müsse bei den Frauen anfangen, ihre Aufgabe sei es, „… den Wohlstand, die Ehre, die häusliche Ruhe und Glückseligkeit des erwerbenden Gatten sicherzustellen, sein Haus zu einer Wohnung des Friedens, der Freude und Glückseligkeit zu machen“. So zu lesen bei J.H. Campe „Väterlicher Rath für meine Tochter“ (1788). Eine andere Devise eines der gelehrten Männer der damaligen Zeit lautete: „Übermäßige Gehirntätigkeit macht das Weib nicht nur verkehrt, sondern auch krank.“ (Dr. Paul Julius Möbius)
Was macht frau aber, wenn diese Gehirntätigkeit aufgrund der häuslichen Bedingungen angeregt wird? Was macht Dorothea, wenn sie als Schwester zuhört, während der Vater mit dem Sohn Latein übt, die damalige Sprache der Wissenschaft? Der Sohn soll Arzt werden wie der Vater, das steht fest. Und was macht der Vater mit Dorotheas Wissensdrang? Als Mädchen ist sie auf dem Quedlinburger Gymnasium nicht zugelassen. Er kommt nicht umhin, die Tochter schon als Neunjährige von einem Hauslehrer unterrichten zu lassen.
Wie ihr das Auftrieb gibt! Sie lernt unermüdlich, überflügelt sogar den älteren Bruder in seinen Fortschritten, so dass der Rektor, der den Hauslehrer überprüft, Dorothea lobt: „Ich bewundere die Fähigkeiten deines Geistes, auch die Begierde, dich mit wissenschaftlichen Dingen zu befassen … ich halte es in jedem Fall für Unrecht, ein so lobenswertes Streben, ein Zeichen größter Tüchtigkeit, nicht zu fördern.“
Die Mutter sieht dem allem skeptisch entgegen. Was soll Dorothea mit all dem Wissen! Heiraten und den Haushalt führen, das ist für sie ein unverrückbares Ziel im Leben einer Frau! Sie gerät in Zorn auf ihren Mann, der der Tochter den Kopf mit Dingen füllt, die ihr nichts bringen.
Als der ältere Bruder, der dem Vater viel in der Praxis geholfen hat, zum Studium der Medizin nach Halle geht, ist Dorothea äußerst neidisch. „Ihm tut sich da ein Himmel auf“, beklagt sie sich beim Vater. „Er darf alle jene Lehrer wie Lehren in natura hören, die ich mir mühsam aus Büchern zusammen lesen muss!“ Dem Vater tut es leid, dass Dorothea sich zurückgesetzt fühlt. Er beschließt, sie fortan als Ersatz für den Bruder bei seinen Hausbesuchen mitzunehmen. Ohnehin fehlt ihm die gewohnte Assistenz sehr.
Dorothea stellt sich gern darauf ein, ist sehr geschickt im Umgang mit den Patientinnen, wird gelobt und gern gesehen in ihrer neuen, unüblichen Rolle.
Auch der adligen Äbtissin des Quedlinburger Stiftes fällt Dorotheas Wissbegierde positiv auf. Wohl ist ihr bewusst, dass die Medizin in der öffentlichen Meinung als ausschließliche Domäne der Männer angesehen wird, aber sie unterstützt Dorothea in ihrem brennenden Wunsch, ihr Wissen und Können an der Universität Halle zum Abschluss zu bringen und den Doktortitel zu erwerben.
Doch dazu benötigt sie eine Sondererlaubnis vom preußischen König, Friedrich II. Zum Glück hat sie erfahren, dass er als relativ aufgeklärt gilt, z.B. die Pressefreiheit eingeführt hat und öffentliches Reden erlaubt. Warum sollte er nicht einer Frau das Studium gestatten?
Dorothea wagt es, ein Gesuch zu formulieren und diese schriftliche Eingabe nach Potsdam zu schicken.
Doch vorerst wird sie weiter fleißig in die ärztliche Praxis des Vaters eingespannt. Ihr Urteil und ihre medizinischen Handgriffe werden immer selbständiger, so dass sie sich zutraut, die Verantwortung für die Praxis für zwei Monate allein zu übernehmen, als der Vater abwesend ist.
Sie verfasst mit 23 Jahren eine Schrift, die sich mit den Anschauungen ihrer Zeit, z.B. zum Verhältnis der Geschlechter auseinandersetzt. „Gründliche Untersuchungen der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studieren abhalten“ lautet der Titel. Sie setzt sich u.a. mit der Frage auseinander, „ob die Weiber Menschen seyn“, mit der Behauptung, „dass die Vernunft der Weiber nur eine halbe Sache sey“, mit der Ansicht, „Gelehrsamkeit schicke sich nicht für dieses Geschlecht, da dasselbe keinen Nutzen davon zu erwarten habe“. Dorothea widerlegt mit einleuchtenden Worten die Vorurteile, z.B. dass das weibliche Geschlecht nicht die ausreichenden Kräfte und den nötigen Verstand besitze, um die Gelehrsamkeit zu erlangen, – sieht sie es doch bei sich selber! Wider Erwarten wird die Schrift positiv rezensiert.
Das Nachdenken und Schreiben fasziniert sie sehr, vieles hätte sie noch zu sagen zum Thema Gleichberechtigung von Frau und Mann, aber als in Quedlinburg wegen einer Überschwemmung Seuchengefahr droht, ist ihr praktischer Einsatz so notwendig, dass sie selbst der positiven Antwort des Königs auf ihr Gesuch, in Halle die Prüfung abzulegen, nicht nachkommen kann und die Promotionspläne zurückstellen muss.
