Alle Ausgaben / 1999 Frauen in Bewegung von Prof. Dr. Renate Wind

Dorothee Sölle

Von Prof. Dr. Renate Wind

Wer Dorothee Sölle erlebt und gehört hat, auf Kirchentagsveranstaltungen und Protestkundgebungen, bei Lesungen und Diskussionen, wird ihre Entschiedenheit und Klarheit in Erinnerung haben und die mitreißende Kraft ihrer Worte. Kaum jemand vermutet hinter der entschiedenen Erscheinung eine Frau, die ihr Leben als eine große Suchbewegung nach der Wahrheit und damit nach Gott beschreibt. Ihre Erinnerungen, die sie unter das Motto „Gegenwind“ gestellt hat, lassen etwas erahnen von der produktiven Unruhe des Herzens, die das Denken und Handeln der Dorothee Sölle bis heute bestimmt.

Geboren wird sie am 30.9.1929 in Köln, in eine berühmte deutsche Gelehrtenfamilie hinein. Die Nipperdeys repräsentieren die besten Traditionen des liberalen deutschen Bürgertums, Toleranz, Bildung, Weltoffenheit. Dem Christentum steht man freundlich distanziert, der Kirche eher kritisch gegenüber. Kunst und Kultur spielen eine große Rolle, auch die Mädchen partizipieren am Bildungsangebot. Dorothee ist eine begeisterte Klavierspielerin, die Musik von Bach und Schubert wird sie durchs Leben begleiten. Nach dem Abitur studiert sie Philosophie und alte Sprachen in Köln und Freiburg. Ihr Weg scheint vorgezeichnet, bis sie 1951 ihr Studienfach wechselt und mit dem Studium der Theologie und Germanistik beginnt.

Zu dieser Zeit ist das Theologiestudium noch etwas Ungewöhnliches für Frauen, erst recht für eine Tochter aus gutem Hause, die ohne jegliche kirchliche Sozialisation daherkommt. Was treibt sie zum Experiment des Glaubens, zur Frage nach Gott? Für Dorothee Sölle ist diese Entscheidung eindeutig verbunden mit der Notwendigkeit, eine Antwort zu finden auf die Frage, wie Auschwitz geschehen konnte. Aufgewachsen in einer Familie, die sich deutlich vom Nationalsozialismus distanzierte, beschäftigt sie nach der Katastrophe umso mehr das Problem, warum sich das liberale deutsche Bürgertum dem Faschismus nicht entschiedener widersetzen konnte. Existentialismus und Nihilismus geben erste Identifikationsmöglichkeiten, Nietzsche, Heidegger, Sartre und Kierkegaard, der sie schlieálich ermutigt, den „Sprung“ zu wagen „in die Leidenschaft für das Unbedingte, in das Reich Gottes.“

Im Jahre 1954 heiratet Dorothee den Maler Dietrich Sölle. Sie legt ihr Staatsexamen ab und schreibt eine literaturwissenschaftliche Dissertation über die „Nachtwachen des Bonaventura“. Die Verbindung von Literatur und Theologie wird der Schwerpunkt, in dem sie ihr besonderes Charisma entfalten kann. Theologie in einer modernen und poetischen Sprache, theologische Reflexionen und politisches Engagement als Gesamtsprachwerk, dafür gibt es in dieser Zeit weder in der Kirche noch an den theologischen Fakultäten einen Platz. Zeit ihres Lebens bleibt Dorothee Sölle eine Art freischaffende „Theologiearbeiterin“, die sich allerdings einen unübersehbar großen LeserInnen- und HörerInnenkreis außerhalb der etablierten Institutionen schafft. Viele Menschen, die sich von der traditionellen Kirche, ihrer Erscheinung und ihrer Sprache verabschiedet haben, finden bei ihr ebenso neue Hoffnung und Erkenntnis wie diejenigen Christinnen und Christen, die in den Basisbewegungen beider Konfessionen ihrer Kirche ein offenes, den Menschen und der Welt zugewandtes Gesicht geben wollen. Daß hier die Kommunikation so gut funktioniert, liegt wohl auch daran, daß Dorothee Sölles Lebensgeschichte viele Elemente heutiger Lebenswirklichkeit aufweist, die in den Kirchen erst allmählich wahr- und ernstgenommen werden. Lange bevor hier neue Lebensformen vorsichtig diskutiert wurden, hat Dorothee sie, wie viele andere ihrer ZeitgenossInnen, bereits gelebt. Nach zehn Jahren wird ihre erste Ehe geschieden. Zu dieser Zeit ist sie Studienrätin für Deutsch und Religion, zuletzt im Hochschuldienst am Germanistischen Seminar der Universität Köln. Als alleinerziehende berufstätige Mutter von drei Kindern kennt sie die Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Selbstverwirklichung in einer Gesellschaft, die die Folgen gesellschaftlicher Umbrüche nach wie vor den Frauen aufbürdet. Als sie 1969 den ehemaligen Benediktinerpater Fulbert Steffensky heiratet und im Jahr darauf noch eine Tochter bekommt, ist das vereinigte männliche Establishment in Kirche und Hochschule darüber einig, daß so jemand keine theologische Professur bekommen kann!

