Alle Ausgaben / 2009 Frauen in Bewegung von Katrin Keita

Dorothee Sölle zum achtzigsten Geburtstag

Dass wir frei werden von Angst

Von Katrin Keita


„Ich würde gerne mehr über sie wissen“, sagte mir kürzlich eine jüngere Freundin und Kollegin. „Ich weiß nur, dass sie sehr wichtig war für die Theologie und für uns Frauen“.

Es ging der Kollegin weniger um das theologische Denken Dorothee Sölles. Das auch, aber mehr noch wollte sie die Geschichten hören, die Erzählungen von Zeitgenossinnen über ihr Leben, über die Erfahrungen, die sie gemacht hat, die andere mit ihr gemacht haben. Wir gehören zu der Generation der Töchter Dorothee Sölles. Wir wissen nicht viel von ihr. Als die Auseinandersetzungen um ihre Positionen und ihre Person tobten, gingen wir noch in die Schule. Aber wir wissen: Während ihr der Gegenwind ins Gesicht blies, durften wir in ihrem Windschatten Theologie studieren. Die Spielräume, die wir genossen, hat sie für uns erkämpft.

Lebte Dorothee Sölle noch, wäre sie im September 80 Jahre alt geworden. Viel zu früh ist sie gestorben, Ende April 2003 während einer Tagung in Bad Boll. Sie ist zwar 73 Jahre alt geworden, aber sie steckte noch mitten in ihrem Schaffensprozess. Ihr letztes Buch über die Mystik des Sterbens konnte sie nicht mehr vollenden. Geboren wird Dorothee 1929 in Köln. Sie stammt aus einem bildungsbürgerlichen, aber kirchenfernen Elternhaus. Ihr Vater ist Jurist, Experte für Arbeitsrecht. Bei drei älteren Brüdern und einer jüngeren Schwester wundert es kaum, dass Dorothee als Kind lieber ein Junge wäre. Sie wächst behütet auf, trotz Nazi-Diktatur und Kriegswirren. Die Jugendliche Dorothee hängt einem romantischen Existenzialismus an. Erst ihre Lehrerin Marie Veit, geprägt von der Bekennenden Kirche, eröffnet ihr einen Zugang zu Religion und Theologie. Bei ihr lernt Dorothee ein offenes, widerständiges, kritisches Christentum kennen.

Dorothee Sölles Lebenslauf ist nicht gerade. Immer wieder gerät sie in Sackgassen, läuft gegen Mauern, muss sich umorientieren. Immer wieder erschrickt sie, über Ungerechtigkeit, über Leid, über Gleichgültigkeit. Dieses Erschrecken wirkt wie ein Auslöser, wie die Zündung bei einem Auto. Sie denkt nach, sie schreibt, sie handelt aus ihrem Erschrecken heraus. Der erste tiefe Schrecken in ihrem Leben war jedoch das Erschrecken über sich selbst und über ihre eigene Blindheit. Während sie bei Kriegsende dem „Mythos Deutschland“ nachtrauert, lehrt Marie Veit sie, Krieg und Verfolgung aus Sicht der Opfer zu sehen. Es ist, als würden Dorothee die Scheuklappen von den Augen genommen. „Ich gehöre dem gleichen Jahrgang an wie Anne Frank“, stellt sie fest. Und schlimmer noch: „Die Maschine des Todes, der sie ausgeliefert wurde, ist ja die, die mein Volk vorgedacht und ersonnen, gebaut, geölt und bedient hat, bis zum bitteren Ende“. Ihr ganzes Lebenswerk, ihre theologische Arbeit und ihr friedenspolitisches Engagement sind nicht zu verstehen ohne diesen Anfangsschrecken, ohne ihre tief empfundene Scham.

Nach zwei Semestern Klassischer Philologie wechselt Dorothee, „auf der Suche nach Wahrheit“, zu den Fächern Evangelische Theologie und Germanistik. Sie studiert in Göttingen, wird dort beeinflusst von Rudolf Bultmann und seiner Theologie der Entmythologisierung. Mitte der fünfziger Jahre schließt sie ihr Studium mit dem Staatsexamen und einer literaturwissenschaftlichen Doktorarbeit ab. Inzwischen ist sie verheiratet mit dem Maler Dieter Sölle. Zunächst arbeitet Dorothee wie ihr Vorbild Marie Veit einige Jahre als Lehrerin. Später kehrt sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an die Universität zurück und schreibt zusätzlich Beiträge für den Rundfunk und für verschiedene Zeitschriften. Als sie und ihr Mann sich trennen, ist Dorothee Sölle Mutter von drei Kindern. Die Trennung ist eine persönliche Katastrophe für die Theologin. Mit Hilfe ihrer Mutter und wechselnden Au-pair-Mädchen schlägt sie sich einige Jahre als berufstätige Alleinerziehende durch.