Chaotische Zustände herrschen in Quedlinburg, es gibt überall Kranke, Sieche und Sterbende aufgrund mangelnder Hygiene. Auch das Pfarrhaus hat es getroffen, fünf unmündige Kinder bleiben mit ihrem Vater zurück, so dass Dorothea sich aufgefordert fühlt, die Kinder in ihre Obhut zu nehmen. Fast könnte frau meinen, sie übernähme sich mit dieser zusätzlichen Aufgabe, aber sie wächst an der Herausforderung.
Die Beziehung zum Diakon Erxleben, dem Vater der fünf Kinder, gestaltet sich so intensiv, dass Dorothea nach einem Jahr den fast 20 Jahre älteren Mann heiratet. Sie bekommt mit ihm in den folgenden Jahren noch vier Kinder. Ein Pfarrhaushalt, neun Kinder und dazu die ärztliche Praxis, die sie wegen häufiger Krankheit des Vater mehr und mehr übernimmt, sind keine leichte Aufgabe für Dorothea.
Da ist an die Promotion vorerst nicht zu denken – aber nur vorerst!
Herausgefordert, dieses Ziel weiter im Auge zu behalten, wird sie durch eine Hetzkampagne von Seiten dreier Kollegen, die ihre Pfründe schrumpfen sehen wegen Dorotheas beruflicher Erfolge. Sie werfen ihr als nichtstudiertem Frauenzimmer Kurpfuscherei vor und klagen sie öffentlich an, als eine ihre Patientinnen am Fleckfieber stirbt, einer Krankheit, die in der Regel damals tödlich verlief. Dorothea weist die Vorwürfe selbstbewusst zurück und bietet den Kollegen an, sich der Überprüfung ihrer theoretischen Kenntnisse zu unterziehen. Das lehnen die Herren Kollegen jedoch rundweg ab. Hatten sie Angst, eines Besseren belehrt zu werden?
So setzt Dorothea sich – kurz nach ihrer vierten Entbindung – daran, ihre Doktorarbeit zu schreiben. Den Herren will sie es beweisen! Zwar braucht sie wegen der vielfältigen häuslichen und beruflichen Pflichten fast ein ganzes Jahr dazu, aber sie schafft es. Eigenhändig liefert sie die Dissertation beim Vertreter des Königs ab und bekommt höchstes Lob dafür.
Zwölf Jahre sind seit der Zustimmung des Königs zur Promotion vergangen. Nun darf sie sich mit der Postkutsche, dem Transportmittel der damaligen Zeit, von Quedlinburg nach Halle auf den Weg begeben.
Ein wenig bang ist ihr schon, als es zum Stadttor herausgeht, aber was soll's! Sie hat den Wunsch, und es scheint ihr an der Zeit, den Beweis zu erbringen, dass eine Frau dem Manne auch in der medizinischen Wissenschaft nicht nachzustehen braucht. Es ist ihr bewusst, dass sie sich über das gültige Recht der damaligen Zeit hinwegsetzt, das besagt, dass das medizinische Praktizieren von Frauen den Gesetzen der Ehrbarkeit und Schamhaftigkeit zuwiderlaufe.
Dorothea nimmt die Herausforderung an und besteht die zweistündige Befragung der Prüfungskommission glänzend. Die Prüfung findet natürlich in Latein statt, der Sprache der Wissenschaft.
Doch ein Wermutstropfen fällt in ihre Hochstimmung. Den Doktortitel kann man ihr erst nach erneuter Bestätigung der Gültigkeit der Prüfung durch den König überreichen, liegen doch immerhin zwölf Jahre dazwischen seit der Einreichung ihres Gesuches. Sie braucht aber nicht lange zu warten, bis sie wieder aus Halle aufgefordert wird, sich den Doktortitel abzuholen.
Als einer der drei neidischen Kollegen sich bei Dorothea meldet, um sich für sein Verhalten zu entschuldigen, lächelt Dorothea ihn souverän an: „Allzu sehr brauchen Sie es nicht zu bereuen, lieber Zeitz, im Grunde haben Sie mir nur einen Gefallen getan!“
Ohne die Beschuldigungen und die öffentliche Klage beim Amt hätte sich Dorothea neben all ihren Pflichten als Mutter in täglicher Verantwortung für neun Kinder sowie den Herausforderungen der ärztlichen Praxis gewiss nicht mehr aufgerafft, sich der Prüfung und Promotion zu unterziehen.
Somit haben die Angriffe des Doktor-Kleeblattes das Gegenteil von dem bewirkt, was sie beabsichtigt hatten.
Dorothea ist uns Frauen bis heute ein mutmachendes Vorbild, das uns vor die Frage stellt, inwieweit wir – im Zeitalter der formalen Gleichberechtigung von Frauen und Männern – unsere Möglichkeiten nutzen, um entsprechend unseren Fähigkeiten im öffentlichen Leben Einfluss zu nehmen.
(Leicht gekürzt)
Toni Creemer
Anmerkung
Gefunden in: FRAUEN HEUTE 1/94
Hrsg. Landesverband der Evangelischen Frauenhilfe Bremen e.V.
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum
Thema „Bauen“ ist Mitte April 2024
erschienen. Der Abschluss eines Abonnements
ist aus diesem Grund nicht mehr möglich.
Leicht&Sinn - Evangelisches Zentrum Frauen und Männer gGmbH i. L. | AGBs | Impressum | Datenschutz | Cookie-Einstellungen | Kontakt
Wenn Sie noch kein Passwort haben, klicken Sie bitte hier auf Registrierung (Erstanmeldung).