Ausgabe 1 / 2024 Material von Margot Papenheim

Drei Haus-Bücher

Von Margot Papenheim

Die Bedeutung, die Häuser für ihre Bewohner*innen haben, verbindet drei ansonsten recht unterschiedliche Bücher, die ich vorstellen und zum Lesen empfehlen möchte.

Im Haus in der Südstadt – da, wo „man seine psychischen Probleme nicht mit Therapie, sondern mit Alkohol oder Durchhalteparolen löst“, wofür aber die Mieten niedrig sind – wohnen die Protagonist*innen: ganz oben die Spilzmanns, die jüdische Poesietherapeutin Rima und ihre verrückte Tante, „die immer alles zweimal sagt“. Was genau sie hat, weiß niemand. „In der jüdischen Nachkriegs-Literatur liest man bei solcherlei Phänomenen, die Leute hätten ‚Lager‘. ‚Lager‘ […] subsummiert in seinen fünf Buchstaben alles, was es an Unglück, Verrücktheiten und Macken gibt, wenn Menschen aus einem KZ kommen – und auch wenn Tante Martha selbst nie drin war, ist sie ganz offensichtlich daran verrückt geworden.“ Unter ihnen wohnt Henok Erichson, getrennter Ehemann und Vater von Benjamin, von Beruf Diakon der evangelischen Johannesgemeinde im Nordend, also da, wo die Mieten höher sind, und wo darum auch Rima und ihr bester Freund und Skatebord fahrender Psychoanalytiker ihre Gemeinschaftspraxis haben. Und im Erdgeschoss: der Laden von Herrn Özkaya, der aus dem früheren Teeladen von Rimas Großeltern den Süpermarkt gemacht hat, ein Gemüsegeschäft mit türkischen Spezialitäten. Dort arbeitet Tante Martha immer noch mit, und das ist „gut für beide. Denn so hat Tante Martha was zu tun, und Herr Özkaya hat Hilfe“.

Als wären die Geschichten der Menschen in diesem realen Haus nicht schon spannend genug, läuft immer wieder noch eine weitere Figur durchs Geschehen: Ramona Ambs‘ Graufarb, ein ganz bezaubernder kleiner Koala, der durch die fiktive Haskalahgasse geht und Menschen besucht, die da wohnen. Allesamt „gescheiterte Existenzen. Was ja logisch ist, […] denn einem Koala würden normale Leute vermutlich gar nicht erst die Tür aufmachen. Geschweige denn ihn rein bitten und sich mit ihm unterhalten“, ihm Plätzchen anbieten und mit ihm über Gott und die Welt und ihr Leben reden. „Haskalah“ ist übrigens hebräisch, bedeutet Bildung, Philosophie und bezeichnet auch die jüdische Aufklärung: eine Bewegung, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Berlin und Königsberg aus nach Osteuropa verbreitete.

Ramona Ambs: Graufarb, eine Benoni-Verteidigung in 64 Zügen
BoD – Books on Demand, Norderstedt, Paperback, 146 S., 14,00 Euro; ISBN 9783757811334

Ein Hochhaus mit 323 Fenstern am Waldrand einer Stadt im Südwesten Deutschlands: Hier spielt der Roman um die Geschichte einer Familie von Aussiedler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion. Im Mittelpunkt: Nanush und ihre Urgroßmutter Babulya, die sie, in eine Decke gewickelt, von Sibirien nach Deutschland getragen hat. Im Gepäck traumatisierende Erfahrungen von Ausgrenzung als „Deutsche“ ebenso wie sehnsüchtige Erinnerungen an „die Luft in Sibirien, […] mitgebracht in ihrem Haar, unter dem Kopftuch, in ihren Lungen, ihrem Koffer mit den Töpfen darin“. Babulyas Küche war der „Mittelpunkt unseres Universums. Denn was kann es Besseres geben, als um einen Ort voller Salbei, Salzgurken, eingelegtem Schaschlik zu kreisen? Einen Ort, an dem die Butter nie ausgeht und an dem Babulya mich auf ihren Schoß zog und mich, wenn ich einnickte, in die bestickte Steppdecke wickelte, in der ich auf der Küchenbank weiterschlief.“ Jetzt ist es an Nanush, ihre alt gewordene Babulya liebevoll zuzudecken…
Birgit Mattausch nimmt ihre Leser*innen mit in das Leben dieser Menschen – und in ihre verstörenden Erfahrungen mit den „Hiesigen“, für die sie immer noch „die Russen“ sind. Der Roman zwingt eine*n geradezu in die Auseinandersetzung mit eigenem Unwissen über diesen Teil deutscher Geschichte.

Birgit Mattausch: Bis wir Wald werden Stuttgart (Klett-Cotta) 2023, 175 Seiten, 20 Euro;
ISBN 978-3-608-98693-8, E-Book ISBN 978-3-608-12213-8

Die Häuser der anderen, das sind die „ehemals deutschen“ Häuser in den „ehemals deutschen“ Gebieten in Polen. Hier zogen Zwangsumsiedelte aus bis dahin ostpolnischen Gebieten ein. Oder aus von den deutschen Besatzern zerstörten Ortschaften Geflüchtete. Aber wie „ließ sich aus einem Haus, das eben noch ein deutsches war, ein polnisches machen?“ Wie „diese Fremdheit beseitigen und aus dem Haus fegen, dieses Deutsche, das aus jeder Ecke hervorlugt. […] Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals sagen kann, das ist mein Haus.“ Selbst wenn „man die Wände weißte und Öfen wie im Osten aufstellte […] und die fremden Fotos von den Wänden nahm, blieb das Gefühl, nicht auf eigenem Grund zu leben, im Alltag ständig präsent. Zumal – würden irgendwann doch die alten Besitzer*innen zurückkommen und ihr ehemaliges Hab und Gut zurückfordern, und alles ginge von vorn los?
Wie, wenn überhaupt, wird aus einem Haus ein Zuhause? Darüber hat Karolina Kuszyk – selbst Nachgeborene polnischer Umsiedler*innen in Legnica (Liegnitz, Niederschlesien) – in Archiven geforscht, Literatur gesichtet, mit Menschen in Polen und Deutschland gesprochen. Das Buch ist eine spannende Bildungsreise in die deutsch-polnische Geschichte. Und motiviert, mich jedenfalls, sehr dabei, sich weiter für gute Beziehungen in der Nachbar*innenschaft einzusetzen.

Karolina Kuszyk: In den Häusern der anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen, Berlin (Ch.Links Verlag) 2022, Hardcover, 395 S., 25 Euro; ISBN 978-3-96289-146-6

Margot Papenheim ist röm.-kath. Theologin und Redakteurin der leicht & SINN.

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