Doch der Schrecken treibt sie weiter. Trotz Arbeit und Kindern engagiert sie sich politisch. Sie begründet mit Mitstreiterinnen und Mitstreitern das „Politische Nachtgebet“ in Köln. Ursprünglich soll es nur ein lockeres Treffen über Themen der Kultur, der Kirche, der Politik und der Gesellschaft sein. Die Organisatoren des Katholikentags 1968 versuchen, es an den Rand zu drängen, indem es auf eine Zeit jenseits von 23 Uhr gesetzt wird. Daher erhält das Nachtgebet seinen Namen. Jedes Politische Nachtgebet besteht aus drei Elementen: Information, Meditation und Aktion. Es geht um den Krieg in Vietnam, die Zerschlagung des Prager Frühlings, den faschistischen Putsch in Chile, aber auch um die Emanzipation der Frauen. Oft ist die Kölner Antoniterkirche, in der die Nachtgebete anfangs stattfinden, überfüllt. Neben Dorothee Sölle gehört auch der Benediktinerpater Fulbert Steffensky zum Vorbereitungskreis. 1969 werden die beiden heiraten.

Zu der Zeit ist Dorothee Sölle bereits bekannt. Sie polarisiert, eckt an, wird persönlich diffamiert. Ihre politisch linken Positionen rufen Widerspruch hervor. Und auch, dass eine Frau diese linken Positionen vertritt. Der Preis, den Dorothee Sölle für ihre Suche nach Wahrheit und ihr Eintreten für Gerechtigkeit zahlen muss, ist hoch. 1971 habilitiert sie sich. Dennoch erhält die mit Abstand profilierteste deutsche Theologin zeitlebens keinen Lehrstuhl in Deutschland. Stattdessen ist sie anonymen Drohanrufen und wüsten Beschimpfungen ausgesetzt. Konservative Männernetzwerke versuchen, sie in Schrecken zu versetzen. 1983 distanzieren sich die deutschen Kirchenleitungen von ihr, weil sie vor dem Ökumenischen Rat der Kirchen eine Rede gehalten hat, in der sie den Wohlstand und das militärische Sicherheitsdenken in Deutschland kritisiert. Dorothee Sölle ist getroffen, fühlt sich einsam, aber sie gibt nicht auf. Sie drückt ihre Gefühle in einem Gebet aus: „Schaffe in mir gott ein herz ohne angst und gib mir wenn du schon dabei bist andere füße. Ich will nicht auf tausend messern gehen das stolpern das hinschlagen das bluten. Ich will nicht immer zu vermeiden suchen statt mit dem pfeilgeraden schlag meiner rückenflosse mich vorzuschnellen wie früher“.

Seit dem Beginn ihres theologischen Denkens nimmt Dorothee Sölle Gott in Anspruch. Aber um den Glauben an Gott, von dem die Jahreslosung 2010 spricht, geht es ihr dabei zunächst nicht. Die meisten Menschen glauben und handeln dann aus ihrem Glauben heraus. Bei ihr ist es umgekehrt: Sie beginnt, Gerechtigkeit einzufordern und begegnet dabei Gott. 1969 formuliert sie ein Glaubensbekenntnis: „Ich glaube an Gott, der den Widerspruch des Lebendigen will… Ich glaube an Jesus Christus, der aufersteht in unser Leben, daß wir frei werden von Vorurteilen und Anmaßung, von Angst und Haß und seine Revolution weitertreiben auf sein Reich hin“. Später entdeckt sie die Mystik für sich. „Es ist die Gottesliebe, die ich leben, verstehen und verbreiten will“, sagt sie einmal. Mystik und Widerstand gehören für sie untrennbar zusammen.

Ausgerechnet in den USA, deren Politik sie immer wieder anprangert, findet sie schließlich die akademische Anerkennung, die ihr in Deutschland verwehrt bleibt. Von 1975 bis 1987 ist Dorothee Sölle Professorin am Union Theological Seminary in New York. Auch dort provoziert sie oft, aber „eine theologische Institution muss eine Prophetin ertragen können“, sagt Donald Shriver, der damalige Präsident der Universität. In den USA kommt Dorothee Sölle auch in Berührung mit der dortigen Feministischen Theologie. Obwohl sie keine eigentliche Feministin ist und den Feminismus als Teil einer notwendigen, allgemeinen Befreiungsbewegung ansieht, wird sie in Deutschland oftmals auf diese Seite ihres Wirkens und Denkens reduziert.

Und heute? Was würde Dorothee Sölle heute sagen, beispielsweise zur Finanzkrise? Wie stünde sie zu Barack Obama? Würde sie für den Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan kämpfen? Was hielte sie von der Unternehmer-Denkschrift der EKD? Was von der Bibel in gerechter Sprache, die sie mit inspiriert hat? Die Welt ist komplexer geworden seit der Zeit des Kalten Krieges. Umso mehr fehlt uns Dorothee Sölle. Ihre Suche nach der Wahrheit, ihre poetische Sprache, ihre klugen Analysen, ihre Hartnäckigkeit fehlen. Jetzt ist es an uns Töchtern, ihr Erbe nicht zu verspielen. Diese Welt ist nicht die beste aller Welten, hat Dorothee Sölle gesagt. Stehen wir also auf und verändern sie!


Dr. Katrin Keita, Jahrgang 1969, arbeitet als freie Theologin und Journalistin in Dinslaken.


Lese-Tipp
Renate Wind: Dorothee Sölle. Rebellin und Mystikerin, Kreuz Verlag Stuttgart 2008
Dorothee Sölle: Gegenwind. Erinnerungen, Piper Verlag München 1999

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