Als Dorothy Day am 29. November 1980, dem Vorabend des ersten Adventsonntages, 83jährig in New York starb, erfüllte sich das Leben einer Frau, die von vielen als modere Heilige bezeichnet worden ist. Wenn Heilige auf einem Sockel stehen, fernab des menschlichen Lebens, dann stimmt dies für Dorothy Day sicherlich nicht. Wenn aber, wie sie selbst es einmal in Anlehnung an ein Wort des Apostels Paulus formuliert hat, wir alle Heilige sein können, „keine Gipsstatuen, sondern gewöhnliche Menschen mit einem brennenden Herzen“, dann ist diese Frau, deren ganze Leidenschaft den Armen und dem Pazifismus (Frieden) galt, eine Heilige.
Geboren wurde Dorothy Day 1897 in New York. Gemeinsam mit ihren vier Geschwistern wuchs die Tochter eines kleinen Zeitungsmannes, dessen Vorliebe Pferderennen und dem Whisky galt, in ärmlichen Verhältnissen auf. Zahlreiche Umzüge begleiteten ihre Kindheit und Jugend (New York, Kalifornien, Chicago). 1914 schloss sie die Höhere Schule ab und besuchte ein College in Chicago, um anschließend – wie schon ihr Vater und drei ihrer Geschwister – Journalistin zu werden.
Für eine junge Frau im New York des Jahres 1916 schien dies ein fast aussichtsloses Unterfangen, doch Dorothy Day, deren Herz für die Idee des Sozialismus entbrannt war und die dem ersten Streik der Frauen in New England gegen die sklavischen Arbeitsbedingungen in den Baumwollspinnereien zustimmte, konnte den Chefredakteur von „The Call“, einer sozialistischen Tageszeitung in New York, davon überzeugen, sie als Reporterin für zunächst 5 Dollar pro Woche einzustellen. Für Dorothy Day bedeutete dies ein Leben am untersten Rande des Existenzminimums – doch diese Armut war bewusst und frei gewählt und ermöglichte ihr zugleich die praktische Solidarität mit unzähligen Fabrikarbeiterinnen, die ebenfalls nicht mehr Lohn erhielten.
Als Reporterin für „The Call“ wurde Dorothy Day zu zahlreichen Kundgebungen und Protestveranstaltungen, vor allem der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, gesandt. „Es gab eine Menge zu tun“, schrieb sie später in ihren Lebenserinnerungen: „Protestversammlungen waren zu besuchen gegen Ausbeutung, Kapital, Teuerung, Kriegsgewinnler, den Kriegseintritt, das Fernbleiben vom Krieg. Aushebung oder Dienstverweigerung. Es gab Versammlungen, um zum Streik aufzurufen, einen Streik zu beenden, Gewerkschaften zu gründen, Gewerkschaften zu bekämpfen. Hungermärsche kamen auf … Es gab Versammlungen für Geburtenkontrolle – Prozesse gegen Propagandisten der Geburtenkontrolle … und jede Menge Interviews“. So interviewte sie für „The Call“ Leo Trotzki, der damals im Exil in der Lower Eastside in New York lebte und ein Jahr später, 1917, nach Russland zurückkehrte.
Im November 1917 schloss sich Dorothy Day dem Protestmarsch von Frauenrechtlerinnen vor dem Weißen Haus in Washington an. Sie wurde verhaftet und zu dreißig Tagen Gefängnis verurteilt. Die Erfahrung der Haft war für die junge Pazifistin und Radikalreformerin prägend. Sie erlebte Gefangenschaft und Isolation dabei nicht nur als ihr persönliches Schicksal, sondern als ein grundlegendes gesellschaftliches Problem des Umgangs mit Protestierenden, mit Unbequemen: „Dass ich in dreißig Tagen wieder frei sein würde, bedeutete mir nichts. Nie mehr würde ich frei sein; für mich gäbe es keine Freiheit, solange ich wusste, dass auf der ganzen Welt Frauen und Männer, Mädchen und Jungen hinter Gittern Zwang, Misshandlungen, Isolation und Strafen für Verbrechen erlitten, deren wir alle schuldig sind …“
In jenen Tagen erbat Dorothy Day eine Bibel und las darin (zunächst nur aus literarischem Interesse, wie sie sich selbst versicherte) – auch in den Psalmen: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.“ Ihr Kommentar dazu lautete: „Wenn wir tatsächlich Glauben an das hätten, was wir tun, wenn wir gegen Brutalität und Ungerechtigkeit protestieren, dann würden wir tatsächlich Samen säen und das Versprechen der Ernte, die kommt, wäre da.“