So bitter solche Ausgrenzungen immer wieder gewesen sind, so wenig bedauert Dorothee Sölle in der Rückschau diese Entwicklung. Sie bedeutete auch die Chance, frei von institutionellen Rücksichtnahmen immer weiter nach vorne zu gehen und Zeichen zu setzen. Lehraufträge und Gastprofessuren im Ausland, vor allem die langjährige Tätigkeit am Union Theological Seminary in New York, die Anerkennung durch die weltweite ökumenische Basisbewegung und die Freundschaft unzähliger Menschen aus den politischen und kirchlichen Widerstandsbewegungen werden sie über das Ausbleiben akademischer Ehren unschwer hinweggetröstet haben.

Sie selbst hat Wegzeichen des Lebens für viele Menschen gesetzt, vor allem aber für die folgende Frauengeneration in ihrem Kampf für mehr Selbstbestimmung in Kirche und Gesellschaft und für die Entwicklung einer weiblichen politischen Spiritualität. In den Ereignissen und Bewegungen der 68er TheologInnengeneration war sie mit großer Intensität präsent. Ein Fanal war das politische Nachtgebet, das in den Jahren 1968 bis 1972 die politischen und sozialen Auseinandersetzungen begleitete. Die damals einsetzende politische Bewußtwerdung, die vom Antifaschismus in die die Friedensbewegung und von da aus in die Solidaritätsbewegung für die Länder der „dritten Welt“ führte, fand in Dorothee Sölles Texten ihren authentischen und theologisch reflektierten Ausdruck. Sie hat unsere Hoffnungen und Trauer begleitet, in der Solidarität mit den Befreiungsbewegungen Südafrikas und Lateinamerikas, mit Vietnam, Chile, und Nicaragua. Sie hat geredet, gedichtet und die Zufahrt zu den Militärbasen blockiert, in denen neue Mittelstreckenraketen stationiert werden sollten. Sie fragt mit uns, was denn bleibt von dem Aufbruch des konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. In einer Welt, die sich abzufinden droht mit dem Status quo und dem Recht des Stärkeren, erinnert sie daran, daß ein Volk ohne Visionen zugrunde geht. Dieses Wort aus dem Jeremiabuch hat sie begleitet in ihrem kompromißlosen Fragen nach Wegen der Befreiung für die ganze Menschengemeinschaft. Es steht in direkter Nachbarschaft zu der Verheißung, daß die unaufhörliche und leidenschaftliche Suche nach Gott ein Teil dieses Befreiungsweges ist, der einmal ans Ziel kommen soll.

Bei dieser Suche weiß sich Dorothee Sölle einig mit der widerständischen Mystik ebenso wie mit dem hartnäckigen „Trotz alledem!“ der jüdischen Tradition. Nur in dem immer neuen Suchen nach dem Weg der Gerechtigkeit und der Weisung Gottes ist die Hoffnung und die Verheißung eingeschlossen, der Wahrheit, dem Schalom und damit Gott selbst näherzukommen. Dies in Theologie und Theopoesie ebenso zum Ausdruck gebracht zu haben wie in einem glaubwürdig suchenden Leben, wird die bleibende Spur sein, die Dorothee Sölle hinterlassen wird.

Literatur:
Dorothee Sölle, Gegenwind, München 1999

 

Prof. Dr.Renate Wind, Heidelberg

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