Zu jenem Zeitpunkt war Dorothy Day keine fromme Frau. Zwar war sie als Kind eine Zeitlang in die Gottesdienste einer methodistischen Kirche gegangen, doch in ihrer Familie waren Religion und Kirche Fremdworte gewesen. Bewahrt hatte sie sich allerdings in all den Jahren eine Sehnsucht nach einem Raum, in den hinein sie sich loslassen konnte und der erfüllt war von etwas, das sie „Heiligkeit“ nannte. So sichte sie in den folgenden Jahren – sehr zum Verwundern ihrer Freunde – regelmäßig verschiedene katholische Kirchen in New York auf, um dort zu beten und an den Gottesdiensten teilzunehmen. In ihrer Beschäftigung mit der Bibel fand sie zudem ein Echo für das, was in ihr selbst angelegt war – die Option Jesu für die Armen. Im Dezember 1927, wenige Monate nach der Geburt ihrer Tochter Tamar, trat Dorothy Day zum Katholizismus über. Dies schloss ihre Kritik an der Kirche und deren „soziale Apathie“ nicht aus. „Ich sah dort keinen Menschen“, so schreibt sie später in ihren Erinnerungen, „der seinen Mantel auszog und ihn den Armen gab, ich sah keinen, der ein Bankett hatte und die Blinden, die Lahmen und die Krüppel einlud.“
Im Dezember 1930 erlebte Dorothy Day als Reporterin den „Hungermarsch“ von 600 Arbeitslosen, die von New York nach Washington zogen, um so für eine Sozialgesetzgebung, Arbeitslosenversicherung und Frauenrechte zu protestieren. Der Protestzug wuchs im Laufes des Weges auf 3000 Demonstranten an; in der Öffentlichkeit wurden die Protestierenden jedoch als Bedrohung empfunden und von der Polizei mit Tränengas und Knüppeln an der Erreichung ihres Zieles zu hindern gesucht. Die engagierte Reporterin erlebte diese Tage als eine Zerreißprobe; sie bewunderte den Mut und die Ausdauer dieser Menschen aus tiefstem Herzen, spürte aber zugleich, dass sie als Katholikin nicht „mit ihnen sein konnte“. Sie wusste, der Hungermarsch war nicht von Christen organisiert worden, sondern von Kommunisten, und die Kluft zwischen diesen beiden Gruppen schien unüberbrückbar zu sein.
Als Dorothy Day nach jenem Erlebnis nach New York zurückkehrte, begegnete sie Peter Maurin, einem Landstreicher, Philosophen und ehemaligen Ordensbruder. In ihm fand sie den Menschen, mit dem gemeinsam sie ihr Lebenswerk aufbauen konnte und der, wie sie selbst auch, die scheinbar unvereinbaren Gegensätze überwinden wollte.
Gemeinsam beschlossen sie, eine radikale katholische Zeitschrift ins Leben zu rufen – den „Catholic Worker“. Die erste Ausgabe wurde am 1. Mai 1933 für einen Cent das Stück auf dem New Yorker Union Square verkauft. Die Zeitschrift (die heute immer noch 1 Cent kostet) wurde in den folgenden Jahren zum Sprachrohr der katholischen Arbeiterbewegung der USA.
Zugleich erwuchs aus der Zeitschrift eine Bewegung, ein Lebensstil radikal gelebten christlichen Glaubens. „Häuser der Gastfreundschaft“ entstanden in den folgenden Jahren überall in den USA nach dem Vorbild der mittelalterlichen Hospize. In ihnen, so Dorothy Day und Peter Maurin, sollten die Armen das Nötigste zum Leben erhalten: Brot und Suppe, Kleidung und eine Schlafstätte. Und sie sollten in diesen Häusern Gäste sein und keine Almosenempfänger. „Jedes Haus“, so erinnerte sie sich, „sollte eine Wohnung Christi sein … Es nützt nichts, die Leute zu einer Agentur zu schicken, zur Stadt, zum Staat oder zur Caritas. Du musst selbst die Werke der Barmherzigkeit tun … Wir erkannten Christus, als er das Brot brach, und so ist das Leben; selbst wenn wir nur eine Brotkruste haben, aber mit anderen vereint sind … Wir lernen einander kennen, wenn wir zusammen Brot brechen und nicht länger allein sind.“ Seit Gründung des ersten „Hauses der Gastfreundschaft“ in der New Yorker Mottstraße 1936 bewohnte Dorothy Day dort ein Zimmer. Sie wollte für sich selbst keinen anderen Lebenssteil führen, als diejenigen, denen sie diente – die Armen.
Als sie im Dezember 1980 auf dem Auferstehungsfriedhof auf Staten Island beigesetzt wurde, begleiteten den Trauerzug viele derer, die durch sie und die unzähligen Helferinnen und Helfer der „Catholic Worker“-Bewegung etwas von der Leibhaftigkeit des Evangeliums erfahren hatten. Auf die Frage eines anwesenden Journalisten, ob die Bewegung ohne ihre Gründerin weiterbestehen könne, erhielt dieser von einer Mitarbeiterin des „Catholic Worker“ die folgende Antwort: „Dorothy haben wir verloren, aber das Evangelium haben wir noch.“
Annette Vogel, Düsseldorf
Literatur
Dorothy Day – Das Maß ist Liebe. Biografie von Jim Forest. Pendo-Verlag Zürich, 1989
Dorothee Sölle: Ohne Geld, ohne Gewalt. In: Biotope der Hoffnung. Zu Christentum und Kirche heute, hrsg. von N. Klein, H.-R. Schlette, K. Weber. Olten und Freiburg i. Br., 1988
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